Ausriss aus dem „Täter an den Decks”-Feature in frohfroh (Foto: Screenshot)

Die Enthüllungen um Erick Morillo und Derrick May prägten die Szene im vergangenen Jahr wie sonst nur die Coronakrise. Dass DJs über Jahrzehnte sexuelle Gewalt auf Frauen ausüben und die Verbrechen über diesen Zeitraum geheim halten konnten, war ein enormer Schock. Brutaler konnte das Selbstbild des Nachtlebens als Safe Space kaum in Frage gestellt werden. Allerdings befassen sich die Medien bis heute hauptsächlich mit diesen beiden Stars. Dass sexuelle Gewalt nicht nur von einzelnen exponierten Figuren ausgeübt wird, zeigt eine beispiellose Recherche der Leipziger Journalistin und Musikerin Lea Schröder, die bei frohfroh erschienen ist.

In „Täter an den Decks” erzählt Lea Schröder die Geschichte einer Reihe von Frauen, die in der Leipziger Technoszene Opfer sexueller Gewalt wurden. Alle Täter sind DJs. Dass sie in Kollektiven mit einem linkspolitischen und feministischen Anspruch aktiv sind, macht die Vorfälle umso haarsträubender. Mit einem schonungslosen Blick erzählt Schröder von der Grausamkeit der Täter, emphatisch fühlt sie sich in die Opfer ein. Ebenso außergewöhnlich ist die Ausführlichkeit und die Form des Beitrags, der gleichzeitig als Text und als mit verschiedenen Sprecher*innen inszenierter Podcast erschienen ist. All das war Grund für uns, sich bei Lea Schröder zu erkundigen, wie diese Arbeit entstanden ist.


Was hat dich zu deinen Recherchen bewogen?

Anfang 2020 hatte ich in meinem privaten Umfeld von mehreren sexistischen Äußerungen bzw. übergriffigen und grenzüberschreitenden Handlungen von cis-männlichen DJs erfahren, die in Leipzig etabliert sind und regelmäßig auflegen. Diese Erfahrungen – plus einige Situationen mit sexistischen Mikroaggressionen, die ich im Zusammenhang mit meiner Arbeit als DJ selbst erlebt habe – haben mich zu der Idee gebracht, für frohfroh einen Kommentar zu diesem Thema zu schreiben: Einen Kommentar über diejenigen DJs, die sich als feministisch und „links” labeln, von sich als antisexistisch verstehenden Clubs und Kollektiven profitieren und eine Plattform erhalten, aber gleichzeitig durch sexistisches und übergriffiges Verhalten im Gegensatz zu dem nach außen vermittelten Bild von ihnen handeln.

Dass aus dem Kommentar ein umfangreiches Feature über Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt anstatt mit sexistischen Mikroaggressionen werden würde, hatte ich zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht erwartet.

Die Journalistin und Musikerin Lea Schröder (Foto: Sophie Boche)

Wie bist du bei deiner Arbeit vorgegangen?

Im geplanten Kommentar wollte ich meine Meinung mit eigenen Erfahrungen mit besagten Mikroaggressionen und ein paar Erfahrungen anderer Personen bekräftigen. Dafür postete ich einen Instagram-Aufruf mit der Bitte, Erfahrungen mit sexistischen und übergriffigen DJs mit mir zu teilen. Zuvor hatte ich mir noch etliche andere Kanäle überlegt, über die ich den Aufruf teilen wollte – doch als ich die Story gepostet hatte, wurde ich so sehr mit Nachrichten überflutet, dass ich es bei dieser einen Instagram-Story beließ.

Einige teilten ihre Erlebnisse schriftlich oder in Form von Sprachnachrichten mit mir, mit den meisten Personen telefonierte ich ausführlich. Mit Blick auf die Erfahrungen, die mir die Betroffenen anvertrauten, realisierte ich, dass ich das Ausmaß der Gewalt zuvor absolut unterschätzt hatte. Ohne bewusst darüber nachgedacht zu haben, hatte ich vor dem Aufruf erwartet, ausschließlich Erfahrungen mit sexistischen Mikroaggressionen zu hören – aus heutiger Perspektive kann ich nur schwer nachvollziehen, wie ich bis zu diesem Zeitpunkt so naiv sein konnte.

Nach den Gesprächen wurde mir klar, dass der Kommentar über meine Sichtweise und meine eigenen Erfahrungen dem, was mir anvertraut wurde, nicht gerecht werden würde. Deshalb beschloss ich, statt des Kommentars ein Feature zu schreiben, das sich nicht auf sexistische Mikroaggressionen, sondern auf sexualisierte Gewalt und andere extreme Grenzüberschreitungen fokussiert.

