Neuzeitliche Bodenbeläge (Sämtliche Foto: Fabian Kretz)
Auf seinem Debütalbum Der große Preis lässt das Berliner Duo Neuzeitliche Bodenbeläge die Atmosphäre der alten BRD zwischen NATO-Doppelbeschluss, neonbeleuchteter Spielhalle, Kunstledersitzen und Schulterpolstern wiederauferstehen. Der eindimensional fetischisierenden Nostalgie erteilen Niklas Wandt und Joshua Gottmanns dennoch eine Abfuhr. Unser Autor Harry Schmidt war mit den beiden Musikern für eine Konferenzschaltung zwischen Berlin-Neukölln und Berlin-Weißensee verabredet – und hat dabei unter anderem erfahren, warum große Teile des Albums in einem Hotel am Bodensee entstanden sind.
Nein, an Wim Thoelke hätten sie im ersten Moment gar nicht gedacht, als sie ihrem Debütalbum den Titel Der große Preis verpasst haben, versichern Niklas Wandt und Joshua Gottmanns. Dabei wimmelt es auf den sieben Tracks nur so vor Achtzigerjahre-Referenzen und NDW-Bezügen, vor allem in der experimentelleren Ausprägung von Projekten wie Palais Schaumburg, Pyrolator, Der Plan, den frühen DAF und dem ganz frühen Andreas Dorau, aber auch einiger Acts der Hamburger Schule wie Die Sterne oder Knarf Rellöm.
Doch wie so vieles bei Neuzeitliche Bodenbeläge hat auch der Albentitel einen Hintergrund, der sich mehr oder weniger dem Zufall verdankt: „Wir waren zusammen auf der Autobahn unterwegs und wurden rechts von einem LKW überholt, der hintendrauf eine Reklame für den ‘Großen Preis des Mittelstands’ hatte“, erzählt Gottmanns. „Das fanden wir natürlich toll – weil sich in solchen Phrasen manchmal vieles derart verdichtet, dass man darin etwas erkennt, was entweder gar nicht so gemeint gewesen ist oder eine ganz besonders konzentrierte Essenz von etwas ist”, ergänzt Wandt.
Solche Momente halte er dann sofort in einem Archiv auf seinem Mobiltelefon fest – kleine Mosaiksteine der Wirklichkeit, aus denen später im Cut-up-Verfahren viele seiner Texte entstehen: „Eigentlich muss man nur rumlaufen und die Ohren offenhalten, dann fügt sich vieles von ganz allein.” Im Fall des albeneröffnenden Titelsongs klingt das jetzt so: „Convenience, Erstickungstod, der große Preis des Mittelstands”, wobei der Musiker und DJ, der auch als Radiomoderator und Sprecher arbeitet, seine Lyriks wie die Zeilen eines Gedichts der Neuen Sachlichkeit vorträgt, die durch Schlieren postnuklearer Soundscapes hallen.
Gerätschaften mit H-Kennzeichen
Denn das Wort Preis umfasse ja nicht nur die Bedeutungsebene der Auszeichnung, sondern auch der Unkosten, der Nachwirkungen und negativen Effekte. „Und im Kontext dieses Openers ist es eben der gesamtgesellschaftliche Preis, der für die deutsche Mainstreamkultur fällig wird”, führt Gottmanns den Gedanken weiter. „Aufgrund dieser Doppeldeutigkeit fanden wir das einfach den idealen Titel, nicht nur für dieses Stück, sondern auch für die ganze Platte”, sagt Wandt.
Ganz ähnlich verhalte es sich mit dem Namen ihres Duos. „In der Berliner Müllerstraße gibt’s tatsächlich einen Laden, der so heißt”, schmunzelt der 32-Jährige mit dem undefinierbaren Bart im Skype-Fenster: „Ich bin da vorbeigelaufen und dachte, das passt genau zu dem, was wir vorhaben”, sagt Diplom-Medienwissenschaftler Wandt und lehnt sich zuhause in Berlin-Neukölln unter einem Ingmar-Bergman-Filmplakat zurück.
