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Nils Frahm: „Ich bin fast wie ein Zeremonienmeister”

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Alle Fotos: Moritz Hoffmann

Die reduzierten, postmodernen Kompositionen von Philip Glass oder Michael Nyman haben die Neoklassik zum Phänomen gemacht. In den letzten zehn Jahren verschaffte Nils Frahm mit einem luftigen, aufgeräumten Pathos diesem Sound einen enormen Schub. Frahm setzt sich von Kollegen wie Max Richter oder Jóhann Jóhannsson mit einem jugendlichen, experimentierfreudigen Ansatz ab. Denn anders als die Genannten arbeitet Frahm nicht mit dem klassischen Orchester, sondern mit einem Mix aus klassischen und elektronischen Instrumenten. Diese unakademische Offenheit ist auch ein Ergebnis seiner musikalischen Sozialisation im Hamburger Pudel Club.

Mittlerweile ist Nils Frahm ein Star, er tritt auf elektronischen Festivals ebenso auf wie in der Elbphilharmonie oder dem Sydney Opera House. In der letzten Zeit hatten für ihn zwei Konzerte im heimischen Berliner Funkhaus, in dem Frahm bekanntlich sein Studio hat, eine besondere Bedeutung. Deshalb erscheinen ausgewählte Momente ebendieser Shows als Live-Album und -Film. Tripping with Nils Frahm heißt es, es wurde Anfang Dezember auf seinem Haus- und Hof-Label Erased Tapes sowie als Film auf der Streamingplattform MUBI veröffentlicht.

Aus diesem Anlass lädt Frahm in sein Studio ein. Das letzte Interview, damals eine Coverstory, mit der GROOVE liegt drei Jahre zurück. Es ist Spätoktober, wenige Tage vor dem zweiten Lockdown. Das in der Herbstsonne schimmernde Funkhaus ist längst zu dem geworden, was es immer sein wollte: Ein kultureller Szene-Treffpunkt für Musiker*innen und andere Kreative. Außerhalb des Stadtkerns gelegen, verdichten sich hier Gebäude im Industriecharme mit der nebelverhangenen Spree zu einer außergewöhnlichen Atmosphäre. Das wirkt nicht nur entschleunigend, sondern auch anregend. Die beiden GROOVE-Autoren Lucas Hösel und Moritz Hoffmann werden von einem entspannten und gut gelaunten Nils Frahm empfangen. Statt über die Pandemie sprechen sie über Kunst, Spiritualität, Berlin und Brad Pitt.

GROOVE: Im Dezember erscheint dein Live-Album Tripping with Nils Frahm. Du schreibst dazu: „[…] we were able to achieve what I was trying to do in these two years of touring: getting it right!” Was muss zusammenkommen, damit sich ein Live-Track richtig anfühlt?

Nils Frahm: Wie alles, was Spaß macht, ist es unendlich schwer zu erzeugen. Man denkt nicht viel darüber nach und probiert es einfach. Es ist wie bei einer Person, die versucht, den Dartpfeil an die eine Stelle zu werfen. Die Möglichkeit ist schon da, aber niemand ist überrascht, wenn es nicht passiert. In solchen Momenten sagt man sich: „Sei der Pfeil”. Das hat viel mit intuitivem Nicht-Verstehen-Wollen, mit innerlichem Zulassen und Abschalten zu tun. Da steckt fast schon fernöstliche Spiritualität drin. Ich denke, dass diese Spiritualität den Jazz extrem bereichert hat, vor allem das Konzept der Improvisation. Auch in der Kalligrafie stellen sich solche Fragen. Man weiß vorher nicht, wie der Buchstabe perfekt dargestellt ist, aber man spürt es dann im Handgelenk, im Kopf, im ganzen Körper: Das hatte jetzt eine Kraft, die es sonst nicht entwickelt. Dann erhält das einen integren Moment, den ich nicht mehr anzweifeln kann. Das versuche ich auch bei Aufnahmen zu erzeugen. Aber das sind insbesondere auch Momente, die ich bei einem Live-Konzert erreichen will. Und weil immer was schiefgehen kann, wird es halt entweder dieser Moment oder nicht. Natürlich kann ein Fehler auch Teil des Moments werden. Es gibt auf Spaces ein Lied, wo zwischen zwei Akkorden ein Telefon im Publikum klingelt. Genau das macht es so unmittelbar und integer für mich, weil es genau mein Konzert widerspiegelt. Mir ging es immer um das Echte und Schlichte in der Kunst, also eher um die Kalligraphie als das große imposante Bild mit ganz vielen perfekten Symmetrien.

