Das NNOI-Festival bei Nacht (Foto: NNOI)
Musik ohne Autorität, ohne Codes, ohne Regeln. Oder, wie es der US-amerikanische Komponist Alvin Curran nennt: „The New Common Practice” – eine absolut freie, für jede Art von Klang offene Musikpraxis. Solche Ansätze geben auf dem mittlerweile sechsten NNOI Festival im Landkreis Oberhavel, circa 70 Kilometer nördlich von Berlin, schon immer den Ton an. Unser Autor Michael Leuffen hat sich vom nicht definierbaren NNOI-Kosmos treiben lassen. Dieser fängt bei filigranen, stets abwechslungsreich getrommelten Rhythmen, die mit organischem Groove in Einklang mit der sommerlichen Natur tanzen, an und hört bei der szenischen Darstellung von Zombies und Schneewittchen, die eine packend frische Kapitalismuskritik inklusive Disney-Soundsamples offenbaren, längst nicht auf.
Eskapismus, Hedonismus, Rave – wer hemmungslose, repetitive Dance-Euphorie sucht, ist auf dem NOII fehl am Platz. Hier wird mit Musik gefordert und nicht bloß reines Vergnügen gestiftet. Für neue Horizonte jenseits der Konventionen. Und das alles in kleinem Rahmen auf einer Wiese am Waldesrand gegenüber der alten Zernikower Mühle in der Nähe von Stechlin am Rand der Uckermark. Wer ein Ticket kauft, bekommt vegane Verpflegung inklusive und kann auch gleich sein bzw. ihr Zelt aufschlagen. Ein Service, der nicht für die Masse ausgelegt ist. Die würde ohnehin am Sound verzweifeln, denn kaum einer der 2021 spielenden Künstler*innen präsentierte vorhersehbares, an Stereotypen orientiertes Klangmaterial.
Am ehesten vielleicht Rashad Becker, der am Freitag ein DJ Set spielte, das dunkel designten Ambient präsentierte und zuweilen leicht einpeitschte. Zuvor war die Weltpremiere des Experimentalfilms Die Versuche des Naum Kotik des Regisseurs Kärma Burg zu sehen, dessen Stimmung mitunter an die Filme des berühmten tschechischen Surrealisten Jan Švankmajer erinnerte. Der deutsche Holzbläser und Komponist Theo Nabicht hatte bereits vor der Vorstellung mit überraschenden Kontrabassklarinettenklängen für Chiaroscuro-Suspense inmitten der Natur gesorgt.
Am Samstag verzückte dann zunächst die Kölner Autorin, DJ und Dozentin Waltraud Blischke, die gemeinsam mit der Stimm-Künstlerin Elisa Kühnl einen faszinierenden, mit bewegenden Klangbeispielen untermalten Vortrag zur Stimme und ihren diversen kulturellen Ausdrucksweisen abhielt. Anschließend versetzten der in Edinburgh lebende Komponist Marcin Pietruszewski und der Österreicher Oswald Berthold mit nervösen Elektronik-Sounds in einen zur Sanftheit der Natur kontrapunktisch stehenden Verwirrungszustand, der schwer herausforderte.
Das darauffolgende Konzert des in Berlin lebenden iranischen Tombak- und Daf-Spielers Mohammad Reza Mortazavi besänftige das Publikum wieder durch filigrane, stets abwechslungsreich getrommelte Rhythmen, die mit organischem Groove im Einklang mit der sommerlichen Natur tanzten. Es folgte eine mit elektronischen Effekten versehene Jodel-Performance der in Kreuzberg ansässigen Jodellehrerin Doreen Kutzke, die flüchtig die vokale Zauberkunst der frühen Meredith Monk ins Gedächtnis rief. Leider musste der Autor dieser Zeilen nach ihrer Show dem Festival bereits den Rücken kehren. Um dennoch zu erfahren, was noch alles in der Samstagnacht geschah, bat er Waltraud Blischke um einen kleinen Bericht.
Aus diesem geheimnisvollen Etwas erhob sich DJ Schlucht zum Abschluss als erhabene GrößE für sensitive Dancefloors mit tonalen Brüchen durch die ganze Nacht.
Folgende Sätze fanden sich einige Tage später in der Mailbox: „Nach Doreen Kutzke, die seit ihrer Kindheit jodelt und auch zuvor schon mit ihrer Stimme den jeweiligen Festivaltag einläutete, entfaltete sich ein besonderes Live-Set im Dreiergespann und im Wechsel mit Nicolas Wiese, Heidrun Schramm und JD Zazie. Geräuschaufnahmen, harmonisches Flirren mit verschiedenen (Radio-)Wellen aus verschiedenen Geräten, Laptops und DJ-Besteck summierte sich immer wieder in ein aufregendes Geflecht mit Querverbindungen, als übe hier ein ganz besonderes Ensemble seine Chorstimmen ein.
Einer ganz anderen Sprache bediente sich dann der Hamburger Musiker und Walter-Ulbricht-Schallfolien-Labelbetreiber Uli Rehberg alias Ditterich von Euler-Donnersperg als der Sachverwalter in der Umsetzung der Klangschrift seines seit 1987 aktiven Projekts Werkbund: Unsichtbar hinter der Bühne spielte er nur leicht verfremdete Werkbund-Musik, während auf der Wiese vor der Bühne ein Schauspieler in einem Ruderboot paddelte. Mit bloßer Geste ruderte er dahin, ein Urtyp von Mann mit langem weißem Haar bis ins Gesicht, im Kahn auf dem Wiesengrund des Festivals, nur die Hüften mit Stoff umwickelt, der Ewigkeit gleichförmig entgegen, mal von links, mal von rechts rudernd mit dem Holzpaddel, nicht ganz synchron zu essenziellen Werkbund-Klangpassagen, die stets mit einem wiederkehrenden Loop eingeleitet wurden.
Die Dauer dieser Werkbund-Abschiedsperformance dauerte im wahrsten Sinne, hinter mir rief lachend ein Zuschauer: „Das Boot ist voll!” Kann man machen. Diese Spannung lösen konnte die puristische, aber nicht minder expressive Stimm-Performance der Künstlerin Elisa Kühnl, Mitglied des Bandkollektivs Nassau: ein experimenteller Shriek- und Schreigesang nahe am Modulationsformat elektronischer Spielwiesen in völliger Dunkelheit, der angrenzende Wald als Klangraum in seiner höchsten Daseinsform. Aus diesem geheimnisvollen Etwas erhob sich DJ Schlucht zum Abschluss als erhabene Größe für sensitive Dancefloors mit tonalen Brüchen durch die ganze Nacht.”
Dieser Darstellung ist nur noch hinzuzufügen, dass weitere Quellen über ein sensationelles Theaterstück von Isa Hager aus Wien berichteten. Laut DJ Schlucht und der Produzentin Wilted Woman offenbarte die am Sonntag aufgeführte szenische Darstellung über Zombies und Schneewittchen eine packend frische Kapitalismuskritik inklusive Disney-Soundsamples. Sie addierte zudem eine weitere Facette zum nicht definierbaren NNOI-Kosmos, dessen erhellende Wirkungskraft noch lange nach dem letzten Zeckenbiss unter die Haut geht.