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Meine Stadt: Electric Indigo über Wien

Electric Indigo posiert mit Trześniewski-Brötchen (Alle Fotos: Bela Borsodi)

Electric Indigo bedarf keiner Vorstellung. Die Österreicherin, die mit bürgerlichem Namen Susanne Kirchmayr heißt, gehört seit über drei Dekaden zum Hauptinventar der deutschsprachigen und internationalen Technoszene. Unter anderem leitete sie den Einkauf des Hard Wax für kontinentaleuropäische Labels und gründete 1998 das Netzwerk female:pressure, das heute knapp 3000 Mitglieder zählt und wichtige feministische Arbeit leistet.

Während ihrer Karriere pendelte und pendelt Electric Indigo zwischen Berlin, ihrer einstigen Wahlheimat, und Wien, ihrer tatsächlichen Heimatstadt, die sie uns in diesem Meine Stadt vorstellt – und zwar ziemlich ausladend und detailversessen. Oder, um es in ihren Worten über die Exponate in der Kunstkammer zu sagen: liebevoll und durchdacht gestaltet. Auch ein textiler Tribut an Peter Rehberg, auf dessen Label Editions Mego sie 2020 ihr letztes Album Ferrum veröffentlichte, ist enthalten.


Trześniewski

Electric Indigo Meine Stadt Header by Bela Borsodi

Das Trześniewski wurde 1902 von einem aus Krakau stammenden Feinschmecker in Wien gegründet, und seit 1912 existiert die legendäre Filiale in der Dorotheergasse im 1. Bezirk. Gleich gegenüber befindet sich das unter anderem von Kraftwerk in „Trans Europa Express” besungene Café Hawelka – „In Wien sitzen wir im Nachtcafé. Direktverbindung, TEE.” Aber zurück zum Trześniewski!

Wienerischer als hier geht’s eigentlich kaum. Vom fast unaussprechlichen Namen über die galizischen Wurzeln, die seit 120 Jahren zum Großteil unveränderten Rezepturen der Aufstriche, die Form der in Stücke geschnittenen Brote, die von sehr großen Laiben stammen, bis zum traditionellen, neckisch verharmlosend „Pfiff” genannten Alkoholgenuss ab 8:30 Uhr morgens. Ein Pfiff ist ein Achtelliter Bier in einem Miniaturglaskrug, also das Wienerische Pendant zum schnellen Espresso an der Bar in Italien.

Normalerweise bildet sich jeden Tag eine Schlange an der Theke, die auch bis vor die Tür auf die Gasse reichen kann. Man stellt sich an, wechselt vielleicht ein Wort mit den zufällig anwesenden Personen, muss dann blitzartig Entscheidungen treffen, welche Sorten Brötchen auf dem kleinen, weißen Teller landen sollen, und, zack, steht man schon vor der Kasse, bekommt den Teller ausgehändigt und die Jetons für die Getränke. Den Pfiff oder auch das „Obi g’spritzt” – Apfelsaft mit Soda – muss man sich dann auf der anderen Seite der Theke holen. Mit Glück erwischt man sogar einen Sitzplatz an einem der kleinen Tischchen zwischen den vielen Leuten. Zurzeit ist es dort allerdings sehr leer. Das ist zwar angenehm, aber trotzdem etwas traurig. Hoffentlich wird das wieder, ich würde es dem Lokal von Herzen wünschen.

Altmann & Kühne

Electric Indigo Meine Stadt 2 by Bela Borsodi

Diese Schachteln! Diese Farben! Es gibt so viel, was ich in und an diesem Geschäft unglaublich entzückend finde. Die „Kassette Nr. 2” begleitet mich schon seit den 1960er Jahren. Meine Mutter bewahrte darin, nach Farben geordnet, ihre Sammlung an Nähseiden auf, und ich bewunderte das Innere wie das Äußere mit neugierigen Kinderaugen. Ich habe diese Altmann-&-Kühne-Kassette jetzt noch, und auch die alten Nähseiden harren weiterhin einer eventuellen Verwendung.

