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November 2022: Die einschlägigen Compilations

Amninote x Ute Fundraiser Compilation Vol. 2 (Amninote x Ute)

Dieser Fundraiser ist ein Bootcamp neuester, progressiver Ansätze, wobei hier die Trance-Elite den Schulterschluss mit Avantgarde-Techno versucht. Auf der Kollaboration von Amniote aus Kopenhagen und Ute aus Oslo trifft skandinavischer Trance auf vertrippten Techno-Groove. Im Unterschied zu Ute präsentieren Amniotes Künstler:innen wie High Future, Spekki Webu, Mac Declos, Hadone oder auch Nene H ihre Werke unter neuen Pseudonymen. In Utes Artist-Roster finden sich Tracks von Omformer, Enkel, Mikkel Rev oder Marilou. Im spielerischen Ausloten von Grenzen entsteht hier ein Track-Pool, der für die notwendige Abwechslung im reinen Trance- oder Techno-Set sorgt. Die Kombination aus Rave-Ästhetik bei Amniote kombiniert mit transzendentalem Ute-Trance ist makellos kuratiert und bietet die musikalische Abwechslung und den Klang-Pluralismus, der auch schon die Erfolgsformel für die erste Kollaboration gewesen zu sein scheint, von der D.Dans Trance-Techno-Crossover-Track „Can You Float?” auf etlichen Dancefloors weltweit rauf und runter lief. Viele der Stücke werden diesen Winter in den Clubs zu hören sein, wobei eher die Amniote-Stücke ihren Weg auf die großen Floors schaffen werden. Vincent Frisch


Homecore! Miami All-Stars (Omnidisc)

Von Miami ist auf internationaler Ebene selten die Rede, doch wurde die Stadt auf Bass erbaut. Danny Daze arbeitet als Betreiber von Omnidisc schon seit geraumer Zeit daran, der Welt zu beweisen, dass in den USA jenseits von Detroit und Chicago auch andere Städte ihre eigenen, weiterhin sehr lebendigen Szenen ausgebildet haben. Homecore! Miami All-Stars versammelt stolze 40 Tracks von hauptsächlich jungen Produzent:innen, mit Otto von Schirach eröffnet aber auch ein alter Hase diese vielseitige Compilation, die mit einem seltenen Stelldichein von Alpha 606 abschließt.

Da der regionale Zusammenhang im Vordergrund steht, ist Homecore! heterogen ausgefallen. Ein Leitmotiv ist allerdings, wir sind hier schließlich in Miami, Electro und seine bassigen Interpretationen. Daze flechtet aber immer wieder auch steppige, bisweilen britisch angehauchte Stücke – ein Highlight: Nick Léons „Sapo” – ein, lässt Hip-Hop ebenso wie House und Techno Raum. Selbst Abzweigungen in Richtung IDM und damit vom Dancefloor weg werden genommen. Das Sequencing ist stilistisch offen, lässt Kontraste zu und erschwert damit Genre-Heads sicherlich die Durchsicht der Compilation. Das unterstreicht aber umso mehr die musikalische Vielfalt der Zusammenstellung. Kristoffer Cornils 

Pop Ambient 2023 (Kompakt)

Selbst wenn jedes Genre davon lebt, seine Erwartungen entweder eisern zu erfüllen oder völlig zu widerlegen, spielt Ambient nach seinem ganz eigenen Regelwerk. Denn wenn man sich fallen lässt, auf alle Haltepunkte und orientierende Reling verzichtet, kommt es auf die individuellen Mechanismen des Empfängers an, wo ein Track, ein Album oder eine Compilation eingeordnet wird. Wer die dreizehn Tracks der Pop Ambient 2023 chronologisch durchhört, dürfte feststellen, dass viele der Stücke sich allzu kalkulierbar verhalten. Wie auf einer Theaterbühne werden da die einzelnen Klangschichten reingefahren und weggeschoben. Dabei sagt die Banalität des Vorgangs nicht sofort etwas über die Prägnanz eines Tracks aus. 

Bei Tetsuroh Konishi hat das eine filmische Note, die zwei Stück vom Sono Kollektiv wirken organisch und Triola spielt bei „Kupferblüte” mit der Geisterstunde, weil da etwas im Hintergrund lauert, was dich als Echo irgendwann einholt. Ein Stück wie „Nero” von Jens-Uwe Beyer ist mir dann aber einfach zu wenig, es klingt wie der Mitschnitt einer Fingerübung an der Gitarre. Auch bei „Reiter” von Reich & Würden würde man sich wünschen, dass es so etwas wie eine Richtung gäbe, eine Art Halteleine, deren Knoten man abzählt, um zu wissen, wie weit man gekommen ist. Natürlich darf Ambient in seinem Spielraum auch einfach Phasen aufstapeln. Das wirkt dann aber doch erst im Live-Auftritt oder jenseits der zwanzig Minuten Laufzeit so nachhaltig, dass man eintauchen will. Was mich zu den Tracks von Joachim Spieth und Uemit Han bringt, die allein schon durch ihre reiche Klangwelt herausstechen. Beides Stücke, für die man sich sofort einen neuen Kopfhörer mit Walnuss-Muscheln zulegen will und wissen, welche Instrumente, Filter und Synthesizer daran beteiligt waren. „Sieg über das Ungute” von Uemit Han lässt auch schon im Titel erahnen, dass hier die Kategorie akustische Medizin verhandelt wird, was in einer Laufzeit von 8:08 (Hello Easteregg) als Mini-Hörspiel funktioniert. Gregor Wildermann

no pare, sigue sigue (TraTraTrax) 

