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Marcel Dettmann & Vril: Der Sound befindet sich schon in einem selbst

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Marcel Dettmann & Vril (Fotos: Sven Marquardt/ Vril)

Vril und Marcel Dettmann kennen sich schon länger, im Frühling haben sie zum ersten Mal zusammengearbeitet: Da ist Vrils viertes Album auf Dettmanns Label Bad Manners erschienen. Für das Gespräch über ihre Musikerfreundschaft, das wir mit beiden Mitte Mai über Zoom führten, erreichten wir Vril umgeben von einem Sammelsurium aus Synths und DJ-Equipment in seinem Studio in Hannover. Marcel Dettmann schaltete sich aus seinem Gästezimmer in seiner Berliner Wohnung zu, in das er sich vor dem Familientrubel zurückgezogen hat.

Unser Autor Julian Eichelberger wollte von beiden wissen, wie sie sich kennengelernt haben, wie die Zusammenarbeit an dem Bad Manners-Release aussah und wie sie die Auswirkungen von Corona auf die Szene einschätzen. Außerdem haben wir erfahren, was Beethoven über Aphex Twin gedacht haben könnte und wie man als junge*r Künstler*in in der schwierigen Zeit auf der richtigen Fährte bleibt.


Marcel Dettmann hat dich, Vril, bereits auf seinem Conducted-CD-Mix für Music Man Records vorgestellt und auch auf anderen ausgewählten Compilations. Woher kennt ihr euch und seit wann tauscht ihr Musik aus? Wie hat sich das ergeben?

Marcel Dettmann: Das ist eine sehr gute Frage. (lacht) Also ich habe damals im Hardwax gearbeitet, als 2010 Vrils erste Platte (1-4) reinkam. Ich weiß noch, dass ich sofort Fan war, deshalb kam die später auch mit auf den Mix. Wir sind uns dann öfter begegnet, aber so richtig intensive Gespräche haben wir erst auf Festivals geführt. Zum ersten Mal in Belgien in der Gegend von Antwerpen zusammen mit Sven Väth.

Vril: Wir haben uns in den letzten Jahren des Öfteren auf Reisen getroffen, aber das allererste Treffen war bei meinem zweiten Berghain-Gig. Wir wechselten kurz ein, zwei Worte miteinander, ich wollte Marcel auch nicht groß stören beim Auflegen. So richtig gesprochen haben wir aber dann in Belgien. Vor drei oder vier Jahren habe ich Marcel dann Tracks geschickt und hatte dies schon längst wieder vergessen, als er dann irgendwann antwortete und meinte: „Lass uns mal treffen, wir müssen reden!” Dann sind wir eine von ihm erstellte Playlist mit meinen Tracks durchgegangen. 2019 waren wir dann zusammen in Tokio, als ich ihn bei einem seiner Gigs besucht habe. Marcel hat dort und eigentlich das ganze Jahr über die Tracks des Albums gespielt. Da habe ich gemerkt, dass er es anscheinend ernst meint. (lacht)

Marcel Dettmann (Foto: Sven Marquardt)

Wie ist es, nicht zu touren und die ganze Zeit zu Hause zu sein? Habt ihr das Gefühl, gerade jetzt kreativ sein zu müssen oder ist es auch ok nichts zu tun? Marcel, du hast ja auch Kinder, wie bewältigst du das?

MD: Das ist schon eine besondere Herausforderung. Aber wahrscheinlich ist das ein Jahr, auf das man irgendwann sowohl kritisch als auch positiv zurückblickt. So eine intensive Zeit mit meiner Familie hatte ich, seitdem unsere Tochter auf der Welt ist, nicht mehr. Das ist schon toll, unsere Kinder nochmal von einer ganz anderen Seite kennenzulernen. Sonst bin ich nur der Papa, der sie in der Woche in die Kita oder in die Schule bringt, abholt und Abendbrot zubereitet. Danach geht es oft schon ins Bett. Mehr ist es leider oft nicht, weil ich am Wochenende immer unterwegs bin. Gerade bestellen wir einmal die Woche einen regional-saisonalen Gemüsekorb, dann mache ich mir einen Plan, was ich daraus bastle. Wenn wir dann zusammen mittagessen, fällt mir auf, dass ich das gar nicht so kenne. Normalerweise essen meine Kinder in der Schule zu mittag. Am Wochenende bin ich im Hotel und bestelle den Room-Service. Das ist großartig, dass ich dafür gerade Zeit habe.

