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Motherboard: Dezember 2022

Dunkelheit und Abstraktion bestimmen das bislang eher schmale, aber definitiv schwergewichtige Werk der italienische Multimediakünstlerin Camilla Pisani. Wobei Phant[as] (Aesthetical, 16. Dezember), das sich in Titel und Inhalt auf das phantasmagorische Theater der Illusionen des 18. Jahrhunderts bezieht, dann doch gar nicht so brutal und düster daherkommt. Theater, zumal zu dieser Zeit, war und ist eben immer auch Unterhaltung, wie schwer und kopfstreng es auch daherkommen mag. Das gilt ebenso für Pisanis kopfstarkes und doch absolut unterhaltsames Album. Vielleicht, weil Pisani es gelingt, die Klischees von Dark Ambient, Industrial und Noise beiseite zu lassen?

Fernando Corona ist bekanntermaßen einer ordentlichen Portion elektrisch-metallischer Schwere und in Knarzen, Ächzen und Dub sublimiertem Pathos keineswegs abgeneigt. Die beiden frühen Alben Remembranza und Cosmos (beide: The Leaf Label, 21. Oktober) seines wegweisendes Soloprojekt Murcof bekamen zum 20. Jubiläum der ebenfalls neu aufgelegten, zusammengefassten EPs Martes + Utopía (The Leaf Label, 21. Oktober) eine neu gemasterte Vinylauflage, die zeigt, wie viel Luft und Raum doch zwischen den melancholischen Basswalzen möglich ist.

Der seit einigen Jahren in Barcelona lebende Mexikaner Corona blickt aber ebenso gerne nach vorne. Das multimediale Projekt Twin Color mit Visuals des Belgiers Simon Geilfus weist sich auf der Debüt-EP Extended Play No 1 (Infiné, 2. Dezember) unmittelbar als Corona-Projekt aus – die Melancholie und dunkel glimmende Wärme des Sounds ist einfach unverkennbar – aber eben in Frisch und Neu.

Der Hamburger Elektroniker Marc Richter hat sein Label Cellule 75 bislang ausschließlich für seine eigenen Projekte Black To Comm, Mouchoir Étanche und Jemh Circs benutzt. Das ändert sich gerade, und wie es sich ändert, ist höchst erfreulich. Denn ein neues Lebenszeichen von Un Caddie Renversé Dans L’herbe kommt doch reichlich unerwartet. Der absurdistische Projektname, unter dem der in Barcelona lebende Brasilianer Dídac P. Lagarriga Musik produziert, war nach einer Handvoll bahnbrechender Arbeiten nach der Jahrtausendwende über 15 Jahre stillgelegt. Bis jetzt, bis Nighturns (Cellule 75, 14. November), das den Faden wieder aufnimmt, die Sounds afrobrasilianischer und westafrikanischer Tradition und Popmusik mit kompositorischem Minimalismus, Elektronik und Sampling zu versöhnen. Was 2003 noch ein wirklich außergewöhnliches und seltenes Anliegen war, klingt heute schon bekannter und durchgesetzter, ist aber nicht weniger originell, nicht zuletzt in der Anstrengung, eine World Music abseits etablierter (westlicher) Vorstellungen, wie World Music zu klingen hat, zu etablieren.

Das zweite externe Projekt auf Richters Label agiert sogar noch expliziter postkolonial, indem es ein präkoloniales Thema aufgreift. Die von David Aird alias Vindicatrix vertonte multimediale Installation One Or Several Tigers (Cellule 75, 7. Oktober) verbindet asiatisches Schattentheater, europäisches Sprechtheater und Soundpraktiken des Hörspiels zu einer komplexen Reflektion der Geschichte des malaiischen Tigers als mythischem wie realem Tier, das eine zentrale soziokulturelle Rolle in südostasiatischen Gesellschaften spielte, die durch das Eingreifen der britischen Kolonialmacht mit einem ganz anderen Verhältnis zum Tiger fundamental umgestülpt wurden.

Und Marc Richter selbst lässt sich ebenfalls nicht bitten und bringt noch ein zweites Album dieses Jahr. Mit der Wucht, die man von Richters Alias Black To Comm kennt, kommt MM∞XX Vol. 1 & 2 (Cellule 75, 14. November) als virtuelle Lockdown-Kooperation im großen Rahmen, also ungefähr das Gegenteil der minimalistischen INA-GRM-Arbeit Diode, Triode aus dem vorvergangenen Monat. Den Austausch von Soundfiles mit ziemlich prominenten, mindestens aber dekadenlang aktiven Labelkollegen und musikalischen Freunden – zu viele, um sie hier zu nennen, aber so gut wie alle über die Jahre ein- oder mehrmals in dieser Kolumne genannt – führte er zusammen zu einem Doppelalbum schwergewichtigen Dark Ambients, meist auf der Basis schwermütiger Drones, aber immer in einer Ästhetik der elektroakustischen Collage, die die zeitlich und räumlich getrennte, virtuell-fragmentarische Entstehungsweise der Stücke immer mitdenkt und als zentrale Produktionstechnik ausstellt. Schwer beeindruckend, wie immer eigentlich.

In Hamburg betreibt David August das freigeistige wie ambitionierte Label 99CHANTS, auf dem Arbeiten erscheinen, die jenseits des samplelastigen Pop-Technos, für den August bekannt ist, doch recht weit draußen im Experimentellen agieren. Als ob das nicht schon genügen würde, verfolgt August mit dem Label noch eine friedliche ökologische Agenda und konnte eine erfreuliche Zahl an befreundeten und bekannten Musiker:innen dafür gewinnen, exklusive Stücke für den Sampler Imaginary Landscapes (99CHANTS, 2. Dezember) beizusteuern. Alle Einnahmen gehen an einen guten Zweck – spezifisch in die Aufforstung von Mangroven-Urwald. So sind hier nicht nur tolle Sound-Art-, Ambient- und Electronica-Tracks von Dauergästen dieser Kolumne zu finden, sondern zudem noch spannende Entdeckungen zu machen.

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