Wer kürzlich eine der neuen Berghain-Nächte wie Reef besucht hat, dürfte mit der Musik des kolumbianischen Labels TraTraTrax vertraut sein. Schließlich lieben DJs wie die in Berlin lebende Kanadierin Darwin die neuartigen Rhythmen aus Lateinamerika und mischen sie gewieft mit Techno und obskuren Rosalía-Edits. Nach neun digitalen EPs via Bandcamp erscheint nun No pare, sigue sigue, eine Compilation, die auf 14 Tracks eindrucksvoll dokumentiert, dass sich besonders Techno im von Krisen gebeutelten globalen Süden als Musik des Aufbruchs hochmodern mit Genres wie Cumbia vereint.

Auf No pare, sigue sigue schmiegt er sich auch an traditionellen Tribal, manischen Latin-Hardtrance oder schleicht sich in Genres wie Industrial Dembow, Changa tuki oder Reggaeton ein. Unverfroren extravagant gefertigt von Produzenten wie Lila Tirando a Violeta aus Uruguay, der Brasilianerin Mari Herzer, Nicolá Cruz aus Ecuador, Bitter Babe aus Bogotá, Safety Trance aus Barcelona, sowie den aus Medellín stammenden Produzenten OCTUBRXLIBRV und Verraco. Letzterer betreibt mit Nyksan und DJ Lomalinda das Label TraTraTrax und zeigte im letzten Juli bei seinem Gastspiel im Berliner Ohm, dass er auch als DJ durch vertrackte Latin-Rhythmen wendige Duftmarken im Club zu setzen weiß. 

Das globale Netzwerk von TraTraTrax steht für Dancemusik, die gern bei hoher BPM-Schlagzahl und düsterer Atmosphäre radikal gegen herkömmliches Four-to-the-floor-Material vorgeht. Ähnlich wie Rosalía im Frühjahr im Pop-Segment, zeigt auch No pare, sigue sigue, dass abenteuerliche, multidimensionale musikalische Neuerungen derzeit hauptsächlich jenseits des globalen Nordens stattfinden, wo keine professionellen Club- und Festivalstrukturen regieren, wo die Community nah am Sound ist und das musikalische Wagnis meist mehr zählt als das alleinige Verwerten althergebrachter Klischees. Michael Leuffen

To Illustrate (Wisdom Teeth) 

Mit 23 Maxis und vier Vinyl-Alben in acht Jahren können die beiden Wisdom-Teeth-Betreiber Facta und K-Lone auf einen schönen Output zurückschauen. Ihre Digital-Compilation To Illustrate widmet sich Dancehall, Dembow, Dub und verschiedenen Downbeat-Genres. Die Weisheitszähne müssten ihnen langsam von der Musikindustrie entfernt worden sein, damit dürfte ihre Musik erwachsen klingen. Das gelingt Uman Therma und Yetsuby vom Salamanda Duo aus Seoul mit „κρήνη της νύμφης”, zu Deutsch: „Brunnen der Nymphe”, recht gut. Die beiden spielen mit Mittachziger-Global-Electronic-Pop-Referenzen zwischen David Byrne, Eno, Carte de Séjour, Wally Badarou und Paul Hardcastle. Das ist nicht neu, die Genres passen aber musikalisch als Yamaha-DX7-Blueprints wunderbar zur digitalen Soundästhetik von Salamanda. 

„Bicycle” von abentis aus Nagoya erschafft mit einer kratzigen Plugin-Einstellung afrikanische Kalimba-Referenzen und leicht psychedelischen Grooves. Yushh & Facta bauen einen DAW-Abklatsch von Kruder & Dorfmeister. Dennoch wirken die leicht gespannten Sechzehntel-Hi-Hats und etwas zu klar glitzernden Bells, die ab und zu den Delay-Raum aufziehen, hypnotisch. Kommt gut für den südfranzösischen Herbstnachmittag in der Lounge. Auch die Kooperation „Kiss Me, Can’t Sleep” von Facta & K-LONE schlägt diesen K&D-Deepfilter-Fender-Rhodes-Sample-Weg ein und biegt dann in gepitchte 90s-UKG-Stimmloops ab. Henzos „Whirlpool Vanish” knallt klassisch im Dancehall-Gewand. Die digitalen Dub-Delay-Effekte – die das Space-Echo imitieren soll – sind allerdings auf die Dauer zu vorhersehbar. Clemecys digital übersteuerter Gesang ist allerdings gewöhnungsbedürftig („Girl Food”). Vielleicht sind doch noch nicht alle Zähnchen draußen? Mirko Hecktor

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