Kommst du auch zum Produzieren?

MD: Schon, und das genieße ich auch. Ich nutze die Zeit aber gerade eher, um mir mal richtig Gedanken zu machen – über Konzepte, neue Projekte und im Allgemeinen darüber, was für die Zukunft Sinn machen könnte. Und hin und wieder mache ich auch einen Remix.

Und du, Vril?

V: Mir geht es eigentlich sehr gut. Ich stehe morgens oder mittags auf, fahre mit dem Fahrrad in den Wald oder Park, lese eventuell ein Buch. Für mich hat es auch was Gutes, dass dieses ganze Reise- und Gig-Karussell gerade mal stehenbleibt. Ich war jetzt fast zehn Jahre an den Wochenenden unterwegs. Da habe ich mir schon ab und zu gedacht, dass es mal schön wäre, für eine Weile zu entschleunigen. Trotzdem vermisse ich es gerade, für die Leute live zu spielen und global in Bewegung zu sein.

Du hast ja kürzlich eine Doppel-EP auf Marcel Dettmanns 2019 gegründeten Label Bad Manners rausgebracht. Was habt ihr euch dabei gedacht? Das Release erschien ja auch auf Platte, verändert sich durch die Krise da irgendwas?


„wo kommen wir denn da hin, wenn es jetzt keine Musik und keine Releases mehr gibt?”

Marcel Dettmann

V: Natürlich ist das eigentlich eine Platte, die in ihrer Zusammenstellung eher für DJs, zum Tanzen und für Festivals gedacht war, aber das ist jetzt gerade nicht gegeben. Ich bemerkte aber früh, dass die Musik auch bei diesem Release wieder fernab des Dancefloors funktioniert. Grundsätzlich habe ich beim Produzieren eher weitergehende Gedanken und Ziele als die der Kompatibilität. Bis jetzt lief es auch sehr gut, gerade wenn ich sehe, wie viel gestreamt wird. Klar könnte ich die Platte in den Clubs jetzt noch mehr als Teil meines Livesets ausleben. Aber das kann ich vielleicht dann nachholen, wenn sich alles wieder etwas beruhigt hat.

MD: Wir hatten ja auch kurz thematisiert, ob wir Releases jetzt zurückstellen. Und ich habe mich ganz klar dafür entschieden, dass wir da nichts zurückhalten. Ich meine, wo kommen wir denn da hin, wenn es jetzt keine Musik und keine Releases mehr gibt? Es muss ja weiterhin etwas passieren. Klar, Vrils Platte ist auf jeden Fall DJ-Material. Ich habe auch jeden Track öfter in meinen Sets gespielt, das ist für mich ganz klar eine Club-Platte. Aber ich kann mir die auch gut so anhören, die macht echt Spaß!

Wie lief das denn ab mit dem Release? Vril meinte ja bereits, dass ihr euch mal zusammengesetzt habt, um eine Playlist durchzugehen. Wie war die Zusammenarbeit?

V: Normalerweise arbeite ich für ein Album meistens schon mit einer Art Konzept, aber dieses Mal haben wir gemeinsam viel über die finale Version gesprochen und gemeinsame Entscheidungen getroffen. Ohne Marcel wäre ich nicht zu dieser Zusammenstellung gekommen. Jetzt bin ich sehr zufrieden mit dem, was dabei herauskam.

MD: Das ist aber auch das, was ich an dem eigenen Label so liebe. Ich will nicht nur die Musik kuratieren, sondern diesen ganzen Prozess mitmachen, das finde ich sehr spannend. Bei Vril waren das fast 30 Tracks – die waren alle da und alle echt großartig. Ich meinte zu ihm: „Schick mir doch mal alles durch, egal ob Experimental, Ambient, House, Electro, Techno, ich will einfach alles hören, um dann auch ein gutes Paket zusammenstellen zu können.” Am Ende haben wir uns Ideen hin- und hergeschickt, Sachen nochmal gekürzt oder leicht abgeändert. Wir haben da einen guten gemeinsamen Weg gefunden.

