Actress (Foto: Jaxon Whittington)
Actress’ Diptychon aus 88 und Karma & Desire gehört zu den herausragenden Elektronik-Veröffentlichungen von 2020. Der afrobritische Musiker hat dort zum ersten Mal die technoiden und die melodiösen Stränge in seinen Produktionen voneinander isoliert. 88 knüpft an den roughen, unvermittelten Sound seiner ersten beiden Alben an. Für Karma & Desire hat er zum ersten Mal Songs geschrieben und mit Sänger*innen wie Sampha, Zsela oder Aura T-09 zusammen gearbeitet.
Dem mit acht Alben, zahlreichen Singles, Kollaborationen, seinem Label und eigenen Veranstaltungen weitverzweigten Werk des Briten kann man sich von verschiedener Seite nähern. In jedem Fall ist er in der Politisierung von Techno in den 2010ern eine zentrale Figur, verfolgt dabei aber eine ungewöhnliche Strategie. Wo viele Künstler*innen mehr oder weniger gängigen Techno oder oft willkürliches Experimentieren mit Ansätzen der Identitätspolitik verbinden, verzichtet Actress ebenso auf Floorstandards und Beliebigkeiten wie auf direkte politische Aussagen.
Was Detroit Techno für das Schwarze Amerika gemacht hat, versucht Actress mit einer eigenen Mythologie zu realisieren, für die es in der Szene kaum Vergleichbares gibt, in der politische und idiosynkratische Elemente Seite an Seite stehen. So steht der Albumtitel 88 für die doppelte Unendlichkeit, die er mit einer philosophischen Bedeutung auflädt.
Besonders 88 hat noch einmal gezeigt, warum Actress auch unabhängig von diesen Zusammenhängen einer der maßgeblichen Techno-Producer der Gegenwart ist: Wo Techno im schlimmsten Fall die ewige Wiederholung des Immergleichen ist und im besten eine originelle Sichtweise auf klassische Sounds entwickelt, gelingt es ihm, eine materielle Beziehung zu den Klängen aufzubauen. Wo in Sachen Techno alles gesagt scheint, entdeckt er neue Klänge und neue Arten, sie zu verbinden. GROOVE-Chefredakteur Alexis Waltz rief Actress, der bürgerlich Darren Jordan Cunningham heißt, kurz vor dem Erscheinen von Karma & Desire an, um zu erfahren, in welcher Beziehung die beiden Alben zueinander stehen, was es mit der doppelten Unendlichkeit auf sich hat und was er über die Erschütterungen des vergangenen Jahres denkt.
Actress: Mit wem spreche ich?
Mit Alexis vom GROOVE Magazin aus Berlin. Wie geht’s dir?
Gar nicht mal schlecht. Ich bin im Waschsalon.
Kann ich dich jetzt interviewen?
Klar.
Ich weiß nicht, ob du dich an die GROOVE erinnerst. Wir hatten dich auf 2010 auf dem Cover.
Klar erinnere ich mich daran, das war einer der ersten Photoshoots, die ich gemacht habe, mit Wolfgang Tillmans. Das hat Spaß gemacht.
Wie lief der Shot ab?
Das ist ganz schön lange her! Und ich kannte Wolfgang damals noch gar nicht. Als ich Freunden erzählt habe, dass Wolfgang Tillmans vorbeikommt und Bilder macht, sagten die: „Yo, dude!” Später habe ich seine Arbeiten gut kennengelernt. Ich erinnere mich nur, dass er mich bei mir daheim fotografieren wollte und ein paar symbolische Bezüge einbaute, die ich damals gar nicht erkannt habe. Aber ja, er war cool, es war ein schöner Tag.
Ich war ganz schön überrascht von deinen beiden neuen Alben. 88 ist erstaunlich Techno- und Electro-lastig, Karma & Desire dagegen ist ein Pop-Album. Du hast zum ersten Mal Songs geschrieben und mit Sänger*innen zusammengearbeitet.