Ich kenne sogar die Kartonagenfabrik, wo diese Schachteln seit eh und je hergestellt werden. Dort fand ich mich in angeregter Unterhaltung mit der Bürochefin wieder. Wir fachsimpelten über Details der Schachtelherstellung, die Veränderung der Motive auf dem Bezugspapier im Laufe der Jahrzehnte, die eingebauten Scharniere, die kleinen Griffe, die Feinheit der Arbeit und so weiter und so fort. Alles gipfelte in einem Tauschgeschäft: Ich lieh der Firma meine alte Kassette für eine Fernsehreportage – RTL, glaube ich – und bekam im Gegenzug drei neue Schachteln aus der Altmann-&-Kühne-Kollektion zusammen mit meiner Leihgabe zurück. Das war fast schon eine Romanze!

Aber eigentlich ist Altmann & Kühne eine Confiserie. Das heißt, sie stellen Konfekt her. Und zwar nicht irgendein Mittelmäßiges, sondern das sogenannte Liliputkonfekt, das einerseits vorzüglich schmeckt, andererseits auch besonders schön aussieht. Die winzigen Pralinen sind mit größter Liebe zum Detail gestaltet, der Machart der Verpackung in nichts nachstehend, und einzeln, in gefältelten Papiermanschettchen mehrlagig in ihren exquisiten Behältnissen drapiert. Sobald so eine Bonbonniere verkauft werden soll, geht die Geschichte der hingebungsvollen Gestaltung noch weiter. Kunstfertig werden die gefüllten Boxen, Kommoden, Bücher, Koffer, Kassetten, Herzen aus Karton in plissiertes Seidenpapier geschlagen und mit einem goldenen Faden umschlungen, der die schützende Hülle zusammenhält. Es ist einfach eine große Freude, selbst wenn man Schokolade gar nicht mag. Ich kann dieses Geschäft also uneingeschränkt empfehlen, um für eine geliebte Person ein wunderbares Mitbringsel aus Wien zu finden.

Kunstkammer Wien

Electric Indigo Meine Stadt 3 by Bela Borsodi

Wie sich die Leser*innen vielleicht schon denken: Ich kann mich enorm an liebevoller und durchdachter Gestaltung, akribischer Arbeit auch am verborgenen oder vergänglichen Detail und kompromissloser Sorgfalt erfreuen. Man nehme all das, versuche sich noch das äußerst Rare, Kuriose und mitunter auch Bizarre dazu vorzustellen, lasse sich von Fabelwesen in Gefilde merkwürdiger Wissenschaften und der Magie entführen und landet in der Kunstkammer des Kunsthistorischen Museums in Wien.

Die Saliera von Benvenuto Cellini ist wohl das berühmteste Exponat. Auch weil dieses opulente Serviergefäß für Salz – merkwürdigerweise auch „Salzfass” genannt, obwohl daran nun wirklich nichts Fassartiges festzustellen ist – 2003 aus dem in Renovierung befindlichen Museum gestohlen wurde, frech über das Baugerüst durchs Fenster einsteigend. Drei Jahre später wurde sie in einem Wald außerhalb Wiens vergraben wieder aufgespürt. Details zu der Geschichte kann man auf Wikipedia nachlesen, sie sind durchaus unterhaltsam.

Was mich am Besuch der Kunstkammer so fasziniert, ist die überwältigende Fantasie, die sich in den Ausstellungsstücken manifestiert. Das ist so trippy, so abgefahren, was mir dort vor Augen geführt wird, dass ich immer wieder auch an Science-Fiction oder Adventure-Spiele wie Myst denken muss, wenn ich durch die Räume gehe. Das atemberaubende kunsthandwerkliche und technische Geschick macht die ganze Sache noch umwerfender. Ich empfehle beim Besuch oder auch online die Videos anzusehen, wo zum Beispiel eines der in Gold und Silber gestalteten Segelschiffe in Aktion zu sehen ist. Dieser Schiffsautomat diente als Schmuck und Unterhaltung auf barocken Tafeln. Mit geblähten Segeln fährt das Ding über den Tisch, eine mechanische Kapelle mit Bläsern und Trommlern spielt an Deck. Und am Schluss gibt es eine Überraschung, die ich jetzt natürlich nicht verrate.

Auf dem Foto sind unter anderem der Mechanische Himmelsglobus von 1583 und 1584, Mitte, die Wiener Planetenuhr, bei der es sich um die erste Uhr mit einer Darstellung des heliozentrischen Planetensystems handelt, circa 1605, rechts, sowie die sogenannte Wiener Kristalluhr, 1622 bis 1627, die älteste erhaltene Uhr mit Sekundenanzeige, zweites Exponat von rechts, zu sehen.