Bad Manners 4

Wie seid ihr zum Artwork gekommen?

V: Bad Manners haben mit den Künstler*innenkollektiv 200 Kilo zusammengearbeitet. Ich hatte vorab eine Art Moodboard geschickt, so im Retrofuturismus-Stil eines russischen Künstlers aus den 60er. Dann kam von denen etwas zurück, das mit meinen Vorschlägen irgendwie gar nichts zu tun hatte. (lacht) Nämlich dieser zerglitchte Scirocco (PKW, d.Red.). Der ist wohl zuerst am Computer mit Artefakten verzogen und dann in Handarbeit samt dieser digitalen Verzerrung gemalt. Das ist ungefähr so, als würde man ein aufgenommenes Orchester von einer CD abspielen und dabei extra Sprünge erzeugen, um diese dann wiederum danach in Handarbeit mit selbigem Orchester nachzuspielen. Das hat mir total gefallen, das hatte ich zuvor noch nie so gesehen. Zudem bin ich auch ein 80er-Freund, und mit dem Scirocco von damals habe ich dann relativ schnell gemerkt, dass das passt.

MD: Ich stehe auch total auf Science-Fiction aus den 70ern und 80ern, das war meine Kindheit und Jugend. Ich finde es total wichtig, diese Dinge zu adaptieren, dann aber nach 2020 aussehen zu lassen. Ich glaube, das ist mit dem Artwork ganz gut gelungen.

Der letzte Track auf der Platte, „Free World Order”, tanzt stilistisch so ein bisschen aus der Reihe, was hat es damit auf sich?

MD: Das ist für mich eine Disco-Nummer.

Vril: Ich hatte Marcel ja eigentlich eher Techno-Tracks geschickt. Er meinte dann irgendwann: „Sag mal, hast du auch was Disco-mäßiges?” Und ich war erst etwas verwundert, wie er jetzt darauf kommt. Ich erinnerte mich dann und meinte: „Klar habe ich noch einen Disco-Track!” Wenn ich jetzt wieder drüber nachdenke, fällt mir erneut auf, wie gut die Zusammenarbeit im Endeffekt war.

MD: Es ist super, wenn man einem Künstler nicht viel sagen muss. Da kommt einfach was, und das findet man gut. Es gibt ja auch diesen Spruch: Über Musik zu reden ist, wie zu Architektur zu tanzen.

V: Wir haben gemeinsam bei manchem Song strukturell noch Details verändert. Hier mal einen Anfang, Sachen im Mixdown oder ein paar andere Kleinigkeiten.

MD: Das waren in deinem Fall vor allem Kürzungen, weil die Tracks teilweise neun Minuten lang waren. Kann man die nicht auch auf fünf Minuten bringen? (beide lachen)


„Mir war es immer wichtig, auch in kleinen Clubs zu spielen. Da komme ich her. Ich bin ein klassischer Club-DJ, da bin ich groß geworden. Ich fand es immer wichtig, den Kontakt zum Publikum zu haben.”

Marcel Dettmann

Zu dem Track „Scalar” gibt es auch ein Musikvideo. Was hat es damit auf sich? Wie entstand es?

V: Es sollte kein Video sein, in dem man audiovisuelle Noises einfach hintereinander schneidet, sondern schon eine rote Linie haben. Zuerst hatte ich dem Label ein paar Stichworte, Erläuterungen und Ideen geschickt, was ich mir inhaltlich und als Stimmung für das Video vorstellen könnte. Danach bekam ich ein PDF von Lewis Lloyd, dem Regisseur. Dort hatte er diese Ideen perfekt erweitert und in Form gebracht. Da wusste ich, dass es mit ihm passt. Wir haben uns sogar bei mir im Studio getroffen und ein paar Clips aufgenommen. Je weiter es ging, desto mehr sah ich eine Art Überthema in diesem Video, das man als „Hybris der industrialisierten Menschheit” definieren könnte. Der Mensch schafft ja Maschinen und Algorithmen, die ihm längst enteilt sind. Das wird unter anderem auch sichtbar bei Themen wie der Umweltverschmutzung oder den Produkten und Problemen der fortschreitenden Digitalisierung. Dabei tauchen immer wieder neue Schwierigkeiten auf und global versucht man dann weitere Programme, Maschinen und Algorithmen herzustellen, um diese Probleme zu lösen. Dieser Sachverhalt wurde mir während der Produktionsphase des Videos, aber auch durch das Buch Metaphysik zur Zeit von Armen Avanessian, das ich zu der Zeit las, immer mehr bewusst. Das Video beginnt dementsprechend turbulent, am Ende wird es dann etwas ruhiger und die Bilder sollen darauf verweisen, dass das eigentliche Potenzial des Menschen vermutlich eher in ihm selber, in der Erweiterung des Geistes liegt. Nicht in einer nächsten Maschine, künstlicher Intelligenz oder einem weiteren Algorithmus.