„Ein extrem schöpferisch begabter junger Adonis mit ganz viel Herz und starkem Gerechtigkeitsempfinden”, charakterisiert Wandt Gottmanns.
Bis vor Kurzem waren er und Gottmanns noch Nachbarn „in der Dangerzone” (Wandt), mittlerweile lebt sein Duopartner in Berlin-Weißensee, um näher an der dortigen Kunsthochschule zu sein, wo er ein Studium der Bildenden Kunst mit Schwerpunkt Bildhauerei aufgenommen hat. Kennengelernt haben sie sich bereits eine Dekade zuvor im Ruhrgebiet. Wandt stammt aus Burscheid, einem Vorort von Leverkusen, Gottmanns ist in Mönchengladbach aufgewachsen. Zum ersten Mal kreuzten sich ihre Wege 2010 in Köln auf der Geburtstagsparty des Autors und Musikers Bryan Kessler, erinnert Wandt.
„Ein aus der Zeit gefallener Gentleman mit schwammhaftem Verhalten”, so der umgekehrte Blick von Gottmanns auf Wandt.
Daraufhin sei man sich immer wieder mal begegnet, etwa im Makroscope in Mülheim an der Ruhr oder im Düsseldorfer Salon des Amateurs. Auch vor der Gründung ihres Duos haben die beiden zusammen Musik gemacht: So saß Wandt beim Space-Rock-Quintett Oracles hinter dem Schlagzeug, während Gottmanns Keyboards und den Bass bediente. In der experimentellen Krautrock-Formation Transport waren sie ebenfalls gemeinsam im Line-up vertreten. Seit 2016 treten sie als Neuzeitliche Bodenbeläge in Erscheinung – eine Entscheidung „mit Vorsatz”, wie Gottmanns sagt: „Lass’ uns doch mal eine deutschsprachige elektronische Platte machen” – „die so richtig scheppert” wirft Wandt ein –, „ohne Computer.”
Der habe dann zwar im nächsten Schritt doch rasch Einzug gehalten, aber diene eher als Tool zum Arrangieren: „Das Meiste, was da reinkommt, stammt von analogen Geräten – bevorzugt von Gerätschaften mit H-Kennzeichen”, sagt Wandt und lacht. Niklas pflegt eine große KFZ-Obsession, H-Kennzeichen bekommen laut Fahrzeug-Zulassungsverordnung nur „Fahrzeuge, die vor mindestens 30 Jahren erstmals in Verkehr gekommen sind, weitestgehend dem Originalzustand entsprechen, in einem guten Erhaltungszustand sind und zur Pflege des kraftfahrzeugtechnischen Kulturgutes dienen“ (FZV §2, Nr. 22).
Im folgenden Winter wurden erste Aufnahmen gemacht. „Dabei ist dann unsere erste 7’’ entstanden”, so Wandt. „Das war bei mir im Schlafzimmer, auf zwei Vierspur-Kassettenrekordern – um mehr als vier Spuren zu haben”, nimmt Gottmanns den Faden auf. 2018 beim Düsseldorfer Label Themes For Great Cities erschienen, das auch Projekten wie Stabil Elite oder Tolouse Low Trax eine künstlerische Heimat bietet, zieht „Ich Verliebe Mich Nie” auf Anhieb größere Kreise und sorgt für erste Booking-Anfragen. Gleich ihr erstes Konzert spielen sie im Club AU im Wiener Bezirk Ottakring, gefolgt von Auftritten in Berlin, aber auch in Leipzig, Dresden und Brüssel.
Klausur in einem Hotel in Meersburg am Bodensee
Überhaupt, Wien: Neben der deutschen Bundeshauptstadt ist die österreichische Metropole einer der wichtigsten Bezugspunkte für die Neuzeitlichen, wie ihre Fans sie liebevoll nennen. Wie bereits die 12-Inch Leben, ihr zweites Release, sind auch die Songs von Der große Preis unter der Ägide ihres „Energiecoachs” Alexander Fuchs entstanden, der als Ali Europa seit Jahren Spuren im Wiener Nachtleben hinterlässt. Durch ihn kommt ein weiterer maßgeblicher Ort für das Duo ins Spiel: In Meersburg am Bodensee betreibt Fuchs ein Hotel, das außerhalb der Saison auch für anderweitige Nutzung offen steht.
