Calibre & DRS v Mark Ernestus – Bad/Badder (Hard Wax)
Auch wenn sich Calibre in gut 20 Jahren Produzenten-Dasein noch nie selbst hat remixen lassen. Wenn Dub-Techno-Pionier und Hard-Wax-Altmeister Mark Ernestus anklopft, um sich an einem der neuen Album-Tracks zu bedienen und daraus eine „Rekonstruktion” zu basteln, wird selbst Calibre weich, der sich selbst zu den Fans und Sammlern von Ernestus’ und Moritz von Oswalds Platten zählt.
Auf dem Original „Badman” rappt Calibres Langzeit-Kollaborateur MC DRS mit der ihm angestammten Coolness über Dub-geschwängerte Synthschwaden, die in Ernestus’ Versionen natürlich erhalten bleiben. In diesem im Dub-Echo zerfließenden Klangraum schweben die Fragmente von DRS’ Stimme nur noch hülsenhaft, die Perkussion ist ebenfalls auf ein Minimum reduziert, während der Subbass nun im Zentrum der Tracks steht und alles unaufhaltsam vor sich schiebt. Genau die Art von Track eben, die ein richtiges Dub-Soundsystem erst physisch erfahrbar macht und die anhaltende Faszination von Dub ohne Worte erklären kann. Eine mehr als gelungene Rekonstruktion, die ihr separates Release auf Vinyl mehr als verdient hat. Leopold Hutter
CVBox – TeqNoTv (Uncanny Valley)
Im Nadelwald raschelt es, CVBox ist zurück! Als Wurzelsepp, zwischen Fichten und Zedern, hatte er sich die letzten Jahre im Uncanny Valley verzogen. Jetzt ist der Bart ab und die 707 verstöpselt, schon mahlen die Kiefer schneller als man TeqNoTv buchstabieren kann. Der sächsische Naturbursche mit Hang zu Acid aus dem Unterholz planscht für seine neue Platte auf dem Dresdner Paradelabel im Zaubertrank. Schmatz, schlürf, „Vio line” schmeckt so, als hätten sich Tin Man und Recondite auf einer abgelegenen Lichtung im Moos ihre Körper mit zwei Zungen verknotet. Die 303 schmirgelt am Anschlag, geht aber gleich in einem Wasserfall aus Synthesizer-Harmonien auf, bei denen man zur privaten Afterhour-Session noch mal in die Smarties-Box grapscht. Der Stoff ist Liebe, der Vibe „Super 78”. Und die Sächsische Schweiz klappert rum wie Motown ‘95. Wer sich auf die B-Seite verirrt, schlüpft mit Alice durch den Kaninchenbau. „Total CV” ist Pisse in den Augen, weil der Comedown zum Sonnenaufgang gefühlt fünf Jahre her ist. „ON/OFF (Autoether)” die wertschätzende Umarmung nach zwei Stunden Laberflash auf Wolke Dub. Keine Frage, hier will jemand wieder Fichtennadeln am Dancefloor einsammeln! Christoph Benkeser
Masha Motive – The Imponderable Bloom (Voitax)
The Imponderable Bloom markiert die erste Solo-Veröffentlichung von Voitax-Mitbetreiber Christoph Siegert alias Masha Motive. Die Eckdaten der EP heißen Jungle, Dubstep und Downtempo, und Siegert gelingt es, daraus eine hörenswerte und persönliche Verschmelzung zu generieren. Dabei tappt er nicht in die Hysterie-Falle wie etliche Kolleg*innen in diesem Segment, und verzichtet glücklicherweise auch auf sonisches Glutamat, auf das übertriebene Herausstellen studiotechnischer Skills, das so viele Produktionen aus dem Bass-Music-Bereich verdirbt und nach Blockbuster-Soundtrack klingen lässt. Genauso wenig gebärdet er sich als strenger Vertreter der reinen Lehre, die Stücke lassen Luft für unangestrengte, kurze Ausflüge in andere Genres und bleiben dabei immer in sich geschlossen, immer stimmig. Allen Tracks ist zudem ein lässig-eleganter Flow gemeinsam, ein filigraner Funk, der aus dem gelungenen Verschmelzen nach vorne strebender Jungle-Elemente und zurückgelehnter Schwere der Dubstep-Gene der Tracks entsteht.