Du hast ja mittlerweile ein ortsübergreifendes Renommee. Wie hast du es geschafft, dich freizuspielen und den Druck auch mal ausblenden zu können?

Ich blende den Druck nicht aus, ich nehme ihn an. Die Vorbereitungen auf ein Konzert hängen immer davon ab, wie du dich an dem Tag fühlst. Oft ist es genau dieses Sich-Unwohl-Fühlen und Unvorbereitet-Sein, das ein Konzert gut macht. Dann entstehen Kräfte, die sich erst durch Adrenalin und Druck mobilisieren lassen. Ich glaube, ein bisschen süchtig sind danach alle Menschen, die auf der Bühne arbeiten. Es ist natürlich auch ein Raubbau am eigenen Körper. Das sieht man bei vielen Rock’n’Roll-Stars, die Leistung von sich fordern, die physisch gar nicht mehr da ist. Aber ich versuche schon, mir Druck zu machen, weil ich in meiner Position Fehler machen kann. Denn wenn Sachen zu glatt laufen, wird es schwer, an diese Power ran zu kommen. Es muss ein bisschen schwierig sein. In dem Moment, wo ich nur im Ansatz über was anderes nachdenken kann als das, was gerade stattfindet, wird’s schwammig. Und das spüren die Leute.


„Eigentlich sollten wir immer aus einem gewissen Hunger, aus einer Gier heraus Musik machen”

Nils Frahm

Um mit Druck umzugehen, braucht’s ja auch ein gewisses Selbstbewusstsein, auch auf die Musik bezogen.

Das habe ich. Aber auch ein starkes Bedürfnis, mich für etwas einzusetzen. Ich bilde mir immer ein, nicht mich, sondern die Musik zu vertreten. Ich bin fast wie ein Zeremonienmeister. Ich bringe eine Art zeremonielle Strenge in einen Moment, der dann eine kosmische Ebene behandeln kann. Das erfordert zum einen Ernst, zum anderen Humor und Selbstlosigkeit. Ich freue mich noch heute über Geschichten, wo es einfach höllisch schiefging. Wo die Scheinwerfer in der Berliner Philharmonie anfingen zu brennen und mein Laptop ausfiel. Und mein Manager schon Schnaps mit den Stagehands trank. Aber ist ja zum Glück nur Kunst. Und deswegen stehen wir wieder auf und machen es nochmal. Dafür plädiere ich sehr, dass Kunst nicht verwechselt wird mit etwas, das immer funktionieren muss. Bei Kunst kann alles schiefgehen. Sie ist ein wichtiger Bereich für Menschen, um sich mit Fehlern auseinanderzusetzen und immer wieder Grenzen zu überschreiten, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. 

Fühlst du dich im Live-Kontext wohler als im Studio?

