Dr. Motte alias Matthias Roeingh (Foto: Petrov Ahner)
Seit 1989 ist Matthias Roeingh alias Dr. Motte einer der zentralen Akteure und bekanntesten Gesichter der deutschen Technobewegung. In diesem Jahr gehörte er zu den Veranstalter*innen der ersten Loveparade, der er mit legendären Redebeiträgen seinen Stempel aufdrückte. Zu ihrem Höhepunkt hatte die alte Loveparade mehr als 1,5 Millionen Besucher*innen. Später steht die Loveparade Berlin GmbH kurz vor der Insolvenz, es kommt zum Verkauf der Marke. Und zu einer Katastrophe, als bei der letzten Loveparade in Duisburg 2010 21 Menschen starben. Zu dem Zeitpunkt war Dr. Motte schon lange ausgestiegen. Nun wagt er mit der gemeinnützigen Organisation Rave The Planet den Neuanfang.
Die Route der neuen Parade führt vom Ku’damm in Charlottenburg zum Großen Stern im Tiergarten. Unter den den 18 Floats sind Clubs wie die Anomalie und Kollektive wie GEGEN vertreten, aber auch szeneferne Akteur*innen steuern Inhalte bei. So wird der „LichtParade” betitelte Wagen auch von Kölner Klimaaktivist*innen bespielt. Wir wollten von Dr. Motte wissen, wie es ihm und seiner Crew gelungen ist, den Umzug ohne Förderung und Ticketverkauf auf die Beine zu stellen, und wo für ihn die Relevanz der Technokultur angesichts der Krisen der Gegenwart liegt.
GROOVE: Die letzte Parade hast du vor fast 20 Jahren veranstaltet. Jetzt ist es wieder so weit.
Dr. Motte: Nein, falsch! Das war nicht ich, das waren wir. Ich alleine schaff’ das gar nicht. Da braucht man immer ein Team dafür. Das waren 2003 wirklich sehr viele Leute, die mitgeholfen haben. Man muss vorbereiten, man muss die Sicherheit klären, mit den Behörden sprechen. Und das war damals auch so – wir haben 2001 den Status einer Demonstration verloren. Weil Hasser in Berlin, Hasser der Loveparade, uns einen Strich durch die Rechnung gemacht haben. Die Loveparade war eine der wichtigsten Veranstaltungen für elektronische Musikkultur mit großer Breitenwirkung für Berlin und alle Künstler.
Inwiefern einen Strich durch die Rechnung gemacht?
Die haben einfach auch eine Demonstration angemeldet, an unserem Tag, an unserm Ort. Das war eine Opernsängerin [Margarethe Pape, d. Red.], die sich gesagt hat: Ich werde verhindern, dass die Loveparade stattfindet – und wenn ich dann hier eine Versammlung anmelde, dann bin ich als Erste da. Und leider haben die Behörden und die Senatoren, damals ja Senator Eckart Werthebach, einfach nicht mit uns kommuniziert. Wir haben auf unser Recht geklagt, bis nach Karlsruhe ging das, und letztlich im Eilverfahren verloren. Dadurch haben wir den Status als Demonstration verloren und wurden eine ganz normale Veranstaltung. In der Schlussbemerkung des Urteils steht aber auch ganz klar, dass es möglich sein muss, sich nonverbal unter freiem Himmel zu versammeln. Jedenfalls sind die Kosten so dermaßen explodiert, dass 2004 und 2005 die Loveparade nicht mehr veranstaltet werden konnte.
Nun aber wieder. Wie fühlt sich das an, ein paar Tage vor der Parade?
Arbeit, Arbeit, Arbeit, Arbeit, Arbeit. So fühlt sich das gerade an. Und das fühlt sich nicht nur so an, das ist auch so.
Was habt ihr jetzt noch zu tun?
Wir stellen Toiletten auf, auch wenn wir das nicht müssten. Wir gewährleisten eine Grundversorgung. Dafür mussten wir Geld sammeln. Man muss sich mit der Polizei und der Feuerwehr verabreden und ein Sicherheitskonzept entwickeln. Wir mussten Ordner finden, die wir sogar extra vorab noch geschult haben. Wir müssen Spenden einsammeln und dafür Aufrufe machen. Wir sind ja eine gemeinnützige Organisation, und das mit Absicht, denn es geht um die Kultur. Alle Geschäftsführer arbeiten ehrenamtlich, ich also auch. Wir wollen Dinge besser machen.