Um die Erfahrungen und Perspektiven der betroffenen Personen möglichst eindrücklich zu vermitteln und die vielfältigen Dimensionen der erlebten Gewalt begreifbar zu machen, schrieb ich die Erfahrungen anhand der Berichte als teilweise sehr ausführliche, plastische „Geschichten” auf. Vor der Veröffentlichung schickte ich jeder Person ihren Erfahrungsbericht zur Autorisierung und fragte, ob ich alles korrekt wiedergegeben habe, ob sie mit dem jeweiligen Grad der Anonymisierung einverstanden ist und ob sie sich mit der Veröffentlichung des Berichts wohlfühlt. Im Zuge dessen musste ich ein paar der Berichte entsprechend anpassen.

Meine Arbeit kann zwar sexualisierte Gewalt nicht verhindern, aber zumindest in Hinblick auf den Aspekt des Täterschutzes und des sogenannten Victim-Blamings durch Mitwissende hatte und habe ich den Wunsch, Prozesse anzustoßen, die zu einer Veränderung beitragen. So entschied ich während des Schreibens der Erfahrungsberichte, noch einen konstruktiven Teil mit Vorschlägen für verschiedene Personengruppen anzuschließen, die meiner Ansicht nach zu einer Verbesserung der Situation führen könnten. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt gründete sich im Nebula-Kollektiv – ein Veranstaltungskollektiv, in dem ich aktiv bin – eine Gruppe für kritische Männlichkeit sowie eine AG für interne Awareness. Das ließ ich in die Handlungstipps einfließen.

Besonders wichtig ist mir der Teil, der sich an Betroffene von sexualisierter Gewalt richtet, und die Prozesse rund um die Unterstützung betroffener Personen und Sanktionen für gewaltausübende Personen in einigen Leipziger Clubs thematisiert. Hintergrund dieses Teils ist die Hoffnung, dass das Wissen um die konkreten Abläufe mehr betroffene Menschen dazu motiviert, die Täter gegenüber Clubs zu benennen und Sanktionen für diese zu erwirken.

Was waren die schwierigen Momente bei der Recherche? Was waren die kompliziertesten Entscheidungen, die Du beim Schreiben fällen musstest?

Ehrlich gesagt, war die komplette Arbeit ab dem Zeitpunkt, an dem mir die Erfahrungen anvertraut wurden, ein durchweg schwieriger Moment für mich. Die Menge der Reaktionen auf meinen Aufruf, doch vor allem das Ausmaß der Gewalt in den individuellen Erfahrungen belasteten mich sehr – ich war entsetzt, fassungslos, verstört, wütend. Trotz aller Versuche meine Professionalität in den Gesprächen mit den betroffenen Personen zu wahren, konnte ich meine Erschütterung ihnen gegenüber nicht immer verbergen. Da ich nicht mit derartigen Erlebnissen gerechnet hatte – erst recht nicht in so großer Zahl –, war ich völlig unvorbereitet und brauchte erstmal eine ganze Zeit, das Gehörte für mich selbst emotional zu verarbeiten – zumal mir einige der Täter persönlich bekannt sind.

Außerdem fühlte ich mich von der Thematik überfordert. Ich hatte mich zuvor nie besonders mit sexualisierter Gewalt beschäftigt – weder mit deren Dimensionen und Strukturen, noch mit dem Umgang mit davon Betroffenen. So wurde die Recherche und das Schreiben für mich zum permanenten Lernprozess.

Die schwierigste Entscheidung war die Auswahl der mir anvertrauten Erfahrungen. Nach den Gesprächen hatte ich sehr lange darüber nachgedacht, inwiefern ich all diese Erlebnisse in diesem Artikel verarbeiten kann. Ich habe mich damals dazu entschieden, diejenigen, die ich als Erfahrung von sexualisierter Gewalt gelesen habe, in Form eines Erfahrungsberichts zu thematisieren, und diejenigen, die ich – in meiner Rezeption – nicht als sexualisierte Gewalt gelesen habe, nicht aufzuführen. Die Entscheidung, manche Erfahrungen gar nicht zu thematisieren, habe ich für mich selbst getroffen, ohne sie den jeweiligen Personen zu kommunizieren und ohne sie um ihre Meinung dazu zu bitten. Dass ich damit den Fehler gemacht habe, mir selbst die Definitionsmacht über die Erfahrungen anzueignen und somit den Betroffenen die Deutungshoheit abzusprechen, wurde mir leider erst nach der Veröffentlichung bewusst.

Auch das Aufschreiben der Erfahrungsberichte, ebenso wie die Verortung der Erfahrungen, war für mich eine große Herausforderung. Der Versuch, die „richtigen” Worte zu finden, mit sachlicher und sensibler Sprache die konkreten Situationen zu schildern und dabei den Perspektiven der Betroffenen gerecht zu werden, hat viel Zeit beansprucht.