 

Was, denkt ihr, ist besonders wichtig, um in der aktuellen Situation als Künstler*in für die Szene interessant zu bleiben?

MD: Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Ich bin eher so der Typ „Weniger ist mehr”. Lieber den Fokus auf das Wesentliche lenken und überlegen, was für einen selbst am interessantesten ist. In erster Linie muss es für jeden selbst gut passen und man muss da auch voll dahinter stehen können. Gerade ist das für mich vor allem die Label-Arbeit.

V: Mich als Person promote ich nicht primär mit meinem Projekt. Ich zeige nicht, was ich privat mache. Ich sehe die Stärke eher in den Releases und ihrem Kontext. Deswegen war es für mich eigentlich auch perfekt, dass ich genau jetzt wieder eine Platte samt ästhetischem Video herausbringen kann. Auch Live-Streaming kann ich mir vorstellen, ich weiß aber noch nicht, wie ich das genau machen würde. Diese Streams sind eine gute Sache, aber sie wirken des öfteren leider auch eindimensional.

Würdest du dich denn in einem Stream zeigen wollen?

V: Da würde ich mir etwas einfallen lassen. So komplett unerkannt bin ich ja eh nicht mehr, da ich ja schon länger unterwegs war.

Vril (Foto: Lewis Lloyd)

Was ist euch bei eurer Musik besonders wichtig?

V: Mein Konzept, mich selbst mehr im Hintergrund zu halten, ist viel von den frühen 90ern beeinflusst. Letztlich ist das aber auch meinen ersten Platten geschuldet. Für die Zuhörer*innen und mich stand da vermutlich eher die Musik und die damit verbundene Grundstimmung im Vordergrund. Zu meiner Person gab es eh keine Informationen. Diesen Ansatz behalte ich grundsätzlich so bei. Deshalb schalte ich auch in dieser speziellen Situation nicht noch einen Gang hoch auf Instagram oder anderen Kanälen.

MD: Jede*r so, wie er sich wohl fühlt. Solange man sich nicht verstellt, real und unterhaltsam bleibt, finde ich das gut, ganz egal, wie viel man postet. Aber klar, jetzt geht erstmal die Sicherheit vor, man muss die Füße stillhalten, so hart das auch ist. Man sollte jetzt nicht anfangen, Sachen zu machen, die man vielleicht irgendwann bereut. Da muss man sich auch ein bisschen von der Situation leiten lassen.


Wenn so jemand wie Beethoven Aphex Twin hören würde, würde er vielleicht sagen: „Ach so, Wahnsinn! Das ist möglich? Das wollte ich auch.”

Vril

Was haltet ihr von Livestreams? Wie reagiert die Szene aus eurer Perspektive? Und spürt ihr da Solidarität?

V: Also ich spiele oder spielte des Öfteren auf großen Raves, aber noch mehr in Clubs, was ich auch sehr mag. Doch je länger die Clubkultur weltweit stillsteht, desto mehr verschwinden diese von der Bildfläche. Diese Flächen und Locations bekommt man vermutlich nie wieder zurück. Das Netzwerk weltweit ist riesig. Da kennen sich unglaublich viele Personen, die gemeinsam alles zusammenhalten. Man kann sich das wie unzählige kleine, über Jahrzehnte angelegte Verästelungen vorstellen und genau diese komplexen Verbindungen sind nun von der Krise bedroht. Die größeren Veranstaltungen bleiben vermutlich eher bestehen. Die haben sich über die letzten Jahre finanziell aufgebaut und können das gerade wohl noch eher überleben. Aber die Schäden dort sind natürlich auch immens, wie ich mir vorstellen kann.

