Wolfgang Tillmans im Jahr 2017 auf dem „Eclipse self portrait” (Foto: Wolfgang Tillmans)
Wolfgang Tillmans wurde in den 1990er-Jahren mit seinen Fotos vom Nachtleben, von queeren Zusammenhängen und alternativen Lebensentwürfen bekannt. Dabei hat er sich aber nie auf bestimmte Themen und Formate beschränkt. Seit 2016 produziert Tillmans auch Musik. Überraschenderweise sind seine musikalischen Arbeiten in einem regelmässigen zweijährigen Turnus erschienen. Im letzten Zyklus im Jahr 2020 ist unter anderem „Can’t Escape Into Space” entstanden, ein sphärischer Synth-Pop-Song mit einem treibenden, dunklen Wave-Anstrich.
Die interdisziplinäre Künstlerin, nicht-binäre Inspiration und Star-DJ Honey Dijon verarbeitet den nachdenklichen Track zu einem upliftenden „Euphoria Remix” für den Tanzboden. Wir präsentieren das Video zu diesem Mix, das Tillmans selbst produziert hat.
Tillmans hat vergleichsweise wenige Musikvideos gedreht, unter denen einen Clip zu dem Song „Home & Dry” der Pet Shop Boys von 2002, in dem sich Ratten in der Londoner U-Bahn tümmeln. Auch das Original von „Can’t Escape Into Space” hat er selbst visualisiert. In dem ursprünglichen Musikvideo zeigt er verschiedene Perspektiven auf die Ampel-farbigen Lichter einer Discokugel, die sich in einem menschenleeren Raum langsam dreht und das lebendige Farbenspiel mit einem Gefühl von Einsamkeit verbindet.
Zu Beginn der audiovisuellen Remix-Reise sieht man schwarz und ist, ähnlich wie Mutterleib, nur auf das Hören angewiesen. Im nächsten Takt zeigt er eine moderne High-Tech-Lichtanlage, die mit einem schwebenden Rave-Raumschiff assoziiert werden kann und das Gedächtnis von unbeschwerten Clubnächten auffrischt. Zugleich zeigt die Maschine einen schillernden Regenbogenverlauf. Hier wird das Originalvideo zitiert und der Bezug zur queeren Identität unterstrichen, die für Honey Dijon ebenso essentiell ist wie für Tillmans.
Ungewiss und dennoch dominant dröhnt ein Acid-Bass, der von der elektronisch veränderten Stimme Tillmanns abgelöst wird. Mit einsetzender Kick werden wir im nächsten Bild auf ein erdähnliches Territorium geführt. Am Sandstrand tritt eine Person in ihre eigenen Fußstapfen – was möglich ist, weil der Film rückwärts läuft. Dennoch gibt sie zusammen mit der Musik eine klare, bestimmte Richtung vor. Zu einzelnen Silben von Tillmans’ Gesang landen wir auf einem blubbernden Erdbeermarmeladen-Planeten, der sich dem wabernden Rhythmus anpasst. In einem übernatürlich polyphonen Höhepunkt und kicklosen Übergang blicken wir in heranfahrende Scheinwerfer. Wir erfahren nicht, ob das Licht oder Erleuchtung ist, denn dann setzt der Bass ein und die rot köchelnden Gefilde sind wieder da. Die Füße laufen dann in eine andere Richtung, verschiedene disharmonische Pads überlappen einander. Honey Dijon kann nicht nah genug ran an die Extase – Tillmans setzt dagegen auf subtile Metaphoriken und emotionalen Nachhall.