Ich wollte eigentlich immer das Studio auf die Bühne bringen und Live-Momente ins Studio. Im Studio muss man dazu stehen, dass das jetzt der Take ist. Das ist ein gewisser Druck, den Live-Konzerte nicht haben. Die Erinnerung kannst du immer wieder verdrehen. Aber wenn eine Platte von mir rauskommen würde, die total scheiße gemischt oder schlecht gespielt ist, dann könnte ich darüber nicht lachen. Deswegen versuche ich, es immer möglichst wie eine Live-Performance zu organisieren. Ich finde es gerade nicht mehr so interessant, Sachen glatt zu bügeln und perfekt zu mischen. Das ist ziemlich einfach geworden, die Sachen mischen sich von alleine, die Samples klingen schon wie gemastert. Für mich fehlt da der Fluss. Ich schaue gerne einem Tischler zu, der in einem Fluss etwas glatthobelt. Live-Musik unterscheidet sich immer, auch bei DJs. Schau dir ein Live-Set von DJ Shadow an. Ich habe ein Faible für eine gewisse Kunstfertigkeit, aber man muss immer beides ausbilden: Gute Ideen entwickeln und zusätzlich den Pinsel fest in der Hand haben.

Nils Frahm Studio by Moritz Hoffmann
Nils Frahms Studio im Funkhaus

Verfolgst du aktuelle elektronische Musik?

So gut ich kann. Ich bin aber nicht besonders gut im Spotify-Digging. Manchmal gehe ich zu Hard Wax und stöbere. Aber meistens finde ich Sachen einfach zufällig. 

Lässt du dich überhaupt noch viel von anderer Musik inspirieren?

Schon. Heute habe ich den ganzen Tag das Weihnachtsoratorium von Bach gehört. Und ich denke die ganze Zeit: „Was kann man davon lernen?” Ich bin da ganz ehrlich: Ich imitiere nur und füge neu zusammen. Ich isoliere gewisse, für mich unglaubliche Phänomene. Und die baue ich zusammen, wie mir das gerade passt. So wie mein Live-Set aussieht, so sieht’s auch in meinem Kopf aus. Ich finde es sehr spannend, was aktuell passiert, aber ich denke nicht, dass es für mich wichtig ist, up-to-date zu bleiben. Wenn das überhaupt möglich ist, ist es mein Ziel, zeitlose Musik zu machen. Das habe ich von Boards of Canada gelernt: die wurden richtig paranoid durch ihren Erfolg. Künstler sind oft fragile Menschen. Dann lieber etwas abschotten.


„Selbst Aphex Twin spielt live nur mit wenig Equipment. Ich will die Leute arbeiten sehen, demütig. Ich will, dass sie alles Geld in die Szene, in Equipment, Reparatur, alles dahinter investieren.“

Nils Frahm

Wie gehst Du mit Feedback von außen um?

Ich will davon nichts wissen. Ich sage meinem Manager, er soll mir am besten gar nichts erzählen. Ich mache Musik über mein Leben. Und wenn mein Leben sich mit zu viel Feedback füllt, macht mich das unfrei. Ich liebe es natürlich, Musik zu hören, aber ich versuche auch, mir eine Art kulturelles Fasten aufzuerlegen, damit ich die Musik machen kann, die ich sonst gerne finden würde. Eigentlich sollten wir immer aus einem gewissen Hunger, aus einer Gier heraus Musik machen. Wenn ich Velvet Underground höre, merke ich, wie gierig die Songs gespielt sind. Weil sie in dem Moment, in dem sie spielten, merkten: Das ist alles neu! Und das haben sie nicht etwa dadurch geschafft, die ganze Zeit die Beatles oder die Rolling Stones zu hören.

Nils Frahm verschmitzt by Moritz Hoffmann

Du hast vorhin von einer fernöstlichen Spiritualität gesprochen. Ist Spiritualität ein Teil deiner Kunst?

Nur. Ich glaube, eigentlich ist Musik eine Art Gottesdienst – wenn man das Wort Gott breit verstehen mag für die unbeantworteten Fragen des Seins. Ich bin an der Stelle schon ein sehr spiritueller beziehungsweise gottesfürchtiger Mensch.

Würdest du sagen, du bist Christ?