MD: Die kleinen Club-Gigs sind jetzt auch erstmal alle gecancelt, die großen Festival-Auftritte wurden um ein Jahr verschoben. Da haben es die Clubs einfach schwieriger. Wir müssen da auf jeden Fall alle unseren Beitrag leisten. Es wird nicht so weitergehen, wie wir aufgehört haben, das ist mittlerweile allen klar. Mir war es immer wichtig, auch in kleinen Clubs zu spielen. Da komme ich her. Ich bin ein klassischer Club-DJ, da bin ich groß geworden. Ich fand es immer wichtig, den Kontakt zum Publikum zu haben. Für mich ist das auch immer eine Challenge, die Besucher*innen von meiner Art von Musik zu überzeugen. Diese Challenge brauche ich auch, die vermisse ich gerade. Ich würde jetzt so gerne Vrils Platte hoch und runter spielen, kann ich aber eben nicht. Ich könnte jetzt natürlich auch jede Woche einen Stream machen, aber das macht man jetzt einmal und dann reicht es fürs Erste. Für mich sind Streams vor allem dann gut, wenn die Leute danach in den Club können.

V: Streams haben irgendwie nicht so das riesige Potenzial, das sehe ich ähnlich. Auf Dauer können Streams das echte Erlebnis nicht ersetzen.

Vril (Foto: Lewis Lloyd)

Was inspiriert euch am meisten, gerade am Ball zu bleiben? Und habt ihr dabei Vorbilder?

MD: Was mich am meisten inspiriert, ist der Spaß, den ich immer noch an allem habe, und die Leidenschaft. Es gibt nichts anderes für mich, ganz einfach.

V: Mich motiviert unter anderem, dass ich immer wieder ein neues Release machen kann, welches dem Vorangegangenen nicht ähneln muss. Ich finde ich es toll, dass die Leute, die meine Musik verfolgen, dann auch mitgehen.

MD: Das ist witzig, dass du das so sagst, weil ich das genau so über meine Musik denke.

V: Aber vielleicht denken das viele Musiker*innen, meinst du nicht?


„Ich kann generell nur empfehlen einfach immer weiterzumachen, wenn es das ist, was man wirklich machen will.”

Vril

MD: Aber trotzdem hat man da so einen roten Faden drin, das ist auch bei deiner neuen Platte so. Man hört dich raus, auch wenn es in neue Richtungen geht.

V: Die Platte geht ein bisschen zurück zu den Anfängen und hat wieder diesen Club-Drive meiner ersten Arbeiten. Dazwischen hatte ich auch Veröffentlichungen mit anderen Inhalten, das macht es auf Dauer interessanter für mich. Als Kontrast bringe ich nach fast zwei Jahren bald wieder einen neuen Podcast heraus. Der geht mehr in eine experimentelle Richtung und zeigt, was ich derzeit im Studio so mache. Wie viele andere bin ich seit der ersten Stunde von Aphex Twin begeistert. Ich glaube, dass seine Werke noch in 100 Jahren interessant sein werden. Wenn so jemand wie Beethoven Aphex Twin hören würde, würde er vielleicht sagen: „Ach so, Wahnsinn! Das ist möglich? Das wollte ich auch.” Ich meine das aber eher metaphorisch. Ich stehe da sonst nicht drauf, Leute zu einem Superlativ zu erheben, aber Aphex Twin ist eben einer dieser Pioniere. Und viele andere für mich auch. Kraftwerk, Tangerine Dream, Klaus Schulze, und so weiter.

MD: Es ging jetzt aber um Vorbilder in der Krise.

