Fotos: Radio Bollwerk

Früher lernten viele die elektronische Musik über FM-Radiosender kennen. Robert Hood etwa erfuhr erst durch Radiohosts wie Electrifying Mojo, dass diese Art von Musik überhaupt existiert, und frühere Generationen von Groove-Leser*innen wurden durch die HR3-Clubnacht mit Sven Väth an Techno herangeführt. Die digitale Revolution des 21. Jahrhunderts hat eine neue Form von Radio hervorgebracht – das Web-Radio. Diese Wende hat eine neue, kollaborative Kommunikation zwischen Radiomacher*innen und Community ermöglicht. Über das Internet verbreitet sich der musikalische Underground über lokale und nationale Grenzen hinweg und bringt Gleichgesinnte zusammen.

Wie sieht die moderne Radiolandschaft im deutschsprachigen Raum aus? Welche Erfolgsmodelle und Formate haben sich bereits etabliert? Wie wirken die lokalen Musikszenen und Radios aufeinander und was entsteht daraus? Im Rahmen unserer Serie Web-Wellen haben wir diese Fragen sieben Webradios aus dem deutschsprachigen Raum gestellt. Tune in!

„Ein Gemeinschaftsradio, welches Avantgarde Clubmusik in der DNA trägt.“ So beschreibt sich das Schweizer Radio Bollwerk selbst. Ob Sendungen über die unterschätzte B-Seite, „Talk Talk“-Gespräche mit DJs und Produzent*innen oder regelmäßige DJ Sets, auch über avantgardistische Clubmusik hinaus: Es wird alles rund um Musik aus dem Untergrund gesendet. Wir haben mit Urs, Vereinsmitglied und Radiomacher, über das kreative Potenzial der Berner Untergrundszene geredet, die sich vor Radio Bollwerk in zahlreiche Sub- und Mikroszenen aufteilte.

Das Clubbusiness ist hart, gerade in einer Stadt wie Bern, die nur schwach auf dem Radar für elektronische Musik aufblinkt. Die ausschlaggebende Idee für das Projekt Radio Bollwerk war der Wunsch, die eigentliche Tiefe, die in der Berner Underground-Szene vorherrscht aufzuzeigen. Musik, die auf den Dancefloors keinen Platz hat, einen zu geben. Im Spätherbst 2016 startete Roberto Grassi das Projekt Radio Bollwerk. Gleichzeitig formierte sich das Kollektiv Studio Mondial, das seither wichtige Impulse bei der Gestaltung des Programms gibt.

Das Netzwerk als Sendeplatz

Bis dato hat das mitgliederfinanzierte Vereinsradio Radio Bollwerk noch kein fixes Studio. Das hält sie aber nicht davon ab, Musik zu senden, die sie lieben. Gesendet wird von überall und nirgendwo, wie aktuell dienstags und freitags aus der Berner Bar Abyssinia Social Club, die zurzeit als Homebase dient. Stück für Stück konnte sich die Radio-Bollwerk-Crew genügend Material zusammensuchen und anfangen regelmäßig auf Sendung zu gehen. Im Vorstand des circa 100 Mitglieder starken Radios arbeiten aktuell acht leidenschaftliche Radiomacher*innen, die ehrenamtlich die Arbeit wie Kuratierung, Technik, Organisation und Schneiden übernehmen.

Aktuell gibt es rund 500 mehrstündige Aufnahmen aus über 20 Shows, die in bestimmten Abständen gesendet werden. Bis letztes Jahr beschränkte sich das Programm auf DJ-Sets. Mittlerweile gibt es auch reine Wortbeiträge, wie beispielsweise die „Talk, Talk“-Sendung, die aus der Bar3000 über dem Club Zukunft in Zürich gesendet wird. Gemeinsam mit Gästen erschließen sich hier die Journalisten Adrian Hoenicke und Bjørn Schaeffner clubrelevante und historische Zusammenhänge. Wichtiger Teil der Identität von Radio Bollwerk, so Urs, waren und sind aber auch nach wie vor Live-Übertragungen von Festivals, von denen unter anderem Interviews gesendet werden, wie zum Beispiel vom Ostfest, das vor allem modularbasierte Musik in den Fokus rückt.

„Wir sind ein Radiosender für Spartenmusik“

Das Internet spielt auch für Radio Bollwerk eine wichtige Rolle. Die Vernetzung übers Web war sicherlich mit einer der Gründe für die Kollaboration mit Radio 80000 aus München oder ihre jüngste Benelux-Tour, auf der sie dem Operator Radio aus Rotterdam und dem Kiosk Radio aus Brüssel einen Besuch abgestattet haben. „Durch das Internet entstehen transnationale Verbindungen und dadurch eine Zusammenarbeit, die gerade in der Musikszene interessante Früchte trägt. Unser Radio hebt sich schon recht stark vom Rest der musikalischen Szene Berns ab, da wir einen Raum für non-konforme, experimentellere Musik bieten wollen. Wir sind ein Radiosender für Spartenmusik, was nicht heißt, dass es sich nur um dunklen Techno dreht, sondern auch um Gospel, Soul und Indie, wie es zum Beispiel das Underground Soul Radio supportet.“ 

Diese Art non-konformer Musik findet auch durch den temporären Berner Musik- und Kulturraum Platzkultur in Form einer Sommerresidency Platz. Ein großer Parkplatz an der Schützenmatte verwandelt sich hier in einen Spielplatz für Kulturakteur*innen und Interessierte- Auch die Radio Bollwerk-Crew richtet hier ein kleines, temporäres Studio ein. Als einziges Online-Radio der Schweiz hat es Radio Bollwerk geschafft Szenen in der ganzen Schweiz zusammenzuführen. DJs von Zürich bis Bern und von Genf bis Luzern partizipieren mit Radioshows.

Inklusiver Nonkonformismus

Die Grund-DNA von Bollwerk, so Urs, ist Musik, die sich im Untergrund bewegt, eine Plattform zu bieten, egal aus welcher Richtung diese kommen mag. Natürlich sei es da mitunter schwierig zu entscheiden, was denn jetzt gespielt werden könne und was nicht. „Bei Radio Bollwerk findet jede*r und jede musikalische Ausrichtung Platz. Wir versuchen so gut es geht eine exkludierende Kultur zu vermeiden.“

Der Herzenswunsch des Radio-Kollektivs ist es, einen Heimathafen in Form eines festen Studios zu finden. Im Gespräch mit Urs fällt die tiefgreifende Passion für die Community und ihre Kunst auf. Berns Underground-Szene beheimatet Künstler*innen jedweder Couleur, die sich ganz dieser diversen Mischung aus Avantgarde und Musikkultur verschrieben haben und mit Leib und Seele leben. Diesen Menschen will Radio Bollwerk eine Plattform und Heimat geben, um die Welt an der Vielseitigkeit ihres kulturellen Schaffens teilhaben zu lassen.

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