Nein, ich bin Atheist. Aber ich habe einen großen Respekt vor allem, was sich Menschen ausdenken. Religion, Wissenschaft, Kunst. Einfach, weil es philosophische Fenster in Bereiche sind, die wir uns schlecht vorstellen können und über die wir uns nie einigen werden. Und ich finde, dass die Musik und die Kunst immer noch einen fruchtbaren Weg darstellen, um sich diesen Fragen zu nähern. Man erfährt die Spiritualität und das Göttliche durch die Musik in sich selbst. Und man wird zum Schöpfer und bekommt eine Vorstellung davon. Ich finde eigentlich alle Auskleidungen, die nicht unter der kapitalistisch-protestantischen Zwangsordnung stattfinden, interessant. Die ist übrigens auch eine spirituelle Praxis, in der das Geld zur Religion geworden ist. In der Kunst liegt immer eine gewisse Unmöglichkeit und Sinnlosigkeit. Ein Glück, das man nicht erreichen oder archivieren kann. Es ist immer nur dieser Prozess, dieses neu Aufstehen. So stelle ich mir jemanden vor, der fromm ist: Er schläft glücklich, an Gott glaubend, ein, aber am nächsten Tag muss er die Liebe zu Gott neu beweisen. Ich glaube, am sinnvollsten beschäftigt man sich mit all diesen Themen aus einer gewissen Demut heraus. Die Demut, etwas nicht verstehen zu können. Etwas begleitet dich oder du begleitest es, aber es gibt kein wirkliches Ziel. Es gibt keine Alternative, aber auch keinen Zwang.


„Ich bin in erster Linie daran interessiert, etwas zu erzeugen, das die Leute nicht so schnell vergessen. Bei dem sie das Gefühl haben, davon inspiriert zu sein.”

Nils Frahm

Hast du Momente, in denen du das Gefühl hast, dieses Etwas zu berühren?

Witzigerweise meistens nicht in der Musik. Manchmal in Momenten, wo ich sonst sauer geworden wäre, aber gelernt habe, einfach da zu sitzen und zuzuhören. Ich kann mir Stücke anhören, die eine Stunde lang sind, ohne an etwas anderes zu denken. Für mich hat das was mit Fleiß, mit Frömmigkeit und Demut zu tun.

Wie drückst du diese Demut in deiner Musik aus?

Früher war mein Ziel, einen body of work zu haben. Heute denke ich, dass es schöner wäre, mit Wasser auf Stein zu malen. Sodass das Erschaffene auch wieder verschwindet. Das ist bei Konzerten schon ziemlich toll. Man erschafft etwas, dass gleichzeitig zerfällt.

Nils Frahm Stühle unscharf by Moritz Hoffmann

Trotzdem bringst du ein Live-Album raus.

Ich wollte immer Alben machen. Es ist für mich eine Art künstlerisches Statussymbol und zeigt, dass man als Künstler etwas wert ist. Andererseits sind Alben für mich natürlich eine Bedingung, um Geld zu verdienen.

Du meintest vorhin, du setzt eigentlich bloß Sachen neu zusammen. Trotzdem würden viele Leute sagen, dass Du eine klare eigene Stimme entwickelt hast.

Vielleicht ist beides möglich. Als Modedesigner nimmst du eine Hose aus den 50ern, ein Hemd aus den 70ern und einen Hut aus den 80ern und jemand sagt: Das ist ein total neuer Style. Aber ich bin in erster Linie daran interessiert, etwas zu erzeugen, das die Leute nicht so schnell vergessen. Bei dem sie das Gefühl haben, davon inspiriert zu sein. Was mich aktuell an elektronischer Musik langweilt, ist die fehlende Vorstellung, ganz andere Sachen hören, fühlen, erleben zu können. Es ist längst nicht alles gesagt. Wir haben immer noch wenig mit Synthesizern gehört oder live gesehen, das wirklich überwältigend gut ist. Selbst Aphex Twin spielt live nur mit wenig Equipment. Ich will die Leute arbeiten sehen, demütig. Ich will, dass sie alles Geld in die Szene, in Equipment, Reparatur, alles dahinter investieren. Leider geht es in der elektronischen Musik heute wie im Hip Hop viel um Branding und Marktanteile.


