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Oktober 2021: Die essenziellen Alben (Teil 1)

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aya – im hole (Hyperdub)

aya - im hole (Hyperdub)

Grenzen können Orientierung geben und Freiheiten einschränken – und von Menschen, die sie erfinden, wieder verwischt und aufgehoben werden. aya spielt immer wieder damit, Linien zu durchkreuzen. Mal mehr, mal weniger deutlich ist die Musik der in Manchester lebenden Künstlerin in Rave und im Hardcore Continuum zu Hause. Euphorische, beinahe kitschige Synthesizer, schnelle Kicks und wirbelnde Breaks waren in den Tracks vergangener Jahre immer wieder zu hören. Unter anderem als Teil des Kollektivs boygirl, das queere Künstler*innen stärken möchte, verhilft sie mit diesen Mitteln Pop-Hits in Edits zu einem Neon-Strobo-Afterlife im Hallraum von Dubstep.

Mit im hole stört aya voreilige Einordnungsreflexe. Statt Dance-Hymnen bilden die Stücke des Albums mit ihren Geräusch- und Klang-Fragmenten und vieldeutigen Lyrics raue und einnehmende Club-Poesie mit der Energie eines Live-Sets. aya webt die Klänge, die mal an Ambient erinnern, dann lärmig aufrütteln, mit 4/4-Kicks antreiben oder Dubstep und Grime anklingen lassen, zu einem eindrucksvoll vibrierenden und gleichzeitig merkwürdig sanften Ganzen. im hole strahlt zuversichtlich in der Erschütterung von Klarheiten, ohne dass aya das Gewaltige – die Unsicherheit um das eigene Selbst oder um die Beziehung zu anderen – versteckt. Philipp Weichenrieder

Blue – The Path Of Least Resistance Meets The Point Of No Return (Souvenirs From Imaginary Cities)

Blue – The Path Of Least Resistance Meets The Point Of No Return (Souvenirs From Imaginary Cities

Hätte die Menschheit bereits aufgehört, sich durch staubige Second-Hand-Platten zu wühlen, reichlich unbequem in gebückter oder kauernder Haltung, dieses Album wäre wohl kaum entstanden. Wer hätte sich sonst noch an das aus Cambridge kommende UK-Duo Blue erinnert? Vor knapp 30 Jahren debütierten Chris Mann und Paul Darking auf Sabres Of Paradise, dem Label von Andrew Weatherall.

Geprägt von den Rave-Sommern zuvor, probierten die beiden zunächst mal einiges aus – zwischen Acid, Rave-Stabs, House, Dub und frühem Progressive-Sound konnten sich Blue zunächst nicht so recht entscheiden. Es hätte vielleicht auch so etwas wie die Stadion-Raver Leftfield aus ihnen werden können. Doch dann entschieden sie sich doch zunehmend für Dub und Soundscapes zwischen Ambient, Downtempo, IDM und ein bisschen Industrial. Inzwischen waren sie bei Weatheralls neuem Label Emissions Audio Output unter Vertrag. Zum Jahrtausendwechsel verschwanden Blue einfach. Weg waren sie.

Doch da sind drei Typen aus Belgien, Kong, Floris Machiels und Jan Machiels. Die verbindet eine sympathische Schrulle. Wie eingangs erwähnt, können sie an keiner Plattenkiste einfach mal vorbeigehen. Kong ist unter anderem DJ im Brüsseler Club C12, die Brüder Machiels legen unter dem Namen Hill Men auf, außerdem haben sie das Lucid Festival ins Leben gerufen. Zu dritt betreiben sie seit Anfang 2021 das Label Souvenirs From Imaginary Cities, zwei Platten sind bisher erschienen, auffällig sind alleine schon die von Floris Machiels gestalteten Cover. Nach einer Platte vom jahrelang verschollenen belgischen Techno-Pionier Eggermont (unter dem Pseudonym Mantris) kommt auf Souvenirs From Imaginary Cities nun also ein Album von Blue.

