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April 2021: Album des Monats

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Andy Stott – Never The Right Time (Modern Love)

Im Techno-Zusammenhang waren die Zehnerjahre die Dekade der Dekonstruktion. Die in dutzende Genres und Subgenres verästelte Clubmusik wurde von einer neuen Künstler*innen-Generation kurz und klein gesägt und wieder zusammengeleimt, ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten und gewachsene Traditionen. Zu Beginn der 20er hat sich diese sogenannte Deconstructed Club Music als neuer Standard etabliert. Künstler*innen, die nicht nur Genre-, sondern wie Arca oder SOPHIE auch Geschlechterzuschreibungen hinter sich gelassen haben, zählen heute zu den wichtigsten Produzent*innen der elektronischen Musik.


„Stück für Stück hat sich Stott in seinem Forschungsdrang die sonischen Ausdrucksformen der Clubmusik vorgenommen und in seinem Sinne rekontextualisiert.”


Immer ein wenig abseits des Scheinwerferlichts stand da der Brite Andy Stott. Er hat in den letzten zehn Jahren sein eigenes Projekt der Dekonstruktion von Clubmusik verfolgt. Das steht weniger im Zeichen freier Assoziation, sondern einer äußerst eigenwilligen und trotzdem zugänglichen Ästhetik. Die ist cineastisch geprägt in ihren oft weitläufigen Spannungsbögen, spiegelt in ihrer Brachialität den (post-)industriellen Charakter von Stotts Heimatstadt Manchester und zeichnet sich durch eine perfektionistische Produktion aus. Nicht die radikale Verschnipselung von Sounds wird hier verlangt, sondern deren sorgsames Sezieren und Neuarrangieren.

2011 erschienen mit den EPs Passed Me By und We Stay Together die ersten beiden Platten dieses Projekts, das sich seither auch äußerlich durch ikonische Schwarz-Weiß-Cover-Fotografien einheitlich präsentiert. Auf ihnen löste sich Stott vom Dub-Techno seiner ersten Veröffentlichungen und widmete sich rauen, düsteren Soundcollagen. Das im Jahr darauf erschienene Album Luxury Problems ging noch weiter und bestimmte die weitere Ausrichtung der Reihe: Eine gewaltige atmosphärische Tiefe, die volle Auslastung von Frequenzbreiten und der glockenhelle Gesang von Stotts ehemaliger Klavierlehrerin Alison Skidmore sind seither ihre Grundelemente.

Stück für Stück hat sich Stott in seinem Forschungsdrang die sonischen Ausdrucksformen der Clubmusik vorgenommen und in seinem Sinne rekontextualisiert. Was bei „Violence” 2014 die höllisch kratzenden Subbässe und bei „0L9” 2019 die Safri-Duo-esken Drumsounds waren, sind auf seinem neuen Album die Synth-Orgelpfeifen zum Einstieg von „Repetitive Strain”: Einsprengsel, die man assoziativ ganz anders verorten würde, und die gerade deshalb in ihrer neuen Umgebung so wohlig überraschen. Dabei sind Stotts Kompositionen immer dort besonders stark, wo das Ruhige, Gleitende und Schwebende durch brachiale Sounds durchbrochen wird. Und auch wenn das kontrastreiche Spiel von Breakbeats und sanften Synths im Titelstück „Never The Right Time” an Jon Hopkins erinnert, es findet in einem ganz eigenen Kosmos statt.


„Das erinnert auch mal an Badalamentis Twin-Peaks-Soundtrack, mal an Darkside oder an Junior Boys, und doch ist es auf seine Art völlig eigenständig, Teil eines dekonstruktivistischen Projekts, das jetzt sein Ende gefunden haben könnte.”


Die cineastische Atmosphäre von Stotts Musik kommt auf Never The Right Time ganz besonders zum Tragen. Etwa wenn zum Opener „Away Not Gone” zwischen den im Raum schwingenden Saiten verhallte Blasinstrumente durchdringen, bevor alles von warmen Synthesizern aufgefangen wird. Oder wenn „Dove Stone” in ausholendem Jaulen eine Szenerie aufbaut, die perfekt einer langsamen Kamerafahrt in eine dunkle 80er-Jahre-Sci-Fi-Dystopie entspricht. Dabei führen diese beiden Stücke gleichzeitig auch vor, wie die Stimmung beinah unbemerkt von dunkel-bedrohlich zu wohlig-sanft wechseln kann.

Das ist Stotts Gespür für die richtige Balance zwischen elektronischen und organischen Sounds zu verdanken. Mehr als je zuvor gesellen sich bei ihm nun Gitarre, Bass, Drums und Bläser zu den glitchenden Beats und den schwirrenden Synthesizern. Das erinnert auch mal an Badalamentis Twin-Peaks-Soundtrack, mal an Darkside oder an Junior Boys, und doch ist es auf seine Art völlig eigenständig, Teil eines dekonstruktivistischen Projekts, das jetzt sein Ende gefunden haben könnte. „A 10 year cycle, complete.” So heißt es im Promotext. Was wohl die 20er Jahre bringen werden? Steffen Kolberg

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