Etwa dafür, Wandt und Gottmanns einzuladen, um jenseits der Alltagsroutine ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. Eine der leerstehenden Suiten wurde zum Studio umfunktioniert, das einen Haufen analoger Synthesizer, Rhythmusmaschinen und ein Studer-Pult beherbergt, die Gesangskabine fand in der Dusche Platz. In anderthalb Wochen entstand dort im Frühjahr 2019 in Grundzügen ein Album, „ohne dass man es geplant hätte” (Gottmanns). Denn: „Persönlich geht es mir aus meiner Erfahrung schon häufig so, dass ich eine EP mehr on point finde”, sagt der 29-Jährige.
Dass mit Der große Preis nun doch zumindest ein Minialbum vorliegt – Wandt spricht von einer „Momentaufnahme” –, folge zwar einer gewissen „Dramaturgie” (Single, Maxi, Album), habe man jedoch nicht mutwillig angesteuert, sondern eher passieren lassen. In Klausur zu produzieren, war hingegen eine bewusste Entscheidung. Einer der Nachteile des Homestudio-Konzepts sei doch, dass sich fast unweigerlich der Zweifel einschleiche: „Man kann ja auch Sachen wahnsinnig überproduzieren. Das, was man in einer Bewegung einfach gemacht hat, wird dann im Verlauf von einem Jahr zuhause noch zehnmal umgeworfen und hinterfragt”, meint Gottmanns.
„Generell ist es unheimlich schwer, einen spontanen Ausdruck oder eine gewisse Roughness artifiziell herzustellen – das kannst du nicht unendlich polieren, ohne dass es extrem konstruiert wirkt”, pflichtet Wandt ihm bei. Statt die „allumfassende Platte zu machen, die alle Facetten, die man meint zu haben, darbietet”, sei es ihnen eher darum gegangen, eine Bewegung, eine Inspiration, eine Energie festzuhalten. Selten habe man vorab eine konkrete Vorstellung von einem Track, entscheidender sei der Prozess dahin, sind sich Wandt und Gottmanns einig: „Wenig bis gar keine Konzeption”, lautet ihre Devise.
Einige Tracks habe man dennoch, fast ein Jahr später und wiederum in Wien, „veredelt” und mit Overdubs angereichert: „Gelb’s Groove”, eines der einprägsamsten Stücke der Platte, entstand in Sam Irls Heimstudio und dem direkt um die Ecke gelegenen International Major Label Studio von Daniel Meuzard (Feater), dessen EMS-Synthesizer auch auf dem Titeltrack zu hören ist. „Sensual Adult Oriented Wave Music” entnimmt man der Selbstauskunft über ihre Musik auf der NB-Facebook-Präsenz. Der Input von Fuchs sei indes nicht zu unterschätzen, äußern beide unisono: Nicht nur als „Infrastrukturbereitsteller” (Wandt) – schließlich stellt er den beiden neben den Hotelräumlichkeiten auch seinen Vintage-Gerätepark zur Verfügung –, sondern auch als Produzent, Mentor, Freund und kenntnisreicher Berater sei sein Einfluss immens.
Um das reine Wiederauflebenlassen gehe es ihnen nicht: „Ich hoffe schon, dass wir der Sache einen zeitgenössischen Twist geben”, betont Gottmanns.
„Alexander ist ein Lexikon für obskure Musik und sowohl für Niklas’ Texte als auch in Sounddesign-Fragen immer ein Quell der Inspiration”, hebt Gottmanns hervor. Und mehr als das: „Es gibt da so einen Sequential Pro-One, der schon komplett auseinanderfällt, wenn man ihn anhebt. Aber wenn Alexander den midifiziert und dreimal draufschlägt, läuft das Teil – und er weiß dann einfach auch, wo der Sweet Spot ist, wo Cutoff und Resonance stehen müssen, damit es klingt wie der Bass-Sound aus einem bestimmten New-Order-Song.”