Neues Material haben Chris Mann und Paul Darking nicht eingespielt, aber die beiden hatten noch allerhand DATs in irgendwelchen Schubladen herumliegen. Aus unveröffentlichten Tracks, die zwischen 1997 und 2001 aufgenommen wurden, wurde im Laufe dieses Jahres ein irre klangmächtiges Ambient-Album, das immer mal wieder mit Dub oder Industrial flirtet. Hier und da werfen Blue einen kurzen, ganz flüchtigen Blick zurück auf die Rave-90s. Insgesamt ist das Blue-Verständnis von Ambient ein ziemlich bildhaftes. Exemplarisch dafür steht „Miners”, der letzte Track des Albums. Zunächst hört man Sounds, die an Bergleute, die unter Tage fahren, denken lassen. Irgendwann taucht eine reichlich melancholische Melodie auf, vielleicht ein Bergarbeiter-Lied? Wie auch immer, mit The Path of Least Resistance Meets the Point of No Return haben Chris Mann und Paul Darking aus zwei Jahrzehnte alten Archiv-DATs ein bemerkenswertes Ambient-Album erschaffen. Holger Klein

Byron the Aquarius – The New Beginning (Shall Not Fade)

Byron the Aquarius – The New Beginning (Shall Not Fade)

House an Jazz an Hip-Hop-Beats – Byron the Aquarius alias Byron Blaylock verliert sich in Genreerkundungen. Wie auch schon bei vorherigen Veröffentlichungen orientiert sich der Produzent aus Alabama bei seinem aktuellen Album The New Beginning nicht an klaren Grenzen, sondern an organischen Verbindungen unterschiedlicher Sounds. Weniger um Kontrast geht es Blaylock als um das ergänzende Zusammenspiel der Musikrichtungen, auch von akustischen sowie elektronischen Klängen, eine Art musikalische Symbiose sozusagen. Besonders geschmeidig klingt das durch die eher dezente Lo-Fi-Ästhetik, aus der kein Piano-Geklimper zu exzentrisch und kein Bass zu kaltherzig ausbricht.

Stattdessen schippert Blaylock federleicht durch seine sanften Genremischungen, wo beispielsweise in „Distant Lands” der treibende Rhythmus nicht ohne das auflockernde Glockenspiel kann. An anderer Stelle, in „Cosmic Dub”, verschmilzt weicher Lounge Jazz mit einem fast spröden Beat. Dementgegen schreiben sich Tracks wie „Universal Insanity” mit dessen sich überschlagendem Schlagzeugrhythmus und zappelnder Bassgitarre fast vollständig dem Jazz zu. Elektronische Klänge dienen da nur zu Anfang als Accessoire. Wie eine Art Gegenpol kommt „The End Of The World” daher. Im Modus der elektronischen Spielzeugkiste ist der House-Track mit ordentlich Synth-Geblubber, diesigen Pads und eklektisch eingesetzten Perkussionen angereichert. Mal hier, mal da und immer irgendwo dazwischen lässt Blaylock auf The New Beginning verschiedene Genres sich gegenseitig aneinanderschmiegen, die nicht spektakulär kollidieren, sondern sich im Kuschelkurs gegenseitig ergänzen. Louisa Neitz

Chrissy – Physical Release (Hooversound)

Chrissy – Physical Release (Hooversound)

Chrissy alias Chrissy Murderbot gilt nicht umsonst als lebendige Dance-Musik-Enzyklopädie. Von Soul zu Disco über House zu Techno, Breakbeat und Artverwandten wie Bass oder Juke gibts es kein Genre, zu dem er einem nichts Fundiertes erzählen könnte. Ähnliche eklektisch ist denn auch seine Diskografie, die unter zahlreichen Pseudonymen von, klar, Disco zu House zu Techno oder auch grimmiger Bass Music reicht.

Für Sherelles und Nainas Label Hooversound hat er nun Früh-Neunziger-Rave auf dem Kieker, jene genreübergreifende Zeit also, als auf dem Dancefloor in einer Nacht von House zu Techno bis Breakbeat alles ging und eine weite, sonnige Zukunft frei von Vorurteilen für einen kurzen Moment möglich erschien.