„Lieblingstracks ergeben sich auch aus einem Entlassenwerden in etwas Schönes. Das muss man sich verdienen.”

Nils Frahm

Deine Musik hat ja von Anfang an elektronische Elemente integriert. Du sagst, es ist längst nicht alles gesagt. Wie siehst Du die Beziehung von Klavier und Elektronik in deiner Musik?

Ich würde gerne nur Klavier spielen, wenn ich das Instrument noch mehr ausschöpfen könnte. Ich glaube, der Synthesizer war einfach eine schöne Abkürzung für mich. Don’t call it a bug, call it a feature. Es war mein Schicksal, nie der virtuoseste Pianist zu werden und auch nie der nerdigste Soundfrickler. Ich war immer weder Fisch noch Fleisch. Und irgendwann dachte ich, man muss das einfach mal probieren und irgendwie alles zu einem Ganzen werden lassen. Seitdem experimentiere ich in diesem dynamischen Spektrum zwischen leisen Klavierstücken und maximal lauten Momenten, die aus einer ganz anderen Welt zu kommen scheinen, und versuche, das zu verbinden. Sodass es ein Orchester wird, das man aus einem bestimmten Grund genau so zusammengestellt hat.

Wie bist du auf die Idee gekommen, verschiedene Stile miteinander zu verbinden?

Ich finde tolle Popmusik genauso spannend wie irgendein Noise-Projekt. Oder wenn John Cage ein Konzeptkunst-Ding macht. Wenn das für mich alles interessant ist, dann muss es doch irgendwie gehen, dass man alles miteinander kombiniert. Dass man sich gar nicht erst damit aufhält, dass es verschiedene Genres gibt. Ich gehe immer davon aus, dass die Leute einfach gerne Musik hören. Klar, ich komme noch aus einer Zeit, wo es Drum’n’Bass-Heads mit Dreadlocks gab, die haben nie was anderes gehört als Drum’n’Bass. Das war in den 90ern eine andere Art von Style-Politik, da gab’s die Popper, die Rocker, die Hopper. (lacht) Die haben sich dann gegenseitig verprügelt, wenn sie die falsche Musik gehört haben. Eigentlich schade, heute haben wir zwar gefühlt die Genregrenzen mehr überwunden, man kann alles miteinander fusionieren, aber es fehlt eben auch ein bisschen die Reaktion.

Meinst Du, es ist mittlerweile etwas schwieriger, die Leute zu schocken?

Schräge Sachen sind heute völlig ok. Im Zweifel hört es dann einfach keiner. Früher hat Stravinsky Le sacre du printemps geschrieben, dann wurde das aufgeführt, und er wurde dafür mit Tomaten beworfen. So wie sich das gehört! Wenn was Neues inszeniert wird, wird es erstmal scheiße gefunden. Aber es braucht diese Bühne. Wenn Du heute was machst, was keiner versteht, dann kommentiert es einfach keiner. Das ist eine Sache, wo ich keine richtige Antwort weiß. Ich kann den Menschen nicht helfen, weder den Künstlern noch den Zuhörern. Es scheint nicht mehr so wichtig zu sein, eine Dringlichkeit in ihr Projekt zu bringen.

Nils Frahm Mischpult by Moritz Hoffmann

Deine Stücke haben oft eine bestimmte Spannungskurve. Du kreierst Soundscapes, die eine Anspannung aufbauen, und lässt die Leute sich dann irgendwann entspannen. Ein prominentes Beispiel dafür ist vielleicht „Says”. Machst Du Dir darüber bewusst Gedanken?