Vril: In der Krise finde ich wichtig, dass jeder Mensch sich selbst ein bisschen infrage stellt. Jeder hat irgendwie Angst, dass er oder seine Lieben erkranken. Man wird durch diese Erfahrungen wieder etwas intensiver fühlen, dass man ein biologisches, verletzliches Wesen ist, bewusster mit den Dingen umgehen und eventuell daraus lernen. Ich glaube, dass ein Vorbild in der Krise gar nicht so richtig hilft, sondern dass jetzt jeder angehalten ist, seinen eigenen Weg zu finden.

Marcel Dettmann: So sehe ich das auch. Im Prinzip kann man sich kein Vorbild suchen, weil man seinen eigenen Weg finden muss, in seiner eigenen Welt. Wie man sein Leben führt und in welcher Konstellation.

Marcel Dettmann (Foto: Sven Marquardt)

Was sind eure Ziele für dieses Jahr?

MD: Nachdenken, eventuell andere Richtungen ausprobieren und überlegen, was man normalerweise während des Tour-Alltags nicht so machen kann.

Vril: Ich versuche, das Jahr zu nutzen, um meine Batterie neu aufzuladen und mich mit anderen Leuten auszutauschen; auch speziell zu dieser Situation. Man sollte jetzt ganz genau schauen, wie man zusammen, in der Szene, weitermachen kann. Es degenerieren wie gesagt derzeit viele der jahrzehntelang angelegten Strukturen in der Branche. Um das alles wieder gemeinsam aufzubauen, müssen vielleicht alle Künstler*innen, Clubs und so weiter am Anfang erstmal wieder eine gewisse Mehrleistung erbringen.


„Als ich ’99 im Ostgut angefangen habe aufzulegen, war für mich Techno eigentlich schon vorbei.”

Marcel Dettmann

Ihr beide seid Vorbilder in der Szene – fühlt ihr da gerade jetzt vielleicht eine Verantwortung, irgendwas weiterzugeben? Was könnt ihr Nachwuchskünstler*innen empfehlen und wovon ratet ihr ab?

MD: Auf meiner Facebook-Seite hatte ich mal einen Post mit meiner Familie gemacht, in dem ich meinte: „Bleibt jetzt mal alle zu Hause, dann kommen wir umso stärker wieder zurück.” Ich meine damit, dass wir versuchen sollten, jetzt erstmal alle gesund und in Sicherheit zu bleiben. Für mich ist das momentan der beste Weg. Hoffentlich dauert das nicht allzu lange. Für Nachwuchskünstler*innen ist die Situation äußerst schwierig. Wenn ich wüsste, was man jetzt machen soll, würde ich es sagen. Ich finde es auf jeden Fall wichtig, dass man die Lust nicht daran verliert, seine Musik mit anderen zu teilen. Das wäre, glaube ich, das Schlimmste. Ansonsten muss man versuchen, stark zu sein und, so gut es geht, weiterhin am Ball zu bleiben. Da müssen alle gerade zusammenhalten.

V: Das ist bestimmt ziemlich bitter. Die Karriere fängt gerade an, man hat die Zeit seines Lebens und die Leute haben richtig Bock auf die Mucke, die man macht. Wenn dann wegen der Covid-19-Krise alles erstmal endet, ist das hart. Natürlich nicht nur für sogenannte Newcomer*innen, sondern für alle tourenden Künstler*innen. Als Musiker*in braucht man echt viel Ausdauer. Ich kann generell nur empfehlen, einfach immer weiterzumachen, wenn es das ist, was man wirklich machen will.

Wie wird sich die Szene musikalisch verändern? Denkt ihr darüber nach, was ein neuer Trend in der Szene für euch bedeuten könnte?  

MD: Als ich ’99 im Ostgut angefangen habe aufzulegen, war für mich Techno eigentlich schon vorbei. Ich dachte, dass da schon alles gesagt war, und dann ging es erst so richtig los. Und das war vor 20 Jahren.

V: Das Problem bei Trends ist, dass, wenn man sich einem anpasst und angesagt ist, man schnell wieder draußen sein kann aus dem Ganzen. Nämlich genau dann, wenn der Trend vorbei ist. Deshalb ist es vielleicht ganz gut, sich an der Zeitlosigkeit der elektronischen Musik zu orientieren und nicht unbedingt an dem, was temporär vorherrscht. Das soll aber alles bitte nicht zu wissenschaftlich klingen. Ein doper Track ist ein doper Track – fertig.

