burger
burger

Januar 2020: Die einschlägigen Compilations

- Advertisement -
- Advertisement -

FIGS Compilation (Future Times)

Als 50. Release von Future Times ist im vergangenen Herbst FIGS erschienen – jeden Werktag ein Track, bis die Wundertüte komplett war. 23 Tunes hat Andrew Field-Pickering alias Maxmillion Dunbar darauf versammelt. Neben einigen bereits bei Future Times auffällig gewordenen Acts wie Motion Graphics („Stock Murmurations” fesselt die Aufmerksamkeit mittels hyperventilierender Flötentöne), Beautiful Swimmers, Field-Pickerings Duo mit Ari Goldman, OV ( „Otomo Bikes” fasziniert durch Spielarkadensounds im Minimal-Wave-Metrum) oder Will DiMaggio, dessen „Nice Vibe At The Dance” ebenfalls zu den Highlights hier zählt, gibt es viel Frisches und Neues zu entdecken, etwa den psychedelischen Techno-Twist „BB” von Geo Rip oder das sinister housige „Melrose Stroll” von Trackstars. Dazu kommen grandiose Team-Ups wie Jordan GCZ + Dreamcast (seltsamer Nearly-Synthiepop: „Acid Next To You”), Martyn x Dolo Percussion („Misfit City Rolling” ist neben rRoxymores famosem „Asmatik Garage” und Joyces „Active Recovery” einer der wenigen Breakbeat-Tracks) oder Garies (Lumigraph und New Jackson), in deren „Don Bongo” genauso Manuel Göttschings „E2-E4“ anklingt wie in Terekkes „Afrogerti (Euro Mix)”. Spitze: Doc Sleeps so introspektives wie suggestives „Mirror Lake”. Beeindruckend besetzt auch die Downtempo-Schiene mit You’re Me Band („Luxuria” – Special-Tip!) und 5am („Today”). In seiner diversen Gesamtheit ein starkes Statement, das unterstreicht, warum das Label aus Washington DC bei vielen DJs, die weniger ausgetretene Pfade der House- und Technomusik bevorzugen, unter konstanter Beobachtung steht. Dazu als Untertitel auf dem Cover das Versprechen: „Things Will Be Better In Future Times”. Könnte man, so unwahrscheinlich und unerhört, wie vieles auf der FIGS Compilation klingt, fast sogar glauben. Harry Schmidt 

DJ Hell presents Yung Original Soundtrack
(The Hell Experience Records) 

Der Begriff Yung ist aus der deutschen Umgangssprache von Teenagern nach drei Jahren des inflationären Gebrauchs nicht mehr wegzudenken. Der Anfang dieses Trends war der Name des Wiener Rappers Yung Hurn. Als Teil des Live From Earth-Kollektivs ist der Drogenkonsum eines seiner zentralen Themen. Dabei erinnert er mehr an ein Falco-Comeback als an East-/West-Coast-Rap. 
Was der Clubtourist in den 1970er Jahren in England noch bestaunen durfte – die Jugend dort feierte im Nachtleben flächendeckend Polytoxität – erwischte die kontinental-europäische Masse (immer etwas zu spät) erst Anfang der 1990er Rave-Jahre. Die Gen Z sampelt nun das Thema nur minimal fertiger als ihre Eltern vor dreißig Jahren, dafür aber mit allen verfügbaren Mitteln des digitalen Zeitalters. 
In diesem Kontext bringt DJ Hell – seit seinem International Deejay Gigolos-Label Elektroclash-Hype um das Jahr 2000 ein Garant für Club-Pop – zum gleichnamigen Film Yung von Henning Gronkovski nun dessen Soundtrack-Compilation auf den Markt. 
Und die erklingt zwischen heteronormierter Adoleszenzkrise, ironischem Artschool-Disco-Pop (McNZI), depressiver Comedown-Wave-Traurigkeit mit Fremdschäm-Lyrics (Tyrell, nicht Alden Tyrell!), Klaviergeklimper á la Chilly Gonzales gone Richard Clayderman (Malakoff Kowalski), gepitchten Roland-909-Technokick-Samples mit leichten UK 90s Synth-Einflüssen und auch mal Obertongesang (McNZI). Die Sängerin Vegas by Night zeigt dem Hörer, dass die Zeiten des Kitty Yo-Label auch nach 20 Jahren unwiederbringlich vorbei sind. „Wir reiten durch die Nacht” ist Giorgio Moroder versus Kraftwerk im Jahr 1974. Wenn nur die Lyrics nicht auch hier so trivial wären! Den Behringer-Nachbau des Moroder-Vocoders Roland VP 330 gibt es für 499 Euro in Taschengeld-Preishöhe bei Thomann. Yung(geblieben)e entdecken mit dieser Compilation auf eindrückliche Weise vierzig Jahre Techno-, Electro-, Disco-, House- und Rap-Redundanz. Als Filmmusik funktioniert das überraschend gut. Mirko Hecktor 