Das ist eine Sache, die ich von Keith Jarrett gelernt habe. In seinen 40-Minuten-Stücken gibt es oftmals Zuckerbrot und Peitsche. Da kommt so ein komischer darker Boogie-Woogie-Matsch, und dann plötzlich kommt eine Melodie rein. Und dann zaubert er einen wunderschönen Moment. Das wirkt aber auch nur, weil du vorher zehn Minuten das andere gehört hast. Das war mir vorher nicht so richtig klar. Heute wollen Leute nur ihre Lieblingstracks hören, denen ist gar nicht klar, dass das so nicht funktioniert. Lieblingstracks ergeben sich auch aus einem Entlassenwerden in etwas Schönes. Das muss man sich verdienen. Du kannst nicht Marshmallows zum Frühstück, Marshmallows zum Mittag und Marshmallows abends essen. Auch den süßen Wein zum Nachtisch, den musst du mit harten, schwierigen Weinen erkämpfen. Es gibt dafür tausend Analogien, und immer wird klar, dass man Dynamik braucht. Das ist bei Konzerterlebnissen auch ganz wichtig, dass man vor dem leisesten Klavierstück auch mal einen lauten, brutalen Moment hat. Weil das dann erst radikal wirkt. Ich denke, dass manche Momente einfach besonders schön sind, weil sie ummantelt sind von etwas schwierigeren Parts.

Wir haben bereits über Vergänglichkeit gesprochen. Ist deshalb eventuell gerade der Herbst für dich eine besonders inspirierende Jahreszeit?

Den Herbst finde ich gut. Winter ist richtig scheiße, wenn alles weg ist. Dann hast Du nur noch so schwarze, karge, tote Biester in der Gegend stehen. Aber wenn der ganze Wald bunt ist, und es dann auch öfter regnet, dann ist das in Deutschland ein guter Moment, um sich mit Kunst zu beschäftigen. Wenn Du mal in den Süden guckst, wo das Wetter immer gut ist, da würde mir nicht so richtig einfallen, warum ich mich tagelang einschließen soll. Musik gehört nach Berlin, habe ich gemerkt, nachdem ich jetzt auch einige Zeit an anderen Plätzen verbracht habe. Musik gehört nach Berlin, nicht weil es hier so viele Musiker, Partys und Austausch gibt, sondern weil das Leben hier so karg und so trist ist, dass Musik eine unglaubliche Aufwertung bedeutet. So als würde man hier wohnen, um Musik zu hören.

Eine Boulevard-Frage drängt sich natürlich auf. Executive Producer des Live-Albums ist Brad Pitt. Wie kam’s? Habt ihr irgendwie Kontakt gehabt?

Wir kiffen beide einfach sehr gerne (lacht). Ne, das war eine total absurde Geschichte. Manchmal ist es so, dass man Glück hat und sehr berühmte Menschen auf einen zukommen und deine Musik gut finden. Die merken dann, dass viele ihrer Freunde das noch nicht kennen, und wahrscheinlich hat sich Brad dann gedacht: „Ich will Nils Frahm mal ein bisschen bekannter machen.” Seitdem tut er viel, um uns zu helfen oder uns beizustehen. Das ging vor zwei Jahren los. Da wollte er die Filmmusik für Ad Astra mit uns machen. Wir konnten das nur zum Teil. Er hat dann zwei, drei Tracks für den Film lizenziert, aber eigentlich war der Score von Max Richter. Aber wir blieben in Kontakt. Und die kamen auch mehrere Male zu den Konzerten auf der US-Tour. Dann haben wir von dem Live-Konzertfilm gesprochen, und die meinten dann: „Ey, wenn ihr Hilfe braucht mit Kontakten für Filmvertriebe oder -verleihe oder irgendwas, sagt uns Bescheid.” Wir haben direkt gefragt, ob sie nicht Executive Producer werden wollen, und sie haben zugesagt. Sie haben uns auch viele nützliche Tipps gegeben. Es war total cool, zu sehen, wie viel Ideen auch Brad hatte: „Der Schnitt, die Kamera, das muss so und so.”