Eine „extrem spezielle Dreierbeziehung in einer intensiven Woche”, fasst Gottmanns, der bei den Tracks auf Der große Preis häufig mehrere Synthesizer gleichzeitig angesteuert hat, die Konstellation zusammen. Wie gut sich auch die Duopartner ergänzen, wird im Verlauf des Konferenzschaltungsgesprächs klar, wenn einer den Satz des anderen beendet.
„Ein extrem schöpferisch begabter junger Adonis mit ganz viel Herz und starkem Gerechtigkeitsempfinden”, charakterisiert Wandt den drei Jahre jüngeren Gottmanns, der seine ersten musikalischen Schritte in der Indierock-Band Beat!Beat!Beat! absolviert hat, auch unter dem Moniker Skuffface veröffentlicht und mit Infuso Giallo als Tableau Vivant firmiert.
„Ein aus der Zeit gefallener Gentleman mit schwammhaftem Verhalten”, so der umgekehrte Blick von Gottmanns auf Wandt, der wiederum in zahlreichen anderen Projekten seinen verschiedenen Interessen nachgeht: Im Duo AngstLust (mit Kris Baha von Die Orangen) produziert er EBM-Tracks, mit Sascha Funke releast er kosmischen Downbeat auf Multi Culti, mit Jan Schulte alias Wolf Müller tribale Ambient-Synth-Musik mit Sogwirkung (etwa das Album Instrumentalmusik Von Der Mitte Der World, das sich 2018 in vielen Poll-Ergebnissen wiederfand).
Distanz zur eindimensional fetischisierenden Nostalgie
Dass Neuzeitliche Bodenbeläge in ihren „Miniaturen” (Gottmanns) mit der Atmosphäre der alten BRD zwischen NATO-Doppelbeschluss und neonbeleuchteter Spielhalle, Kunstledersitzen und Schulterpolstern eine Welt wiederauferstehen lassen, die zum Zeitpunkt ihrer Geburt bereits Vergangenheit war, liege an der Faszination für die historisch einmalige Konstellation, dieser seltsamen Gemengelage aus „unglaublicher Kontinuität dieses ganzen Nazi-Shits, anderseits extrem viel neuem Kram”, sagt Wandt.
Für Gottmanns wiederum, dessen Eltern eher den Sechzigerjahren zugeneigt waren, sei die Wiederentdeckung der Achtziger „sowas wie die Entdeckung der Neuen Welt” und damit „fast schon eine Form der Rebellion” gewesen. Um das reine Wiederauflebenlassen gehe es ihnen nicht: „Ich hoffe schon, dass wir der Sache einen zeitgenössischen Twist geben”, betont Gottmanns.
Auch wenn die Dancefloor-Affinität ja schon im Bandnamen verankert ist, handele es sich letzten Endes um Popmusik, meinen beide.
Das kann man getrost unterstreichen: So retrofuturistisch hier vieles klingt, so viel Distanz behalten die Neuzeitlichen Bodenbeläge doch zur eindimensional fetischisierenden Nostalgie. Auch wenn die Dancefloor-Affinität ja schon im Bandnamen verankert ist, handele es sich letzten Endes um Popmusik, meinen beide. Favoriten auf ihrem aktuellen Album seien zwar schwer zu isolieren, „Keramik & Konflikte” und der Ausklang mit „Rausfahr’n” besitzen jedoch für beide einen großen Stellenwert. Und für welche Hörsituationen ist Der große Preis ideal?
„Zum Chillen und zum Feiern, den zwei wichtigsten Dingen im Leben”, quittiert Wandt die Steilvorlage. Wohin die Reise mit dem Projekt geht, steht noch in den Sternen: Wenn möglich, soll die nächste Produktionsklausur am Bodensee in den kommenden Monaten stattfinden. Das Ergebnis könnte dann schon wieder ganz anders klingen als das aktuelle Album: Schließlich ist das Material auf Der große Preis doch mehrheitlich schon fast zwei Jahre alt.