Mit diesen Alben wollte ich eine Ahnung davon geben, wie sich die Tracks entwickeln, wenn sie auf ein Produkt ausgerichtet sind, auf ein Pop-Produkt, wie du das genannt hast. Aber innerhalb meines eigenen Ansatzes, in meiner Methode. In meinem Prozess verfolge ich Texturen und Farben. Ich operiere in meinem Netz, durch das sich die Tracks in bestimmten Momenten bewegen. Der Fokus auf Loops als eine Art der Meditation. Aber dieses Mal habe ich diese Loops genommen und sie in einer festgelegten Form platziert.
Was genau war dann anders als bei deinen früheren Arbeiten?
Meistens geht es mir nicht darum, einen Track zu produzieren, sondern um die Praxis, elektronische Musik zu machen. Ich erschaffe Klänge und beobachte, wie die einzelnen Sounds interagieren. Das ist mein Prozess, so komme ich zu der Finalität eines Tracks, eines Tunes, eines Songs oder einer Idee. Besonders bei den Alben, wo jeder Track als Teil des gesamten Körpers arbeitet. Dabei gibt es auch einige Stücke, die für sich stehen können, etwa die Singles „Loveless”, „Walking Flames” und „Angels Pharmacy”.
Wie sieht das bei 88 aus?
Genauso. 88 war auch in der Art, wie die Musik veröffentlicht wurde, ein politisches oder ein künstlerisches Statement. Und ich wollte einen Auftakt zu Karma & Desire. Abgesehen von der Arbeit mit dem Orchester und der AI-Arbeit habe ich länger nichts Elektronisches mehr veröffentlicht. So ist es auch eine Möglichkeit, die Beziehung zu diesem Teil meines Publikums wieder aufzunehmen.
„Eine Engelsstimme, die bloß eine Stimme mit einem Bewusstsein ist, die kein bestimmtes Gefühl ausdrückt.”
Du hast zum ersten Mal mit Sänger*innen zusammengearbeitet. Wie lief das ab? Wie hast du sie ausgesucht, wie sah die Arbeit im Studio aus?
Besonders am Anfang war das schwierig. Vor allem wollte ich nicht ein offensichtliches Statement abgeben, dass ich jetzt mit Sänger*innen zusammenarbeite. Andererseits war mir schon länger klar, dass ich meine Komfortzone verlassen muss, um mich als Künstler weiterzuentwickeln, auch weil ich dieses Potenzial immer gesehen habe.
„Angel’s Pharmacy” mit Zsela mit dem gesprochenen Vocal erinnert an die Blake-Baxter-Nummer „When We Used To Play”. Es ist ein Song und es ist kein Song. Deine Arbeit mit den Sänger*innen ist vielleicht ein wenig vergleichbar. Sie können singen, sie müssen es aber nicht, sie können ihre Stimme auch freier einsetzen. Die Beziehung von Stimme und Musik ist offen. Was auch bedeutet, dass du nicht nur die Hintergrundmusik zu einem Lied machst.
Alle Sänger*innen auf dem Album haben sehr starke Stimmen. Zugleich haben sie verschlüsselte und verworrene Stimmen. Sie können die Musik überwältigen. Ich musste Wege finden, damit das nicht passiert. Ich erinnere mich an einen Tag, den ich mit Zsela verbracht habe. Sie hat einen Abschnitt aus einem Buch vorgelesen, und ich habe gesagt: „Du hast eine wirklich schöne Spoken-Words-Stimme. Damit kann ich arbeiten. Schau mal, ich habe diese Worte.”
Wo kamen sie her?
Ich habe sie notiert. Ich schreibe ab und zu fragmentarische Gedichte. Die habe ich zu einem Song verarbeitet, der kein Song ist, der vielleicht eher an ein Theaterstück erinnert. Das war die Art der Darstellung, die ich gesucht habe. Eine Engelsstimme, die bloß eine Stimme mit einem Bewusstsein ist, die kein bestimmtes Gefühl ausdrückt. Sie ist kontemplativ. Das ist der Raum, den ich gerne mit meiner Musik besetze. Sie drückt eine bestimmte Isolation aus, sie ist in einem Vakuum entstanden.