https://www.youtube.com/watch?v=O-7Bc6c725g

Ghostly Swim 3 (Ghostly International)

Die dritte Ausgabe von Ghostlys Swim-Compilation-Serie beginnt mit verspielt-naiven Drum’n’Pop von Bogdan Raczynski, bringt danach Disco-Housiges von Black Noi$e und anschließend elektroiden, flotten Breakbeat von Yak. Stück vier wäre dann zeitgenössischer Pop pur, wenn auf Bullions „Rhino” Gesang erklänge. So geht es weiter durch die vierzehn Stücke auf Ghostly Swim 3 – extrem abwechslungsreich, eklektisch in bestem Sinne und vor allem respektlos gegenüber Genrepolizisten und -puristen. Nicht nur diese freigeistige Haltung erfreut hier, sondern auch das Helle, Leuchtende, das viele Tracks ausstrahlen – erst dem fünften Song der Compilation kann so etwas wie Düsternis zugeschrieben werden, aber auch dieses Stück tendiert im Endeffekt eher Richtung Pop als Dark Wave-Electro – eine erfreuliche Aussage und unterstützenswerte Labelpolitik in Zeiten, die viele dazu veranlassen, Trübsal zu blasen und auch entsprechende Musik zu veröffentlichen. Weitere Highlights auf Ghostly Swim 3 kommen von DJ Python, Superstructure (a.k.a. Todd Osborn), Gábor Lázár mit einem fetten Techno-Jungle-Hybriden und Alec Ness feat. Dizzy Fae mit dem Hit der Zusammenstellung – „Meal”. Mathias Schaffhäuser

Jazzanova – Sonar Kollektiv 21 Years (Sonar Kollektiv)

Keine Ahnung, was sie sich dabei gedacht haben: Das Sonar Kollektiv-Label feiert 2020 seinen 21. Geburtstag mit einer massigen, 60 Tracks umfassenden Compilation, obwohl das Label um Jazzanova schon seit 1996, also 24 Jahre lang, existiert. Jedenfalls kommt jetzt, laid back wie ein Trip Hop-Beat, eine Zusammenstellung der wichtigsten Künstler und Releases des Labels, das eine Brutstätte für die stilbildende Fusion aus Acid Jazz, Drum’n’Bass , House, Soul und World Music war. Doch dies ist keine „Best of”-Compilation der fast 400 Label-Releases. Es reihen sich Neues, Unveröffentlichtes, Remixe, Re-Releases, die zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung vielleicht übersehen wurden, und Originale, die nun zum ersten Mal digital erhältlich sind. Eine Perlenkette für Fans und Genießer also. Wobei es schade ist, diese Compilation nur digital zu hören und auf die liner notes zu verzichten. Dabei entgehen einem einige fun facts und Anmerkungen. Wie die, dass Solomuns „Black Rose” 2007 in einer House-Compilation-Reihe des Labels veröffentlicht wurde, lange bevor er der King of Ibiza wurde. Die Nähe des Sonar Kollektiv-Sounds zu Ibiza House und Lounge Musik wird in Cocktailbars offensichtlich, wo Beides hintereinander läuft. Wer jedoch genauer hin hört, kann beim Sonar Kollektiv die typische musikalische Raffinesse und Vielfalt entdecken, die es von Wellengeplätscher unterscheiden. Martina Dünkelmann

Nina Kraviz presents Artist Locus Error (трип)

