Andrea Piest (Foto: Privat)
Wochenende für Wochenende häufen sich Berichte über mutmaßliches Needle Spiking. Zur Anzeige gebracht oder gar bestätigt wurde noch keiner der Fälle, kein Täter wurde gefasst. Was ist dran am Phänomen Needle Spiking? Wie sicher kann Clubbing gerade sein und was können nicht nur Clubs, sondern auch jede und jeder Einzelne zur Prävention tun? Darüber haben wir mit Andrea Piest von der Berliner Initiative SONAR gesprochen.
GROOVE: Wie schätzt du die Situation ein und wie blickst du auf die Berichterstattung?
Andrea Piest: Sehr zwiegespalten. Dass die Problematik thematisiert wird, ist natürlich gut. Wir bekommen so auch noch einmal die Möglichkeit, Präventionsstrategien zu kommunizieren. Denn: Es ist total egal, warum es jemandem im Club schlecht geht. Leute vor die Tür zu setzen, ist keine Lösung. Dass es trotzdem passiert und jetzt an die Öffentlichkeit kommt, ist gut.
Was ist bisher über Needle Spiking bekannt?
Die Sängerin Alison Lewis alias Zoe Zanias war die Erste, die im deutschsprachigen Raum berichtet hat, dass sie Needle-Spiking-Opfer wurde. Allerdings wurde nichts aufgeklärt. Sie hat auch nichts zur Anzeige gebracht. Wir wissen, dass es Betroffene gibt, die Einstichverletzungen haben, und wir nehmen jeden Fall sehr ernst. Ob eine Substanz verabreicht wurde und auf welche Art, wissen wir aber nicht. Wir haben uns Gedanken darüber gemacht, uns mit Mediziner:innen ausgetauscht, ob und wie Needle Spiking funktionieren kann. Fazit ist, dass es aktuell Spekulationen sind, die niemandem weiterhelfen, aber dass es grundsätzlich, unter ganz bestimmten Bedingungen, möglich ist. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, wir müssen nicht im Kettenhemd feiern gehen. Ich fürchte, dass momentan auch viele Trittbrettfahrer mit Nadeln unterwegs sind, die mit der Panik spielen, ihren Opfern aber nichts injizieren.
Fand schon ein Austausch mit anderen Ländern, allen voran Großbritannien, wo 2021 viele Fälle gemeldet worden sind, statt?
Ja, wir haben uns unter anderem auch mit dem Initiator von Global Drug Survey, Adam Winstock, ausgetauscht. Er kommt aus Großbritannien und schätzt die Situation so ein wie wir: Es gibt keine bestätigten Fälle. Was wir wissen, ist, dass es Nadelstichverletzungen gibt, und die Frauen Symptome beschrieben haben, die zu Substanzgebrauch oder Alkoholkonsum passen können. Aber es gab keinen Raub, keine sexualisierte Gewalt. Es ist möglich, Symptome nach Einstichverletzungen oder anderen Verletzungen zu erleben, weil das Thema so präsent ist – gerade bei weiblich gelesenen Personen sind die Angst vor sexualisierter Gewalt und die durch Angst ausgelösten physischen und psychischen Reaktion des Körpers nachvollziehbar.
Haben sich schon Betroffene direkt bei euch gemeldet?
Nein, nur in Richtung Drink Spiking, aber das ist nicht neu. Es gibt immer wieder Fälle.
Zoe Zanias hat davon berichtet, vom Berghain vor die Tür gesetzt worden zu sein, obwohl es ihr schlecht ging. Das ist kein Einzelfall. Wie versucht ihr, die Clublandschaft dahingehend zu sensibilisieren?
Wir arbeiten eng mit der Clubcommission zusammen. Wir und die Awareness Akademie der Clubcommission bieten auch Basisschulungen an und kommunizieren, was zu tun ist, wenn es jemandem nicht gut geht, wer im Notfall angesprochen werden sollte et cetera. Manchmal treten wir auch direkt an Clubs heran, wenn wir von Besucher:innen hören, dass es Bedarf gibt. Drogengebrauch auf Partys ist die Realität, mit der Clubs arbeiten müssen. Realität bedeutet: Dass es eine Infrastruktur gibt für Drogennotfälle, dass Safer-Use-Devices wie Glaspipetten nicht an der Tür abgenommen werden, dass es keine Verbotskultur für einzelne Substanzen gibt. Das alles sind Punkte, die dazu führen, dass sich jemand im Club keine Hilfe holt. Wenn ich ein Hausverbot bekomme, weil es mir nicht gut ging und ich Hilfe geholt habe, war es das letzte Mal, dass ich das getan habe. Unsere und die Erfahrungen vieler Crews und Kollektive und auch einiger Berliner Clubs zeigen eindeutig: Je offener, wertfreier und akzeptierender mit dem Thema umgegangen wird, desto weniger Drogennotfälle gibt es. Das bedeutet auch, risikoärmere Konsumgelegenheiten zu schaffen, in den Clubshops und Kiosken Artikel wie Magnesium, Vitamin C und Co. anzubieten und das Trinken von Leitungswasser zu ermöglichen.