Wie äußert sich das konkret?
Wir machen am Sonntag einen Clean-Up-Day. Jeder, der da mitmachen möchte, kann um 11 Uhr am Brandenburger Tor sein. Dann sammeln wir mit ein bisschen Musik den Müll im Tiergarten auf.
Ihr stellt Toiletten auf und sorgt für die Sicherheit – was für Aufgaben habt ihr noch zu bewältigen?
Freiwillige können noch immer sagen: Ich will mithelfen, dass das klappt. Wir wollen das ja wiederholen in jedem Jahr, im Spirit der Loveparade, damit irgendwann in allen Ländern der Erde Paraden stattfinden, damit irgendwann alle Menschen tanzen und erkennen, dass wir Teil derselben Familie, nämlich der Familie der Menschen auf diesem Planeten sind. Und daraus kann Weltfrieden entstehen.
Friede, Freude, Eierkuchen – das hat man ja in veränderter Form auch auf der Webseite gelesen, damit schließt ihr nahtlos an die Neunziger und Zweitausender an.
Das ist der Spirit.
Wie viel Loveparade steckt denn in Rave the Planet? Und was ist neu?
Es gibt da einiges Neues. Wir verbinden die beiden historischen Loveparade-Strecken miteinander und ziehen dabei durch drei Berliner Bezirke. Wir haben ausschließlich Musikwagen dabei, wir haben viele tolle Redner eingeladen, die darauf sprechen werden. Wir zeigen uns und demonstrieren, wie sich die elektronische Musikkultur das Leben miteinander vorstellt. Am Ende demonstrieren wir für den Frieden.
Heute könnte man es aber fast als zynisch verstehen, von Friede, Freude, Eierkuchen zu sprechen.
Das ist unsere Tradition der Loveparade. Wir haben dieses Jahr auch noch das Motto: Together Again. Aber wieso denkst du, dass Friede, Freude, Eierkuchen heute zynisch ist?
In Europa findet im Augenblick ein Krieg statt, die Folgen der Pandemie sind noch nicht ausgestanden, die Preise für Energie und Lebensmittel explodieren.
Aber wir reden ja hier von elektronischer Tanzmusikkultur und nicht von der Politik, die darauf scheißt. Außerdem steht Friede für Abrüstung auf allen Ebenen, auch zwischenmenschlich, Freude für Musik als Mittel der Verständigung und Eierkuchen für eine gerechte Nahrungsmittelverteilung. Daran kann ich nichts Zynisches erkennen.
Dennoch findet 2022 die Parade, das erste Mal seit 2001, wieder als dezidiert politische Demonstration statt.
Nein, nein, nein. Das Grundgesetz sagt: Jeder Mensch kann sich unter freiem Himmel friedlich versammeln. Das muss nicht politisch sein. Und in einer politischen Gesellschaft ist alles, was in der Öffentlichkeit passiert, per se politisch. Egal, ob ich da nun tanze oder Reden halte oder Kunst mache. Entweder haben wir das Grundrecht der Versammlungsfreiheit – oder wir haben es nicht.
Was ist an der Parade politisch, und was für eine Politik wird das sein?
Also, eine Politik für die Einforderung von Rechten. Letztlich fordern wir Menschenrechte ein. Wir kämpfen für die Anerkennung der elektronischen Musik als zu schützendes Kulturgut. Für die Gleichstellung der elektronischen Musikkultur mit anderen, etablierten Kulturformen und -einrichtungen, auch was staatliche Förderungen angeht. Für den Schutz von Kulturstätten wie Clubs und anderen Veranstaltungsorten. Für die Einführung eines Tages der elektronischen Tanzmusikkultur als neuen gesetzlichen Feiertag in Berlin. Für die generelle und bundesweite Abschaffung aller Tanzverbote, insbesondere auch an christlichen Feiertagen. Für ein Recht auf kulturelle und nonverbale Tanz- und Musikdemonstrationen, frei von Pflichtwortbeiträgen, damit auch Kundgebungen im Zuge der elektronischen Musikkultur grundsätzlich Rechtssicherheit genießen. Was aber nicht bedeutet, dass ich mich dieses Mal nicht auf unsere Redebeiträge – neun sind es an der Zahl! – freue.
Die Zulassung als Demonstration wurde der alten Loveparade ab 2001 mit erheblichen Auswirkungen für die Organisation entzogen, sie war fortan einfach eine Veranstaltung. Wie habt ihr diesen Status in diesem Jahr wieder bekommen?