Donaukanal / Das Werk / Grelle Forelle

Electric Indigo Meine Stadt 4 by Bela Borsodi

Eine Klappe, mindestens zwei Fliegen. Es gibt einen Ort am Wiener Donaukanal, von wo aus man gleich zwei meiner hiesigen Lieblingsclubs sehen kann. Es handelt sich um den Hintereingang vom Werk und den Abgang zur Grellen Forelle. Das Werk mag ich fast noch lieber, weil ich den Sound dort so warm, kraftvoll und umhüllend finde. Aber in beiden Clubs habe ich schon ganz grandiose Abende erlebt. Am liebsten spiele ich für die MEAT Crew um den Kollegen Gerald VDH, da fühle ich mich richtig zuhause. Hier war bis Anfang März allerdings alles zu und immer noch kein Ende in Sicht. Für die Leute, die safe(r) Spaces brauchen, ist das eine Katastrophe.

Neue Donau / Donauinsel

Electric Indigo Meine Stadt 5 by Bela Borsodi

Am Wasser, die Zweite. Diesmal ist es die Neue Donau, man kennt sie auch unter dem schönen Namen „Entlastungsgerinne”. Sie wird von der eigentlichen Donau durch die künstlich aufgeschüttete Donauinsel getrennt. Es handelte sich bei diesem städtebaulichen Großprojekt der 1970er Jahre in erster Linie um einen Hochwasserschutz, daher kommt auch der zweite Name, das Gebiet hat sich aber zum offensten und weitläufigsten innerstädtischen Erholungsgebiet entwickelt.

Die Donauinsel ist über 20 Kilometer lang und autofrei, ideal zum Radfahren, Skaten und (Nackt)Baden. Ich liebe diese unkomplizierten, schnellen Radausflüge, die ich im Sommer auch an Arbeitstagen gerne mache. Schnell ein Handtuch eingepackt, durch den Prater, an der Friedenspagode vorbei, am Containerhafen entlang bis zum Kraftwerk Freudenau geradelt, dort auf die Donauinsel übersetzen, ans andere Ufer fahren, alles abwerfen, ins Wasser springen, schwimmen, sich von der Sonne trocknen lassen, anziehen und wieder zurückradeln. Das fühlt sich für mich so frei an! Kein Eintritt, meist wenig Leute, viel Licht, Bewegung, Wind, Untertauchen und zwei Stunden später wieder weiterarbeiten. Es sieht meist schöner aus als auf diesem Foto, das im Februar anscheinend nach einer Überschwemmung bei Sturm und Eiseskälte entstand. Es gibt sonst Libellen und Fische, Schmetterlinge, Enten, Frösche, Reiher, Schwäne und bunte Blumen. Falls man doch einkehren möchte, kann ich die Rad- und Wanderschenke empfehlen, ein netter, sehr unkomplizierter Ort für eine kleine Jause und ein erfrischendes Getränk.

Schafberg / Utopiaweg

Electric Indigo Meine Stadt 6 by Bela Borsodi

Eigentlich sollte das ein Foto vom Utopiaweg werden, weil mir der Name so gut gefällt. Das Motiv gab dann doch nicht so viel her, wie ich mir das in vorheriger Unkenntnis des Ortes gewünscht hatte. Ich hätte unweigerlich Schilder der einen großen Boulevardzeitung in Kauf nehmen müssen, flankiert von einer abgenutzten Werbefläche an einer recht trostlosen Straßenecke. Auf den erhofften Ausblick hinter dem Straßenschild keine Chance. Also sind wir noch einmal um die Ecke und ein kleines Stück durch den Wald auf die Schafbergwiese gelaufen, von wo sich ein hübscher Blick auf die Stadt öffnet. Er ist zwar nicht ganz so beeindruckend wie der Ausblick von den bekannteren Aussichtspunkten wie Kahlenberg oder Cobenzl, aber auch schön und dafür weniger frequentiert und lauschiger.

Gleich daneben befindet sich auch das sympathische Schafbergbad, wo man die Sicht auf die Stadt im Sommer mit Schwimmen und Sonnenbaden verbinden kann. Das Besondere an diesen Hügeln an der Stadtgrenze, die den Übergang zum Wienerwald bilden, ist, dass sie so gut erschlossen und zugänglich sind, sich aber gleichzeitig wie ein Ausflug aufs Land anfühlen – inklusive frischer Luft, viel Grün und mancherorts sogar Rehe wie im Pötzleinsdorfer Schlosspark unweit des Utopiawegs.

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