Am Anfang deiner Karriere, auf Hazyville und Splazsh, habe ich diese kontemplative Stimmung in deiner Musik noch nicht gespürt. Die hat für mich mit RIP angefangen, das hat ein neues Kapitel in deiner Arbeit begonnen. Die ersten Alben klangen energetisch und düster, die späteren Alben klingen entrückt und assoziativ. Wo kommt diese kontemplative Stimmung her? Was drückt sie für dich aus?
Eines der Dinge, die ich mit meiner Musik erreichen will, ist eine Art ruhiger Techno [Originalwortlaut: quiet techno, d.Red.]. Ich habe mal in ein Notizbuch geschrieben, was mein idealer Technosound wäre. Das wäre eine Art ruhiger Techno, ähnlich wie Basic Channel und anderer früher deutscher Dubtechno. Gleichzeitig beerbe ich einen sehr innerlichen, zerebralen Ort, der auch sehr britisch ist.
Wie sah dein Leben in dieser Zeit aus, dass du in so eine Stimmung gekommen bist?
Als ich Hazyville und Splazsh gemacht habe, bin ich natürlich mehr ausgegangen. Mein Ansatz war damals viel rebellischer. Das war mein Ansatzpunkt, um überhaupt Musik zu machen. Dann wurde die Musik zu meiner alltäglichen Praxis, auch wenn sie keine Arbeit war. Dann musste ich mich auch auf meine persönliche Existenz bezogen zu dem bekennen, was ich getan hatte. Ich musste mich der Frage stellen, was die Kunst für mein Leben bedeutet. Das war der Punkt, an dem sich die Musik veränderte. Mit RIP und Ghettoville. Bei Karma & Desire bewege ich mich auf eine andere Seite meiner Arbeit, zu der auch Text und kreatives Schreiben gehören, Cut-up-Collagen aus Geschichten und Wörtern, auch bestimmte musikalische Phrasen neu zu interpretieren, um herauszufinden, was R’nB’ aus einem gespenstischen Blickwinkel sein könnte.
„Du musst die eine Seite erleben, um zu begreifen, was die Motivation für die andere Seite ist.”
Du bewegst dich von etwas weg, das auf 88 auf sehr direkte Weise passiert.
Die Sache mit 88 war, dass diese Tracks alle bereits existierten. Da war für mich eher die Frage, wie ich die zusammenstelle. Deshalb konnte ich dieses Album in weniger als 24 Stunden fertigstellen.
Wann hast du diese Tracks produziert?
Die Tracks waren alle schon da. Ich habe eine ganze Reihe von Alben und Tracks, die schon fertig sind, für die ich Pläne habe. Wenn ich etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt veröffentlichen möchte, kann ich das deshalb ziemlich spontan machen. Bei 88 musste ich nur den Titel finden und das Symbol jenseits der Musik definieren.
Wie bist du auf den Titel gekommen? Was für ein Symbol steht hinter der Musik?
Der Titel bezieht sich auf die Musik als Ganzes, die ich veröffentlicht habe, also auch auf Karma & Desire. Er unterstreicht den Wandel, wie sehr ich mich verändert habe. Ich habe viel gelesen und mich mit dem Konzept der doppelten Unendlichkeit befasst. Das ist der entscheidende Punkt bei diesem Album, das ist auch sein eigentlicher Titel. Typographisch ist das doppelte Zeichen der Unendlichkeit nur als 88 darstellbar. Der Punkt bei diesem Projekt lag darin, zu zeigen, dass die Musik unendlich ist. Wenn ich ein Album innerhalb von 24 Stunden machen kann, dann muss ich das auf keinem konventionellen Label veröffentlichen oder über die normalen Vertriebsketten.