Wir haben eine Demonstration angemeldet. Es gibt außerdem neue Entwicklungen, auch Gerichtsurteile. Leider stehen die Behörden immer noch zu dem Verwaltungsgerichtsurteil von 2001. Einige Details haben sich aber geändert. Und der Paragraph zur Demonstrationsfreiheit im Gesetz über Versammlungen und Aufzüge sagt unmissverständlich: Unter bestimmten Bedingungen darf man natürlich demonstrieren. Und Artikel 8 des Grundgesetzes sagt: Jeder Mensch kann sich unter freiem Himmel friedlich versammeln.
Auch die Reinigungskosten waren ein Faktor, der die Loveparade in die Knie gezwungen hat, als sie dann plötzlich keine öffentliche Demo mehr war.
Es ist eigenartig, dass darüber nie gesprochen wurde, dass die Loveparade Berlin GmbH immer, von 1996 bis 2003, den Tiergarten gereinigt hat. Für die Straße ist selbstverständlich die Berliner Stadtreinigung zuständig und das bezahlt, wenn wir sagen, wir haben ein Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, der Steuerzahler. Und wenn es keine Demo ist, dann bezahlt das der Veranstalter, was wir getan haben.
Wer ist denn diesmal für die Sicherheit zuständig?
Grundsätzlich ist das bei Demonstrationen die Polizei, sie sorgt für die Sicherheit der Teilnehmenden und sperrt zum Beispiel die Straßen. Für den Rettungsdienst ist die Berliner Feuerwehr zuständig. Selbstverständlich haben wir zusätzlich viele Ordner und ein Awarenessteam. Und für die Vor-Ort-Versorgung sind die Johanniter da. Wir haben unsere eigenen Ordner, um die Wägen stehen an jeder Achse zwei Personen. Mit einem Seil wird ein Meter Abstand zu den Fahrzeugen gehalten. Alle werden sich darum kümmern, dass die größtmögliche Sicherheit besteht. Für den Fall, dass es einen unerwarteten Zwischenfall gibt, haben wir ein Sicherheitskonzept erarbeitet, das wir mit Polizei und Feuerwehr abgesprochen haben. Wir haben wirklich versucht, alles zu bedenken. Die Behörden waren einigermaßen überrascht, um wie viel wir uns bereits gekümmert haben.
Ihr übernehmt also viele Aufgaben, die ihr gar nicht übernehmen müsstet.
Dieser Planet wird generell von denen, die eigentlich die Verantwortung tragen, missachtet. Die ökologische Uhr steht auf zehn nach zwölf. Damit sind wir eigentlich verloren. Wenn ich mir angucke, wie viele Monokulturen allein für Palmöl entstehen, wie viel Natur für Schieferplatten, Fracking, Steinkohletagebau und so weiter zerstört wird, dann ist klar, dass wir so nicht weitermachen können. Ein kleines Zeichen unseres Bewusstseins geteilter Verantwortung ist unser Clean-Up-Day. Unser Team hat bereits vergangene Woche Fotos des Parks gemacht und war einigermaßen schockiert, wie der aussieht. Das kannst du dir nicht vorstellen. Das ist wirklich traurig, dass unsere Behörden und die Parkverwaltung das nicht hinbekommen. Da muss ich doch fragen: Ist denen das egal? Und wenn ja: warum?
„Together Again” – so lautet euer Motto dieses Jahr. Wie seid ihr darauf gekommen?
Wir haben jetzt, immer und immer und immer wieder in den letzten zweieinhalb Jahren gehört: Ihr müsst Abstand halten, Social Distancing machen. Das ist aber nicht unsere Kultur. Wir wollen nämlich als Menschen, als Raver und als Musikliebhaber in einem Raum, auf einem Feld, auf einem Festival gemeinsam etwas erleben. Und zwar etwas, das wir alle teilen: die Musik. Wir wollen zurückholen, was wir mal hatten. Raven bedeutet Toben zu dieser Musik, in der Öffentlichkeit. Und ich glaube, der eine oder andere wird Freudentränen in den Augen haben, dass das endlich wieder da ist, dass wir endlich wieder zusammen eine Technoparade machen können.