Leser*innen, die diese Rubrik als Empfehlung schätzen und sich die hier besprochenen Veröffentlichungen im Netz oder (in coronavirusfreien Zeiten) im Plattenladen anhören, möchte der Autor dieser Zeilen übrigens empfehlen, das Durchhören mit der B-Seite zu beginnen, denn dort spielt Masha Motive seine musikalische Raffinesse am gekonntesten aus. Der durch die umgedrehte Reihenfolge entstehende Flow betont darüber hinaus die Eigenheiten der EP stärker und lässt ein noch komplexeres Bild von Christoph Siegerts Solo-Debüt entstehen. Mathias Schaffhäuser
Norm Talley, Moodymann, Omar-S, D’Julz – Det-313-EP (Upstairs Asylum)
„Black music purists accused Moroder of chlorinating the black sound. American writer Nelson George said it was ‘perfect for folks with no sense of rhythm’.” Irgendwann war alles einmal Electronic Disco. Davor war alles einmal Phillysoul. Davor war irgendwann einmal alles Motown. Davor war alles panafrikanische Informations-Technologie wie Makossa, Highlife oder Zouk. In den 1990er Jahren gab es auch englischen XTC-House. Es gab UK-Garage und The Paris Network. Über die 3rd-Record- und nomadische Dancefloor-Kultur von Disco und House Music schrieb Hillegonda C. Rietveld von Quando Quango. Davor und währenddessen gab es immer wieder die elektronische
Detroit-Techno-“Disco”. The Belleville Three 1981: Darauf und auf noch viel, viel mehr bezieht sich die Klangästhetik der Det-313-EP. Die Produzenten-Musiker Norm Talley, Moodymann und Omar-S brauchen keine Vorstellung. Es ist Detroits erste, zweite und dritte Generation Techno. „Muggy Detroit Heat” fängt deshalb auch als bereinigte Sharevari-A-Number-of-Names-Moroder-Kraftwerk-Reminiszenz an und driftet dann deeper im klassisch-maschinellen 909-Loop in panische Triolen-Synkopen ab. Die Stärke von Detroit ist immer noch die radikale Reinigung des Signals, die Freistellung des Sound-Artefakts oder der Dirtyness? Bei guten Detroiter Nummern ist man sich nie ganz sicher. Das ist die alte wohltuende Rolltreppe nach oben und/oder unten. Wahnsinn! Die Loop- Metrik-Geister hörbar zu machen, das können die Drei. „Jus Hangin” rattert als Detroit-Step-Deep-House at its best und State-of-the-Art-Soul in die Kopfhörer. Schade eigentlich, dass Santonio nicht mit an Bord ist. Mirko Hecktor
Hörbeispiele findet ihr auf den Seiten der einschlägigen Stores.
Paradox – Octa4 (Sneaker Social Club)
Dev Pandya alias Paradox gehört zur ersten Generation der Jungle-Veteran*innen. Auf Labels wie Moving Shadow oder Reinforced prägte er das damals noch junge Genre maßgeblich mit — und tut es heute noch. Die hyperpräzise Ausproduktion einzelner Drumbreaks war dabei schon immer seine Stärke und schafft es auch 20 Jahre später, die alte Formel wieder frisch klingen zu lassen. Seine Herangehensweise reduziert die Drums aufs Wesentliche und ist auch auf der 12” für Sneaker Social Club präsent. Hier schieben tiefe Roller-Basslines die Tracks langsam, aber bestimmt vor sich her, während den locker arrangierten Drumbreaks besonders viel Raum gelassen wird. Diesen haucht Paradox dann mit künstlerischer Genauigkeit solche Lebenskraft ein, dass man sich wähnt, einem echten Schlagzeuger zuzuhören.
Weiteres Merkmal einer Paradox-Platte ist die dichte Atmosphäre, durch die seine Breaks stets zu gleiten scheinen, um selbst die abstraktesten Rhythmus-Konstruktionen weich einzubetten. „Octa4” arbeitet mit Ragga-MC-Sample und kurzzeitigen Anflügen klassischer Reese-Bässe um den Schatten der Oldschool-Jungle-Ära heraufzubeschwören. „Proceed” dagegen knüpft mit dubbigen Synthschwaden, die durch das Stereofeld wandern, eher an ein technoid-futuristisches Ambiente an und wirkt mit seiner abgeklärten Frauenstimme deutlich kühler. Ein gelungener Gegenentwurf,der die Platte besonders rund wirken lässt. Leopold Hutter