Warum die doppelte Unendlichkeit?
Ich weiß nicht, ob sich diese Frage stellt oder ob es darauf eine Antwort gibt. Das ist der ganze Punkt.
Das verstehe ich nicht. Unendlichkeit ist unendlich. Wie kann sie sich verdoppeln?
Ein Beispiel könnte sein: Wenn du ein Fußball-Match spielst und gewinnst, aber nichts daraus lernst und in die Vergangenheit zurückspringst, und dasselbe Match nochmal spielst und es verlierst. Was ist anders, wenn du bei jedem Mal etwas lernst? Das meint für mich double infinity: die Möglichkeit, in die Zukunft zu springen und in die Vergangenheit und jedes Mal etwas anderes zu erleben. Es geht um die unmittelbare Erfahrung und um die Frage, ob du dasselbe nochmal erleben würdest. Und damit komme ich zu dem Punkt, den du angesprochen hast: Tatsächlich ist das Team von 88 und Karma & Desire auch ein Widerspruch in sich. Du musst die eine Seite erleben, um zu begreifen, was die Motivation für die andere Seite ist. Das ist, was Musik für mich ausmacht.
Was ist die Beziehung zwischen Karma & Desire, zwischen Karma und Verlangen? Ich könnte mir vorstellen, dass es da eine bestimmte Spannung gibt.
Wenn du von Beziehung sprichst, ist das genau der Punkt. Es ist die Frage, ob es diese Beziehungen überhaupt gibt. Das ist das Konzept, das in Frage gestellt wird. Zwischen Karma und Desire gibt es nämlich keine direkte Beziehung. Wenn du an Karma denkst, denkst du an Yin und Yang. Du würdest erwarten, dass es da eine Beziehung gibt, aber es sind getrennte Entitäten. Es ist dasselbe wie das Leben oder der Tod. Würdest du kämpfen oder würdest du zurückbleiben? Der Aspekt der double infinity ist die Frage der Frage der Frage der Frage der Frage. Es gibt nichts, das sagt, dass double infinity keine doppelte Bedeutung haben kann.
„Natürlich war da Detroit, und wir kennen die Geschichte dieser Musik und wissen, warum sie entstanden ist.”
Wann in deinem Leben hast du begriffen, dass die Musik für dich diese radikalen Gegensätze ausdrückt?
Als ich begriffen habe, was Melodien für mich bedeuten. Dadurch hat sich verändert, wie ich meine Umwelt akustisch wahrgenommen habe. Das kam nicht durch aufgenommene Musik, obwohl die wichtig war. Meine Mutter hatte eine Spieluhr mit einer Ballerina. Wenn du das Kästchen geöffnet hast, hat die Ballerina getanzt, zu dieser sehr melodischen, vielleicht bayerischen Melodie. Die Reinheit dieser Melodie hat etwas mit meinem Hirn gemacht. Das ist der Grund, warum ich elektronische Musik als Praxis sehe und mein Ansatz sehr monadisch ist.
Wie alt warst du da?
Vier oder fünf.
Was für Musik haben deine Eltern gehört?
Alle mögliche Musik. Besonders Reggae, Lovers Rock und Soul. Das war die Musik, die lief, als ich aufgewachsen bin.
Wie hat dir das gefallen? Deine eigene Musik ist ganz anders.
Um ehrlich zu sein, der Unterschied ist gar nicht so groß. Wenn du zum Beispiel Soca hörst, findest du da auch die treibenden Vierviertel, die ich so mag. Dennoch kommt die Musik, die ich mache, von einem anderen Ort als die, mit der ich aufgewachsen bin.
Was für Gefühle hat die Musik deiner Eltern in dir ausgelöst? Hat sie dir gefallen?
Natürlich. Ich denke, man hat da gar keine Wahl.
In Deutschland grenzen sich viele von der Musik ihrer Eltern ab. Vielleicht, weil es volkstümliche Musik ist, die die Beziehung zu ihren Wurzeln verloren hat.
