burger
burger
burger

Am Start: Jennifer Vanilla

- Advertisement -
- Advertisement -

Hätte Madonna 2020 die Glanzzeit ihrer Karriere erlebt, wie würden ihre Songs heute klingen? Wahrscheinlich glitzerten Synthesizer unter einem Hauch von Filtereffekten und Spoken-Word-Passagen – ausgelegt auf funky Dance-Pop-Beats. Von allem ein bisschen mehr. Klingt nach Drama auf dem Dancefloor? In New York wurde genau daraus ein Stück Wirklichkeit. Das Projekt trägt den Namen Jennifer Vanilla. Hinter dieser märchenhaften Maske stecken Becca Kauffman und Ko-Produzent Brian Abelson.

Zwischen Pop-House und elektronischem Jazz kreisen die Melodien ihres Albums Castle In The Sky, das im August erschien. Kunterbunte Klänge quietschen so schrill, dass ein einziges Genre nicht ausreichen würde, um diese zu erklären. Deshalb hat sich GROOVE-Autorin Wencke Riede mit den zwei US-Amerikaner:innen unterhalten – und über Mickey-Mouse-Ohren, Fame-Fantasien und ihre Beziehung zur von ihnen geschaffenen Kunstfigur gesprochen.


Trotz holpriger Internetverbindung und sechs Stunden Zeitverschiebung grinst Becca Kauffman pünktlich aus der Zoom-Kachel. Brian Abelson verspätet sich ein paar Minuten. „Wir können einfach schon mal loslegen”, schlägt Kauffman vor. Die Künstler:in sitzt in ihrem grau gestrichenen Wohnzimmer, Bilderrahmen zieren die Wände des Apartments. Kauffmans grün gefärbte Haare bilden einen kleinen Farbtupfer vor der grauen Leinwand. Doch wo steckt Jennifer Vanilla?

„Ich hauche ihr erst Leben ein, bevor ich die Bühne betrete”, erklärt Kauffman. Eine Mischung aus Adrenalin und Herzrasen lässt Kauffman sich in den elfenartigen Charakter verwandeln. Klar, dass ich heute keine Bekanntschaft mit Jennifer Vanilla mache – schließlich scheint Kauffman alles andere als unter Anspannung und Adrenalin zu stehen. „Dieses Gefühl kurz vor dem Auftritt werde ich niemals in meinen eigenen vier Wänden erleben können. Es braucht schon eine Bühne und ein Publikum, um Jennifer heraufzubeschwören.” 

Jennifer Vanille (Foto: Presse)
Jennifer Vanille (Foto: Presse)

Im Musikvideo zu „Humility’s Disease” tanzt Jennifer Vanilla als rot verkleideter Teufel durch die Straßen. In anderen Videoclips trägt Kauffmans Alter Ego Mickey-Mouse-Ohren, färbt sich die Haare bunt und schlüpft in knallige Kostüme, die eine wunderbare Leinwand für die spielenden Melodien ihrer Tracks kreieren. Alles ist so wild durchmischt, dass jegliche Grenzen zwischen Mensch und Musik verschwimmen. Trotzdem gelingt es Kauffman und Abelson, die verschiedenen Puzzleteile zu einem Ganzen zu verbinden. Die Facetten spielen mit so viel Leichtigkeit zusammen, dass gar keine Zeit für das Warum bleibt.

„Wenn Jennifer für dich eine Bedeutung hat, dann habe ich meinen Zweck erfüllt.”

Ich frage mich, wie es den beiden gelingt, dieses gesamte Paket der appearance zusammenzufädeln. Kauffmans Blick wandert über die Laptop-Kamera. Die Künstler:in scheint etwas zu suchen. „Ich habe an meinen Wänden verschiedenen Requisiten von damaligen Auftritten hängen, Masken und Hüte zum Beispiel.” Plötzlich hält Kauffman die bekannten Mickey-Mouse-Ohren in die Kamera und grinst. „Die habe ich im Musikvideo zu ‚Take Me For A Ride’ getragen.”

Jennifer Vanilla (Foto: Presse)
Jennifer Vanilla (Foto: Presse)

Die Ohren seien durch Zufall zu einem Teil des Kostüms geworden. Schließlich stelle Kauffman ihre Looks eher intuitiv zusammen. Insbesondere Kindheit und Jugend seien von bestimmten kulturellen Ästhetiken beeinflusst worden, die sich heute in Jennifer Vanilla vereinen. Sich selbst als Maskottchen verkleiden und viel Raum für Interpretation lassen – das ist die Devise. „Wenn Jennifer Vanilla für dich eine Bedeutung hat, dann habe ich meinen Zweck erfüllt.”

„Es gab also schon immer einen Teil in mir, der gerne gehört und gesehen werden wollte.”

Bevor die Idee zu Jennifer Vanilla entstand, stand Kauffman bereits auf zahlreichen Bühnen. Zehn Jahre lang beispielsweise als Mitglied von Ava Luna – einer Indie-Band, die sich 2009 in Brooklyn gründete. Von da an tourte die fünfköpfige Gruppe erfolgreich durch die USA und Europa.