Alles in allem haben mich die gut neun Monate vom Aufruf bis zur Veröffentlichung, inklusive der Organisation und Kommunikation drumherum, extrem viel Zeit und Kraft gekostet und mir auf verschiedenen Ebenen sehr viel abverlangt.

Warum bleiben die Täter anonym?

Zum notwendigen Schutz der Betroffenen. Selbst in Bezug auf die von mir ursprünglich erwarteten Mikroaggressionen war klar, dass mir vermutlich kaum eine betroffene Person erlauben würde, ihre Erfahrung zu veröffentlichen, wenn ihre Identität daraus ersichtlich werden könnte. Deshalb machte ich bereits im Aufruf deutlich, dass jede Person anonymisiert und jedes Gespräch mit Diskretion behandelt wird. Ich bin ziemlich sicher, dass sich kaum jemand bei mir gemeldet bzw. der Veröffentlichung zugestimmt hätte, wenn ich es anders gehandhabt hätte.

Wenn nur die Namen der betroffenen Personen geändert wären, aber die der Täter genannt würden, gäbe es in vielen Fällen Außenstehende, die anhand des Täternamens und der Situationen auf die Identität der betroffenen Personen schließen könnten. Zudem könnten die Täter selbst ihr Handeln abstreiten und die betroffene Person (öffentlich) namentlich nennen. Angesichts des vorherrschenden Klimas des Täterschutzes und Victim-Blamings muss dabei mit negativen Konsequenzen für die betroffenen Personen gerechnet werden. Die Erfahrung von Mia, wie ich sie genannt habe, macht deutlich, dass es auch zu rechtlichen Auseinandersetzungen, in diesem Fall einer Klage wegen Rufmords, und damit zu hohen finanziellen Kosten und einer Retraumatisierung kommen kann.

Die Nennung der Täternamen und oder der beteiligten Kollektive in diesem Rahmen würde die Betroffenen also selbst potenziell angreifbar machen und gefährden – dieses Risiko könnte ich ethisch nicht verantworten. Um es mit den Worten einer der Betroffenen zu sagen: „Wenn man die Täter mit Namen benennt, hat man in unserem patriarchalen System die Arschkarte gezogen.”

Zudem erzeugt das Nicht-Wissen um die Identität der Täter eine Abstraktionsebene, die hoffentlich Awareness unter den Leser*innen und Hörer*innen schafft und schärft. Bei Nennung der Täternamen könnten viele dieses strukturelle, allgegenwärtige Problem allein auf die jeweiligen Einzelpersonen und Kollektive projizieren. Durch die Anonymisierung werden sie dazu angeregt, ihr persönliches Umfeld, eigene Erlebnisse und Handlungen zu reflektieren und begreifen vielleicht eher, dass die Täter aus den Erfahrungsberichten nicht die einzigen Täter sind – auch ein Mitglied ihres Kollektivs, ihr bester Freund oder sie selbst können Täter sein.

Wie habt ihr den Text in der frohfroh-Redaktion diskutiert?

Innerhalb der frohfroh-Redaktion war ich mit unserer Chefredakteurin Nastassja von der Weiden und meiner Kollegin Paula Charlotte Kittelmann, die den dritten Teil der Reihe verfasst hat, im regelmäßigen Austausch. Innerhalb und außerhalb mehrerer Lektorats-Runden haben mich die beiden mit vielen klugen Anmerkungen und Denkanstößen unterstützt. Wir haben uns Zeit genommen, die Veröffentlichung zu planen, über den inhaltlichen Aufbau gesprochen und waren uns einig, dass es für diese Thematik viel Platz und eine ausführliche Darstellung braucht.

Paula hatte zeitgleich und unabhängig von mir die Idee gehabt, einen Artikel über die Strukturen von Sexismus und sexualisierter Gewalt in der Clubkultur zu verfassen. So ergab sich die Form der Artikelreihe erst im späteren Verlauf unserer Arbeit – wir entschieden, die Erfahrungsberichte, die Verortung der Erfahrungen und die Handlungstipps, die strukturelle Einordung von Paula und die Handlungsmöglichkeiten für Betroffene innerhalb der Leipziger Szene in vier separaten Artikeln respektive zwei Podcasts ineinander übergreifend darzustellen.

Einen Austausch darüber in der gesamten Redaktion fand allerdings bis jetzt nicht statt, da wir alle ehrenamtlich tätig sind und keine „feste” Redaktion mit regelmäßiger Begegnung oder Redaktionsräumen sind. Allerdings trifft sich die ganze Redaktion einmal im Quartal zum Austausch – beim nächsten Mal wird sicher nochmal über die Reihe gesprochen werden.

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