Du hast es angesprochen: In Clubs wird oft nicht unterschieden, ob es Menschen aufgrund freiwilligen oder unfreiwilligen Substanzgebrauchs schlecht geht. Ändert sich das gerade?
Leider nein. Wir haben immer davor gewarnt, G-, also GHB- und GBL-User:innen zu stigmatisieren und die Substanz als K.O.-Tropfen zu labeln. Leider passiert gerade genau das: Leute, die G konsumieren, werden als potenziell gefährlich und unfähig dargestellt. Das stimmt so nicht.
Die Clubcommission hat in der Zwischenzeit einen Roundtable zum Thema Needle Spiking veranstaltet, kein Wochenende vergeht ohne neue Meldungen. Gibt es Neues?
Wir haben mittlerweile viele Hypothesen, was abgesehen von tatsächlichen Fällen zur Häufung von Berichten beitragen könnte. Es bleibt aber alles Spekulation – beispielsweise wird berichtet, dass es kaum noch Drogennotfälle gebe, sondern fast nur Spiking. Wir vermuten: Aufgrund negativer Konsequenzen, wenn man sich im Notfall an Bouncer*innen wendet, schieben manche User:innen Spiking vor, um Rausschmisse und Co. zu vermeiden. Außerdem nehmen wir an, dass gerade die jüngere Generation, die in den vergangenen Jahren nicht feiern gehen konnte, manche Symptome nicht richtig zuordnen kann. Es geht um körperliche Symptome wie: Ich bin in einer Menschenmenge, mein Kreislauf spielt verrückt, mir geht es komisch – was kann es sein? Spiking. Diese Vermutung haben wir für die Fälle in Großbritannien auch. Die Mehrheit der Spiking-Fälle ist aufgetreten, nachdem der Lockdown vorbei war. Wie gesagt: Als weiblich gelesene Person zuerst an Spiking und sexualisierte Gewalt zu denken, wenn ich mich unwohl fühle, finde ich absolut nachvollziehbar.
Was glaubst du, wer die Täter sein könnten und was deren Motiv?
Es gibt drei Möglichkeiten: Sexualisierte Gewalt, Raub und Macht. Macht spielt auch oft bei sexualisierter Gewalt eine Rolle. Und wir haben auch die Vermutung, dass es Leute geben könnte, die einfach nur Nadelstiche in Clubs verteilen, das beobachten und daraus einen ganz komischen Gewinn ziehen. Genaues wissen wir aber nicht, weil noch keine Täter gefasst wurden. Wir wissen, dass 65 Prozent der sexualisierten Gewalt im Clubkontext von Männern ausgeht, die der betroffenen Person bereits bekannt waren. Auch das gilt es zu berücksichtigen. Auch das versehentliche Spiking durch nicht gekennzeichnete Getränke, denen Substanzen beigemengt wurden, muss im (Feier-)Freundeskreis besprochen werden. Männlich gelesene Personen sollten zudem Übergriffe jeder Art klar verurteilen, Haltung demonstrieren.
Was ratet ihr Clubgänger:innen?
Ich würde allen raten, sich nicht zu sehr beeinflussen zu lassen. Wer möchte, soll weiterhin feiern gehen. Wir von SONAR wollen vor allem die Panikverbreitung stoppen. Was Panik auslösen kann, haben wir in Belgien gesehen. Dort wurde wegen Needle-Spiking-Berichten ein ganzes Festival abgesagt. Es ist wichtig, sich wieder auf die Community-Aspekte des Feierns zu konzentrieren. Feiern bedeutet schließlich: Ich gehe aus und habe Spaß mit einer großen Gruppe an Menschen, die zur gleichen Musik tanzen, vielleicht ähnliche Werte teilen. Das bedeutet auch: Wenn ich jemanden sehe, dem es nicht gut geht, dann gebe ich zumindest dem Clubpersonal Bescheid. Gegenseitige Awareness sollte Standard sein, jede*r sollte auf sich und andere achtgeben. Alles andere lagert nur die Verantwortung auf potenziell Betroffene um. GHB-Armbänder oder Nagellacke, Strohhalme bringen nichts, im Gegenteil: Getestet wird nur auf eine Substanz, am meisten verbreitet ist aber GBL. Die Tests wiegen Menschen in falscher Sicherheit. Nachdem getestet wurde, kann immer noch jemand was ins Getränk mischen. Für mich ist das auch die gleiche Logik wie: „Mädchen, zieh’ mal nicht so einen kurzen Rock an, dann wirst du auch nicht vergewaltigt.” Aber: Weiblich gelesene Personen müssen keine Angst haben, im Club niedergespritzt zu werden. Das ist nicht real.