Obwohl sich die Musik wie ein roter Faden durch die Biografie Kauffmans zieht, sei es nie ein richtiger Traum gewesen, diesen Weg zu gehen. Es sei einfach so passiert. „In der fünften Klasse haben meine beste Freundin und ich ein Tape aufgenommen. Sie spielte den Talkshowmoderator und ich die geladene Künstlerin. Ich erzählte von meinem Debütalbum und meiner anstehenden Tour. Ich tat so, als ob ich berühmt wäre. Es gab also schon immer einen Teil in mir, der gerne gesehen und gehört werden wollte.”

Dein erster richtiger Gig: 

Konzert von Yaeji and Friends im Elsewhere in Brooklyn, New York. 

Seit wann am Produzieren: 

Zusammen seit 2017.

Dein erster Release: 

This Is Jennifer, ein Album mit größtenteils bereits existierenden Dance-Tracks, die ich auf meinem YouTube-Kanal veröffentlicht habe.

Diesen Track höre ich in letzter Zeit gerne: 

DJ Jackrabbits „Hard 2 Get 1 Mega Mix”, den wir in einem Plattenladen in Miami gefunden haben.

Plötzlich erscheint eine dritte Kachel auf meinem Bildschirm. Abelson hat den Zoom-Call betreten – er lächelt in die Webcam. Die beiden haben sich 2017 in einer DIY-Venue in New York kennengelernt. Kauffman hat dort eine sehr frühe Version von Jennifer Vanilla performt. „Ich war total angetan von dieser Kombi aus Tanzmusik und gesprochener Stimme. Es war so einzigartig und anders”, so Abelson.

Jennifer Vanilla (Foto: Presse)
Jennifer Vanilla (Foto: Presse)

Nach dem Auftritt habe er den Kontakt zu Kauffman gesucht. Danach sei alles ganz langsam losgegangen. Seit über fünf Jahren arbeiten die Zwei nun als Duo hinter Jennifer Vanilla. Mit ihrem Track „Cool Loneliness” lassen sie zum ersten Mal Blicke hinter die bunte Maske Jennifers zu.

„I used to feel lonely acting cool from the start, ignoring little calls from the bottom of my heart” 

Dieser sticht mit seinen ruhigen Sounds und melancholischen Texten zwischen farbenfrohen Tracks wie „Body Music” oder „Humility’s Disease‘” heraus. Es sei der letzte Song gewesen, der für das Album entstand. Irgendwas habe noch gefehlt, weshalb Brian die zündende Idee hatte, eine Ballade aufzunehmen. „Das war ein schöner Anlass, den Charakter Beccas hinter Jennifer Vanilla zu zeigen. Ich liebe diesen Track”, so Brian. 

Der Song vervollständigt den Mix aus verschiedenen Klängen auf Castle In The Sky. Während auf einem Track pumpende Beats die Melodien anreichern, kleiden sich jazzige Saxofon-Solos auf anderen in elektronische Gewänder. „In Brians Studio haben wir mit Keyboards und Drum Machines verschiedene Sounds zusammengebastelt. Was dabei rauskam, war die Grundlage, auf deren Basis wir loslegen konnten”, so Kauffman. 

Das aufgewühlte Sound-Abenteuer ihrer gemeinsamen Platte lässt mich neugierig werden, ob die beiden einen gemeinsamen Lieblingstrack teilen. „Ich liebe all unsere Kinder gleich doll”, antwortet Abelson lachend. „Jennifer Pastoral” und „Humility’s Disease”, auf denen seine Freundin die Drums spielte, hätten aber einen besonderen Platz in seinem Herzen. 

Nach kurzem Überlegen entscheidet sich Kauffman für „Take Me For A Ride”. „Ich liebe es, diesen Song zu performen. Er hat eine bizarre Soundästhetik, die ihn einzigartig erscheinen lässt”.

In Kauffmans Aussage schimmert ein Teil von Jennifer Vanilla durch. Schließlich geht es dem Producerduo mit ihrem elfenartigen Wesen genau darum: eine absurd-kuriose Performance hinzulegen, die mit so viel liebevoller Hingabe und einem Auge fürs Detail einhergeht, dass alles drumherum für einen klitzekleinen Moment egal erscheint.

In diesem Text

Weiterlesen

Features

[REWIND2024]: So feiert die Post-Corona-Generation

Die Jungen feiern anders, sagen die Alten – aber stimmt das wirklich? Wir haben uns dort umgehört, wo man es lebt: in der Post-Corona-Generation.

[REWIND2024]: Ist das Ritual der Clubnacht noch zeitgemäß?

Hohe Preise, leere Taschen, mediokre Musik, politische Zerwürfnisse – wo steht die Clubkultur am Ende eines ernüchternden Jahres? Die GROOVE-Redaktion lässt das Jahr 2024 Revue passieren.

[REWIND 2024]: Gibt es keine Solidarität in der Clubkultur?

Aslice ist tot. Clubs sperren zu. Und die Techno-Szene postet Herz-Emojis. Dabei bräuchte Clubkultur mehr als solidarische Selbstdarstellung.