Vermutlich. Aber jede Musik hat ihren Wert. Mir fällt gar keine Musik ein, die ich hasse oder verachte. Das ist auch ein Grund dafür, warum ich die Musik mache, die ich mache. Ich versuche meine Ohren so weit wie möglich für die unterschiedlichsten Klänge und musikalischen Formen zu öffnen. Ganz verschiedene Musik hat mich auch auf ganz verschiedene Weise berührt. Deshalb liebe ich Musik, weil sie das kann. Aber natürlich gibt es Musik, die cheesy ist, die wirklich schwer zu mögen ist. Aber du kannst in jeder Art von Musik etwas Interessantes finden, von dem du lernen kannst. Die Programmierung zum Beispiel, die Wahl der Klänge – oder, warum ein bestimmter Sound so beliebt ist.
Wenn du sagst, dass deine Musik von einem anderen Ort kommt als die Musik, die deine Eltern gehört haben: Wie hast du diesen Ort entdeckt?
Ich habe ihn durch andere Künstler entdeckt, indem ich gehört habe, was sie in ihrer Musik ausgedrückt haben. Natürlich war da Detroit, und wir kennen die Geschichte dieser Musik und wissen, warum sie entstanden ist. Für jemanden wie mich, der in Großbritannien mit den Piratenradios aufgewachsen ist, kam die Musik aber aus der Realität. Noch mehr ging es aber darum, dieser Realität zu entkommen. Das ist wieder die doppelte Unendlichkeit: Du drückst deine Realität aus, indem du ihr entkommst. Und mithilfe des Computers und anderer Geräte gibst du diesem Ausdruck ein anderes Bewusstsein weiter, und über dieses erreichst du weitere. Ebenso wichtig ist für mich die Seite der Begierde: Musik, die zur Obsession wird. Du kannst sie nicht befriedigen, ohne die ganze Zeit Musik zu machen. Sie entwickelt ein Eigenleben.
Als du die Piratensender gehört hast, welcher Realität wolltest du da entkommen?
Meine Realität war eine andere, ich war ein Teenager, ich wollte wahrscheinlich meinen Eltern entkommen. (lacht) Da ging es weniger um eine Flucht, eher darum, etwas zu entdecken. Eine Welt für das zu erschaffen, was ich noch nicht kannte, etwa die futuristischen Welten aus meinen Träumen.
Wenn du von Detroit sprichst: Die Künstler*innen dort hatten mit den Folgen der Deindustrialisierung zu kämpfen und mit dem Rassismus, der sich jedem*r Schwarzen in den USA in den Weg stellt. Wie hast du dazu deine Erfahrungen in Großbritannien in Beziehung gesetzt? Hast du dich mit der afroamerikanischen Perspektive identifiziert oder ging es dir darum, eine eigene Sichtweise zu entwickeln?
In Großbritannien sind diese Dinge nicht ganz so unmittelbar spürbar. In der letzten Zeit hat sich hier aber viel verändert. Es gab eine Reihe von Entscheidungen, die meinen Blick auf das Land geändert haben. Das Nachdenken darüber findet zur Zeit auf der ganzen Welt statt, auch weil die Welt auf dem Kopf steht. Die Welt verändert sich. Ich versuche, mich damit nicht aus einer lokalen Perspektive zu befassen, sondern global darüber nachzudenken. Heute ist die ganze Welt ist verbunden, wir interagieren als große Community.
Als du deine Karriere als Fußballspieler beenden musstest und die Clubmusik entdeckt hast, wie hast du diese Szene erlebt? Deine Musik ist zum Teil Tanzmusik, zum Teil sträubt sie sich dagegen. Ich habe mich immer gefragt, wie du dich in diesem Kontext wahrgenommen hast. Viele Künstler*innen knüpfen sehr direkt an ihre Vorgänger*innen an, in dieser Hinsicht ist die Szene konservativ. Du bist ein Avantgarde-Künstler, du willst Regeln brechen.