Nina Kraviz rief im Jahr 2004 das Label трип (trip) ins Leben. Jetzt erscheint dort die Konzept-Compilation Locus Error, auf der sie elf Künstler*innen versammelt. Deren Ansätze orientieren sich mehr oder weniger nah an einem gemeinsamen Fixpunkt: Ein locus error, das ist ein Fehler in verschiedenen Zusammenhängen, ein unpassender Gedanke innerhalb einer Assoziationskette, ein dysfunktionales Genom im Gen-Strang oder eine falsche geometrische Position. Für Kraviz meint es eher den Soll-Zustand eines Raves: Kantig, bretternd, hart. Wie etwa Ryan James Fords „Royal Legion” metallischen Techno mit einer trancigen Ambient-Note versieht. Kyoka, die Hälfte von Lena Andersson, steuert mit „Link” eine leicht glitchige IDM-Nummer bei, experimentell und spannend. Wem der Franzose Antonin Jeanson derweil noch nicht auf dem Radar erschienen ist, hat jetzt die Möglichkeit, mit ihm einen Angriff auf die eigene Disco zu starten. Mit „DANCE” hat er einen der Höhepunkte beigetragen. Ein verspielter, mysteriöser, rhythmisch eindringlicher Track, der fast zu kurz daherkommt. Weiterer Höhepunkt ist Carlota, von der nicht viel mehr bekannt ist als ihre Nummer mit Namen „Locus Error”, die mellow und beschwingt klingt. Mit Analemmas’ „Liminal Crisis” geht’s gefühlt an die Schwelle zu einer düsteren Gefühlswelt, jedoch auf sanfte Art und Weise. Alan Backdrops „Nizaj“ und die beiden Mixes von X-Dreams „Superintelligence” geben dann wiederum weniger Raum zur Reflexion, sind straighter Techno mit futuristischem Odeur. Mit einem gelungenen Mix aus bekannten und jungen Acts beweist Kraviz ein weiteres Mal ihr Gespür für den richtigen Vibe. Lutz Vössing

Scissor and Thread presents Tailored Cuts Vol.4
(Scissor & Thread)

“Ein Mal den Salat des Houses und die gemischte Scissor & Thread-Platte für vier Personen, bitte!” Wer seine Bestellung so gekonnt aufgibt, ist offensichtlich ein Kenner und weiß genau, was ihn erwartet: Ein kohärenter, makelloser Mix aus Ambient, Deep House und Downtempo, nur die besten Zutaten, versteht sich: All Stars wie Labelchef Francis Harris und dessen Kumpels Anthony Collins und Black Light Smoke mischen bei über der Hälfte der zehn Titel mit, verfeinert wird das Ganze durch Produktionen der Newcomer Sophia Saze und Tomi Chair (beide debütierten im vergangenen Jahr auf Scissor & Thread).
Plätschert es anfangs noch recht unbedeutend ambientös vor sich hin, fällt ein Track besonders auf: „Hustle” von Black Light Smoke ist eine Jacking House-Nummer mit ansteckender Bassline und funky Vokalschnipseln im Lo-Fi-Gewand. Große Teile der Platte werden davon dominiert, was Scissor & Thread szeneweit bekannt und beliebt gemacht hat: Deeper than deep House. “What You Believe” von Frank & Tony etwa mit über acht Minuten auf 115 bpm und nicht viel mehr als repetitive Drums, hypnotisierende Synth-Akkorde und etwas, das nach der Aufnahme eines Telefonats klingt. Kurz vor Schluss ballert’s doch nochmal etwas mehr: Anthony Linell remixt Sophia Saze’ „Aliens” zu einem astreinen Techno-Track mit gespenstischen Flächen und rastloser Perkussion. Delizioso (wir sehen uns in der Gag-Hölle)! Christoph Umhau 

In diesem Text

Weiterlesen

Features

Paranoid London: Mit praktisch nichts sehr viel erreichen

Groove+ Chicago-Sound, eine illustre Truppe von Sängern und turbulente Auftritte machen Paranoid London zu einem herausragenden britischen House-Act. Lest hier unser Porträt.

Mein Plattenschrank: Answer Code Request

Groove+ Answer Code Request sticht mit seiner Vorliebe für sphärische Breakbeats im Techno heraus – uns stellt er seine Lieblingsplatten vor.

TSVI: „Es muss nicht immer total verrückt sein”

Groove+ In Porträt verrät der Wahllondoner TSVI, wie sein einzigartiger Stilmix entsteht – und wie er als Anunaku Festival-Banger kredenzt.