Und diese Diversität liegt Chrissy natürlich ausgesprochen, sodass er hier eine gekonnte musikalische Hommage an jene Zeit abliefert. Die reicht von Mid-Tempo-House-Tracks, durchkreuzt von Four Hero ins Gedächtnis rufenden, sanften Synth-Flächen, bis zu pianoseligen Breakbeat-Krachern und hyperenergetischen Reese-Bass-Ravebomben. Party wird dabei immer groß geschrieben, und von Langeweile ist wirklich keinerlei Spur. Top Tanz-Album also, und gleichzeitig eine kleine Geschichtsstunde. Was kann man mehr verlangen? Tim Lorenz

Dax J – Utopian Surrealism (Monnom Black)

Dax J – Utopian Surrealism (Monnom Black)

Der Brite Dax Heddon alias Dax J kommt ja eigentlich aus dem Drum’n’Bass. Das ist auch weiter erstmal nicht verwunderlich, hatte der getrieben-gebrochene Beat im London der späten 90er schließlich Hochkonjunktur. Interessanter ist dann aber, wie raffiniert sich diese genretypisch dunkle Energie später auf seinen Techno übertragen hat. Auf all seinen Veröffentlichungen gibt es da diese unverwechselbare Handschrift. Der Wahlberliner schafft es in seinen Produktionen, wie auch in seinen mittlerweile legendären Sets als DJ, verspielte, sensible Klänge auf marschierendem Peaktime-Gewummer überleben zu lassen. Aber so richtig vorstellen muss man Dax J ja eigentlich auch nicht mehr. Mit seinem Label Monnom Black und dessen prominenten Auskopplungen, etwa von I Hate Models, ist er eh in der obersten Riege der internationalen Szene angekommen.

Das jetzt erscheinende Utopian Surrealism ist sein drittes Studioalbum. Mit ungeheurer Wucht werden hier quirlige, verträumte Sounds durch untröstliche Kicks nach vorne gepeitscht. Egal, ob im Acid-Gewand wie „Industrial Cyber Technologies”,  „None The Wiser” als atemberaubendes Bass-Abenteuer oder der einfach wunderschöne verspulte Titeltrack – das Zuhören macht riesigen Spaß. Es dürfte daher nur eine Frage kurzer Zeit sein, bis sich diese großartigen Tunes auf sämtlichen Dancefloors der Welt ausgebreitet haben. Lucas Hösel

Eris Drew – Quivering in Time (T4T LUV NRG)

Eris Drew – Quivering in Time (T4T LUV NRG)

Seit 2019 haben Eris Drew und Octo Octa nicht nur eine gemeinsame Partnerschaft, sondern betreiben auch das Label T4T LUV NRG. Dort haben beide bereits veröffentlicht, nun legt Eris Drew darauf ihr erstes Album vor. Keiner der neun Tracks klingt so, als wäre er bloß im Computer entstanden. Stattdessen spiegeln die Stücke die Platten-Verliebtheit Drews wider. Überall fliegen die Samples und Sounds nur so, stehen die klassischen Drumbreaks im Vordergrund und versprühen die locker fröhliche Atmosphäre der Tage von Hip House.

Und das, obwohl Eris Drew, ursprünglich aus der House-Wiege Chicago, sich für die Produktion in ein kleines Häuschen im Wald zurückgezogen hat. Den Spirit der Housemusik schafft sie aber auch von dort umzusetzen. Mit eindringlichen Basslines, perkussiven Breakbeat-Samples, Scratching-Akrobatik und von Hand eingespielten Melodien auf dem Keyboard. Auch wenn einige wenige Tracks in der zweiten Hälfte des Albums den Dancefloor nur noch als Referenz nutzen, ist Quivering in Time dennoch ein eindeutiger Aufruf zum Tanzen. Der ansteckende Charme ist omnipräsent, genauso wie Drews Message einer heilenden Wirkung von rituellem Tanz, psychedelischer Erfahrung und dem Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Leopold Hutter

Herbert – Musca (Accidental)

Herbert – Musca (Accidental)

Vor Kurzem sinnierte Matthew Herbert noch im Dokumentarfilm A Symphony of Noise über seine musikalische Praxis während der letzten zehn Jahre darüber, dass er mit jeder gepressten Platte an der Zerstörung dieses Planeten teilhat, nun also veröffentlicht er eine Doppel-LP in verschiedenen Farbvarianten. Lässt sich das rechtfertigen? Das ist zugleich die richtige und doch die falsche Frage.