Das war nie eine bewusste Absicht von mir. Ich hätte aber nichts gemacht, das mich nicht inspiriert. Und es hätte mich nicht inspiriert, Musik zu machen, die andere schon gemacht haben. Das fand ich langweilig. Wenn ich arbeite, will ich mich inspirieren, ich will etwas entdecken, das ich noch nicht gehört habe. Ich will etwas erschaffen, das für mich gut klingt, das mir gefällt. Wenn die Dinge ein wenig schief gehen, wenn das Timing ungewöhnlich ist, entstehen für mich diese Taschen des Geheimnisvollen, die so interessant sind. Sie bringen mich dazu, zu lächeln.
Wie hast du gemerkt, dass du dich für diese abseitigen Klänge interessierst?
Das haben sie von Anfang an. Das ging damit los, dass ich Computer entdeckt habe. Das ist meine andere Leidenschaft. Als ich begriffen habe, dass man Computer und Musik miteinander verbinden kann, war es das für mich. Das war das Ultimative.
Wann hast du das entdeckt?
Da war ich wirklich jung, ich habe Spiele gespielt am Computer, vier oder fünf vielleicht.
Du hast schon als Kind Musik mit dem Computer gemacht?
Das kam später. Am Anfang ging es darum, überhaupt diesen Zusammenhang zu begreifen.
Als du DJ in deiner Heimatstadt Wolverhampton warst, wie war das? Was für Partys gab es da, und was für einen Status hattest du?
Ich bin erst mit 18 oder 19 ausgegangen. Am Anfang ging es auch eher darum, etwas mit meinen Freunden zu unternehmen und sich zu betrinken. Als ich anfing, Platten zu kaufen, wurde ich eingeladen, auf House Partys aufzulegen in Studentenwohnheimen. Ich war da noch etwas jünger als die meisten Student*innen. Ich hatte dann die Idee, eine Clubnacht in Wolverhampton zu veranstalten, sie hieß Bacon. Sie fand aber nur einmal statt. (lacht) Ich habe aber begriffen, was ich machen will: Ich will etwas erschaffen, das eine starke musikalische Identität hat. Damit komme ich auch auf deine Frage von eben zurück: Ich wollte meine eigene Art von Musik erschaffen. Das war von Anfang an das Mission Statement.
Wann hattest du das Gefühl, dass Leute deinen Ansatz begreifen und deine Arbeit verfolgen?
Darüber habe ich kaum nachgedacht. Ich stand darauf, Musik zu machen, vor dem Computer zu sitzen und Neues zu lernen. Die Wahrnehmung von außen war da eher eine Ablenkung. Die Sucht, Musik zu machen, treibt mich immer noch an. Sie hat sich verändert, heute teile ich die Befriedigung, die mir die Musik gibt, auch mit anderen Menschen. Ich wusste, dass das, was ich machen wollte, von einem Ort tief in mir kommt. Deshalb war es auch nicht leicht, mit dem Musikmachen anzufangen.
Meine letzte Frage: Was ist das Endziel deiner musikalischen Praxis?
Diese Frage kann ich nicht beantworten. Meine Entscheidung, in welche Richtung ich gehe, folgt meiner Inspiration. Auf diesem Album habe ich meine Praxis in Richtung von Sprache, Text und Stimme ausgeweitet. Ich habe auch einen Film produziert. Davon wird es mehr geben, mehr Experimente im visuellen Bereich, mehr Kollaborationen. Es gibt einiges, aber ich kann das nicht benennen. Es fermentiert in meinem Verstand, bis ich an den Punkt komme, Ideen und Projekte umzusetzen. Dann gibt es ein greifbares Ziel. Aber wenn ich über ein Album spreche, an dem ich seit vier Jahren gearbeitet habe, das die Umsetzung vieler Ideen, Klänge und Kollaborationen ist, wird die Antwort auf deine Frage nach der Zukunft in diesem Album liegen.