Elektronische Musik aller, wirklich aller Art, von Electro-Funk über Avantgarde-Pop zu Abstrakter Sound Art, in Theorie und Praxis fundamental definiert und vorangebracht zu haben, das lässt sich wahrlich nicht über viele Künstler:innen behaupten. Bei Ryuichi Sakamoto wäre es sogar noch eine Untertreibung. Gut, dass es nun eine angemessen ausladende Hommage gibt, die einen Überblick verschafft, ohne allzu nostalgisch zu werden. A Tribute to Ryuichi Sakamoto – To the Moon and Back (Milan Records, 2. Dezember) versammelt alte Weggefährt:innen und junge Weiterführer:innen seiner Vision. Und ja, Sakamotos Universalhit „Merry Christmas, Mr. Lawrence” ist selbstverständlich ebenfalls enthalten, respektvoll gecovert und sehr nahe am Original, wie eigentlich alle diese Interpretationen. Wobei ein Gentleman der Güteklasse Sakamotos gegen eine radikalere Neuerfindung seines Werkes sicher nichts einzuwenden hätte, er hat sich als Künstler schließlich ebenfalls immer wieder neu erfunden.
Was nach Ambient kam und sich von den Erwartungen daran, wie Klang im Genre zu funktionieren hat, weitgehend freigemacht hat, hängt keineswegs von Lebensalter oder Herkunft ab. Was sich Ryuichi Sakamoto herausnehmen konnte, nachdem er bereits mehrere Karrieren hinter sich hatte, geht mit etwas Glück von Beginn an – unter allerdings deutlich verschiedenen Voraussetzungen in der aktuellen Aufmerksamkeitsökonomie (schwieriger war sie nie). Die türkische Produzentin Sinemis etwa nimmt sich auf Dua (Injazero, 11. November) alle Freiheiten, die in Ambient und Electronica möglich sind, und verbindet sie auf subtilstmögliche Weise mit traditionellen Klängen – der tscherkessischen Sufis in diesem Fall. Ihre Übersetzung von bewussten, gewollten und gefühlten Einschränkungen mit der Tendenz, genau diese impliziten Barrieren einzureißen und die Tradition dennoch mit Respekt zu behandeln, ist so immens geglückt, weil sie, obwohl kaum noch wiedererkennbar, durch zahllose Filter von Technik und Emotion gegangen, doch ihren melancholisch-ekstatischen Charakter bewahrt hat.
Wie sich aus dem ausgeleierten Ende von Tape-Ambient und dem leztverwehten Echo von Dub-Techno noch frische Inspiration ziehen lässt, dem geht indes die New Yorker Produzent:in Liai nach. Wie die ländliche, naturbelassene Ruhe ihrer Herkunft im mittleren Westen der USA von der urbanen Elektrizität durchgerührt wird, fluide und nichtbinär gemacht, erzählt Pome (Quiet Tapes, 21. Oktober) als akustisches Poem ohne Worte.
Wie selten doch Modularsynthesizer-Elektronik ist, die wirklich freigeistig agiert und doch immer tief im Bereich des Schönen rührt, ja, sogar immer wieder bewusst an den brokatbehangenen Kitschrändern professioneller Funktionsmusik aus New Age, Wellness und Spas entlangstreift, wird immer erst klar, wenn es mal wieder passiert. Auf Daryl Groetschs jüngstem Album als Pulse Emitter hat die Neuerfindung von Synclavier/FM Vintage System als freie Musik, befreit von Ironie und Sarkasmus, Priorität, wodurch sich die wunderbar verspielten Klänge von Dusk (Hausu Mountain, 18. November) deutlich von Vaporwave und verwandten semi-edgy, auf der Metaebene operierenden Achtziger-Zombiefizierungen abheben. Gerade analoge Synthesizerklänge in ihrer ultimativen Erkennbarkeit müssen nicht hässlich sein, um interessant sein zu können.
Sowieso ist das Chicago-Brooklyner Tape-und-mehr Label Hausu Mountain zu einem zentralen Referenzpunkt einer Ästhetik geworden, die zwischen kopfsprengendem Freidenker-Krach und prozessiertem Mainstream keine Handbreit lässt, von Grateful-Dead-inspirierten Endlos-Improvisationen zu aufmerksamkeitspannensprengendem Abstrakto-Hyperpop in Millisekunden springt. Und dabei leise und empfindsam, zart sein kann. Also in einem zentralen Konvergenzpunkt der vielen Ästhetiken, die in dieser Kolumne abgehandelt werden, zusammenläuft und diesen dann mit viel Freude wieder explodieren lässt. Was das Hextupel-Tape-Reissue der Hausu Mountain 10th Anniversary Reissue Series (Hausu Mountain, 19. Oktober) zum gefühlt schon viel länger als zehnjährigen Bestehen zu viel mehr macht als nur einer nostalgischen Rückschau. Ein Universum im abgefahrenen Hausu-Universum, dieses fraktal widerspiegelnd, stellt das Eartheater Projekt von Alexandra Drewchin dar, die, ohne ihre klangliche Radikalität je eingeschränkt zu haben, ein hippes Label betreibt, auf High-Fashionschauen performt und globale Superstarkarrieren wie zuletzt die von Lolahol anschiebt und auf diesem Rückblick konsequent doppelt vertreten ist.
Schwere Elemente aus der Schweiz (I). Auf Matter (-OUS, 25. November) de- und rekonstruiert die Zürcher Modularsynthesizer- und-mehr-Produzentin Noémi Büchi die klassische Avantgarde von Mahler, Skrjabin, Stravinski und Ligeti zu felsmassivgewichtigem Neo-Modernismus aus komplex rhythmisiertem Poltern und gerade wieder ins Tonale gebogenem, atonalem Zerren. Und es wurde Electronica, und es wurde Pop, die undurchdringlichste und dunkelst vorstellbare Variante davon allerdings. Nahes Donnergrollen vom Berg.
Schwere Elemente aus der Schweiz (II). Die Berner Produzentin Nora Riggenberg alias Casanora zieht dunkle Energie aus den Überresten von Trip-Hop, nostalgischem Vaporwave-Futurismus und spätem Industrial-Techno. Auf der brillanten EP Electric Water (Casanora/Interstellar, 4. November) findet diese Sehnsucht nach einer vergangenen Zukunft einen melancholisch-ephemeren wie samten zupackenden Ausdruck in genuin freien Tracks, die alles sein können, alles werden können, was sie nur wollen. Und das ist immens schön und immens bedrohlich. Die Hölle ist im Hello immer nur einen Buchstaben entfernt.