Richtig ist sie, weil sie sich an einen Menschen richtet, der noch im vergangenen Jahr seine Habilitationsschrift zu den ethischen Implikationen von musikalischer Komposition ablieferte, genauso aber eine große Reissue-Kampagne anlässlich des 21. Geburtstags seines Labels lanciert und auch sein neues Album Musca in einen politischen Kontext rückt, wobei er explizit die Klimakrise als einen Themenschwerpunkt nennt. Das ist ein Widerspruch, der nicht zu leugnen ist.

Die Falsche ist es, weil sie die Verantwortlichkeit für globale Prozesse bei einer Einzelperson suchen würde und moralische Integrität dort verlangt, wo politisches Versagen integres Handeln verunmöglicht. Was wiederum ein Motiv ist, das sich als roter Faden durch Herberts Schaffen zieht. Ob er wie auf One Pig den Lebenslauf eines Schweins dokumentierte, eine „Brexit-Big-Band” zusammenstellte oder Bombenexplosionen als Sample-Grundlage nahm: Herbert betreibt eine Art consciousness raising durch Sound, das strukturelle Übel exemplarisch vorführt, und führt uns die uns prägenden Widersprüche vor.

Musca scheint ohrenscheinlich mit einem solchen Ansatz zuerst nichts zu tun haben. Als dritter Teil seiner losen Serie von „domestic house”-Alben steht es in der Nachfolge der just wieder neu aufgelegten Around the House und Bodily Functions aus den Jahren 1998 und 2001 und bietet genau das, was dieses Etikett verspricht: Schwoofigen, meist durch generösen Vocal-Einsatz in Song-Nähe gerückten Zuhausehör-House, der mit den buttrigsten Basslines diesseits von The Other People Place und Moodymann latente Sonntagmorgenlaune verströmt. Hier schleichen sich balladeske Töne ein, dort geht es deutlich Richtung R’n’B, und zwischendurch ergeht sich Herbert sogar in UK-Garage-Referenzen. Es wird, kurz gesagt, über die 14 sich über satte 75 Minuten erstreckenden Songs hinweg nicht langweilig, sondern immer nur schöner.

Auch da ließe sich einhaken und fragen, ob ein dermaßen erbauliches Statement angesichts all der langsam ablaufenden Katastrophen um uns herum nicht zynisch wirkt: Junge, die Welt brennt, und du hast Bock auf Tanzen? Aber ja, hat er, haben alle anderen doch ehrlich gestanden auch. Und es ist ja nicht nur Herbert, der hier Gude Laune™ versprüht wie ein havarierter Tanker seine Ladung Öl, sondern auch Sängerinnen (Allie Armstrong, Bianca Rose, Daisy Godfrey, Joy Morgan, Mel Uye-Parker, Siân Roseanna, Verushka und Y’akoto) und eine Reihe von Gastmusiker*innen (Cevanne Horrocks-Hopayian, Finn Peters, Leo Taylor, Nick Ramm, Tom Herbert und Tom Skinner), die sich aus der Ferne und ohne Herbert jemals im Realraum getroffenen zu haben einbringen.

Musca ist dementsprechend kein Autoren-House-Album, sondern ein Gemeinschaftswerk, das unter erschwerten Bedingungen kollektive Prozesse neu denken sollte. Zugegeben: Das haben in den vergangenen anderthalb Jahren andere auch, und manche gestalteten das noch partizipativer und bisweilen innovativer. Aber Herbert leugnet im Begleitschreiben zum Album nicht, dass neben dem „optimism that an alternative way of organising ourselves is possible” noch jede Menge „anger and gloom that we’re not there yet” übrig blieb. Dass selbst das schöne Miteinander im kleinen Rahmen die großen Übel nicht vergessen machen konnte.Wer also Musca als falsches Signal zur eigentlich richtigen Zeit für Ansagen empfindet, hat damit völlig Recht. Wer es als freundlich-fröhlichen, meisterhaft produzierten und stimmig arrangierten Ansporn nimmt, mit etwas mehr Hoffnung in die Zukunft zu blicken, allerdings auch. Typisch Herbert eben: Mit ungemein leichtfüßiger Musik schwer auflösbare Widersprüche transparent zu machen. Kristoffer Cornils

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