Nils Frahm Klaviere von oben by Moritz Hoffmann
Frahms Setup im Funkhaus

Als Du ins Funkhaus eingezogen bist, war das ein großes Ding und hat dich spürbar inspiriert. Jetzt bist du schon ein bisschen länger in deinem Studio. Ziehst du immer noch viel aus der Umgebung?

Jetzt kommt’s endlich dahin, wo man sich nicht mehr so viel damit beschäftigt. Das ist eigentlich noch besser. Es ist eher im Hintergrund. Am Anfang war es mir einfach zu groß und zu überwältigend. Ich bin da reingegangen und habe gedacht: „Uff, wow.” Und beim Spielen hab’ ich an die Wand geguckt und gedacht, ich muss woanders hingucken, und wusste nicht wohin. Da musste man kurz grinsen und sich fragen: „Sag’ mal, spiele ich hier gerade einen Take?”. Aber es ist nicht gut, dabei über solche Sachen nachzudenken. (lacht). Oft ist deshalb auch ein rotziges, kleines Studio gut, weil’s dann total egal ist. Man ist dann aufs Wesentliche fokussiert.

Gibt es eine Sache, mit der Du dich gerne mehr beschäftigen würdest?

Mittlerweile denke ich, ich würde mich lieber mehr mit Schamanismus beschäftigen. Weil ich glaube, ich bin eine Art Medizinmann, der mit Tönen arbeitet und gar nicht so primär ein Komponist. Das heißt, ich heile mich selber durch meine Musik und habe das Gefühl, für manche andere wirkt das auch auf irgendeine Art. Es ist schön, das nicht für Probleme einzusetzen, sondern eher so zu nutzen wie im schamanistischen Sinne vielleicht Drogen. Weil man mal kurz in eine andere Ebene eintauchen kann. In Kontakt tritt zu irgendwas und Vertrauen schaffen kann. Mittlerweile bildet sich da eine Art Familie, die Vertrauen hat in diese Quelle von Inspiration. Ich denke, solange man diese Art der Inspiration irgendwie am Laufen hält und den Menschen immer wieder die Hoffnung macht, dass bei Nils Frahm noch nicht alles tot ist, läuft’s. Das merkt man ja sonst bei Künstlern relativ schnell. Aber solange das noch irgendwie geht, erzeugen wir, glaube ich, das, wofür wir gewählt wurden. Das ist eine unglaublich schöne Aufgabe. Mein Vater, auch ein toller Künstler, meinte mal: „Ein Fotograf macht in seinem Leben nur ein Bild und das wiederholt er immer wieder.” Auch ich mache immer das eine Lied. Ich nehme immer wieder verschiedene Versionen davon auf, mache verschiedene Konzerte, nähere mich dem immer wieder an und suche es, wie ein topfschlagendes Geburtstagskind.

Meinst Du nicht, dass auch ein neues Lied entstehen kann, wenn sich auch die Persönlichkeit mitentwickelt?

Brüche finde ich ganz spannend. Man kommt dann entweder näher zu sich oder driftet weiter weg. Es gibt Künstler, die meine These ad absurdum führen, klar. Zum Beispiel Miles Davis. Der hat sehr viele verschiedene Phasen gehabt. Gut, bei 140 Alben. (lacht) Aber wenn er diesen einen Ton spielt, dann spielt er eben diesen Ton immer wieder. Es ist immer dieser Sound. Das ist immer wieder dieser Miles-Davis-Moment. Wahrscheinlich dreht man sich während all seinen verschiedenen Phasen – die man auch gerade in der Pubertät durchmacht – immer um sich selbst und kommt irgendwann zu einem Punkt, wo man sagt: „Das gleiche, das ich jetzt bei Technomusik gut fand, fand ich auch im Punk oder in der Klassik gut.”

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