Foto: Vril

Marcel Dettmann: Das ist genau der Punkt. Wenn man sich von seinem musikalischen Geschmack leiten lässt, kann man eigentlich nicht viel falsch machen. Das ist das Wichtigste. Wenn man denkt: „Ich will jetzt erfolgreich sein, da mitmachen und diese Musik machen”, dann wird es nicht funktionieren. Auch ein Aphex Twin oder Kraftwerk haben total verschiedene Sachen gemacht. Ich könnte auch ein House-Album machen, das ich wahrscheinlich nie veröffentlichen werde. Ich liebe einfach elektronische Musik – es gibt für mich nur gute und schlechte Musik, das ist mein persönlicher Geschmack. Da hat jeder über Jahre seinen eigenen Geschmack entwickelt, aber da kann man nicht über ein bestimmtes Genre reden.


„Der Sound befindet sich schon in einem selbst. man muss da versuchen, in sich hineinzuhören.”

Vril

Wenn man viel zeitlose Musik hört wie die von Aphex Twin oder Kraftwerk, ist es also wahrscheinlich, einen ähnlichen Output zu haben?

V: Nein. Heute kann jede*r einfach mit dem Laptop anfangen, Musik zu machen und bekommt manchmal ein völlig außerweltlich-gutes Ergebnis. Man muss nicht unbedingt diese ganzen Referenzen kennen, um gute Musik zu machen. Und man braucht auch nicht unbedingt dieses eine Gerät. Die Vorstellungskraft des Einzelnen ist meiner Meinung nach das Wichtigste. Der Sound befindet sich schon in einem selbst. Man muss da versuchen, in sich hineinzuhören.

MD: Dieses Interesse für Musik weckt man zum Beispiel, wenn man auf Festivals spielt, wenn die Kids dann vielleicht für einen anderen Act kommen, dann deine Musik hören und denken: „Wow, was ist das denn, das habe ich ja so noch nie gehört.” Dann fangen sie vielleicht an, immer tiefer in diese Musik einzutauchen. Ich weiß noch, wie ich damals 1992 nach meiner EBM-Phase mit Techno angefangen habe. Das fing mit Trance, Gabber und so Geschichten aus Belgien an. Irgendwann kam ich dann immer tiefer rein und habe Detroit, Chicago House und Techno entdeckt. Diese Musik ist bis heute sehr wichtig für mich.

Marcel Dettmann (Foto: Sven Marquardt)

Wie kann denn dann etwas Neues entstehen?

V: Wenn jedes Wochenende Partys stattfinden und alle irgendwie dabei sein wollen, zudem oft die gleichen Geräte in den Studios stehen, gibt es schon das Potenzial, dass sich viele auf einen gleich klingenden, linearen Techno-Sound einfahren. Das ist schon ein bisschen schade, da diese Musik auf Partys dauerhaft wohl nur durch ihre Diversität interessant bleibt. Deshalb finde ich es gut, dass sich das derzeit wieder auflockert und mehr gebrochene Beats oder zum Beispiel auch alte und neue Miami Bass-artige Tracks zu hören sind. Ob es das dann schon mal gab oder nicht, ist für mich absolut unwichtig. Ich begrüße diese Art der Kulturrückführung sehr.

MD: Für mich ist das wie Malen nach Zahlen: Da macht einer etwas, was funktioniert. Dann versuchen es alle nachzumachen. Das wird immer so sein und es wird immer Leute geben, die das gut können. Andere Leute können es vielleicht nicht so gut. Dann gibt es auch Acts, die kopieren Sachen und entwickeln dadurch ein neues Genre. Das ist genau so wichtig. Früher war das aber nicht so inflationär, da hat man sich immer dreimal überlegt, ob man was veröffentlicht. Heute knallt man das alles raus.

V: Heute hat auch jeder diese power-to-the-people-Option. Ich meine, jeder kann sich theoretisch zu einem relativ erschwinglichen Preis eine TR 808 oder ähnliches kaufen und verfügt erstmal über einen grundsätzlich authentischen Klang. Das ist einerseits gut, andererseits verwässert dadurch aber auch der Sound, da vieles gleich klingt.

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