Am kommenden Wochenende geht nicht nur die Parade über die Bühne. Der Tresor beginnt ein großes Jubiläumsfestival zu seinem 31-jährigen Geburtstag mit einer Ausstellung. In Frankfurt gibt es seit diesem Jahr das Technomuseum MOMEM. Ist Techno zu sehr mit seinem eigenen Mythos beschäftigt? Wie siehst du dieses Interesse an, diese Aufarbeitung der Techno-Geschichte?
Wir wollen nicht, dass am Ende diese Kultur nicht mehr oder nur noch im Museum existiert. Das wäre unerträglich. Ich will, dass das immer, immer, immer so weitergeht. Dass wir uns weiterentwickeln, dass wir innovativ sind. Dass wir eine lebendige Kultur haben und dass diese Kultur weiterleben kann. Dafür brauchen wir unbedingt die UNESCO, die uns als immaterielles Kulturerbe anerkennen muss.
Was kann die UNESCO, was die Berliner Akteur*innen und Institutionen nicht können?
Zum Beispiel die Anerkennung der Kultur in der breiten Bevölkerung unterstützen oder wenigstens erreichen, dass Clubs nicht mehr als Vergnügungsstätten gelten. In Berlin haben wir das ja jetzt schon. Außerhalb Berlins sieht die Welt aber ganz anders aus. Die Berliner Clubs zahlen nur sieben Prozent Umsatzsteuer, das ist schon mal eine ganz gute Förderung. Diverse andere Gesetze, das Baurecht etwa und das Gewerberecht, muss man auch noch anpassen, damit diese Kultur weiter lebendig bleiben kann. Und natürlich wollen wir ein bedingungsloses Grundeinkommen für Kulturschaffende und Künstler. Damit die aufatmen können und entspannter ihre Ideen verwirklichen und nicht immer Angst haben müssen, dass sie kein Geld verdienen.
Und wie läuft’s mit dem Weltkulturerbe-Antrag?
Wir machen jetzt erstmal die Vorbereitungen für den Samstag fertig. Alles andere wird irgendwann von der Politik entschieden. Vielleicht auch von Herrn Lederer [Klaus Lederer, Berliner Senator für Kultur und Europa, d.Red.] persönlich. Aber uns interessiert jetzt erst mal nur der 9. Juli. Das wird ein toller Tag werden, ich glaube, es werden viele Menschen nach Berlin kommen. So wie das aussieht, sind die Hotels schon voll, und wahrscheinlich werden die Afterpartys auch voll werden. Ich bin mal gespannt auf die Zahlen, wir werden natürlich irgendwann auch unsere eigenen Zahlen haben.
Würde die Parade eigentlich Loveparade heißen, wenn sie dürfte?
Natürlich.
Seit 2006 gehört die Marke Loveparade McFit-Macher Rainer Schaller. Habt ihr ihn nochmal gefragt, ob ihr den Namen nutzen dürft?
Herr Schaller von McFit redet nicht mit uns. Keine Ahnung, was der denkt. Er hat ja auch mit Veranstaltungen nichts am Hut. Wir wollen Nachhaltigkeit und Perspektive. Da gibt’s dann halt einen Dissens. Das ist halt so, da muss ich sagen: Wir werden leider oft nicht von mitfühlenden Menschen bestimmt. Und deshalb gehen wir mit unseren Gefühlen auf die Straße, um zu zeigen: Wir fühlen es.
Apropos Perspektive: Ist das jetzt eine einmalige Ausgabe?
Nein, nein, nein. Die Tradition, die Idee, die Vision ist, dass wir das das jetzt jährlich machen. Dann aber mit effizienterer Planung und Arbeitsteilung. Wir konnten erst im März entscheiden, schon in diesem Jahr eine Parade zu machen. Derzeit arbeiten wir 48 Stunden am Tag. Wir stehen auf, sitzen am Computer und schlafen da ein. Und wenn wir aufwachen, dann geht es direkt weiter. Anders ist das nicht zu machen. In dieser Sekunde laufen die letzten Vorbereitungen. Die Toiletten stehen schon, abgeschlossen, bereit dafür, benutzt zu werden, wenn wir sie am Samstag brauchen. Die Parkverbotsschilder stehen auch schon. Wir werden morgens von der Messe Berlin an einen Konvoi zum Antreteplatz am Kurfürstendamm haben, der von der Polizei begleitet wird. Wir haben viele Ordner, die organisieren und mithelfen. Die Sicherheit steht bei uns an erster Stelle. Damit alles stattfinden kann, was stattfinden muss.