Foto: Elena Panouli (Barker)
Vier Jahre hatte Sam Barker nichts von sich als Solo-Produzent hören lassen und dann das: Seine EP Debiasing für Ostgut Ton war nicht nur deswegen eine handfeste Überraschung für Fans und Kritik, weil sie zuerst wenig mit dem futuristischen, UK-infizierten Autoren-Techno mit nd_baumecker als Barker & Baumecker zu tun haben schien, sondern auch, weil es ihr an etwas fehlte: die kullernden, verwobenen Modular-Melodien kamen völlig ohne Kickdrum aus.
Der ungewöhnliche Sound und das im Kontext des Labels noch ungewöhnlichere Konzept überzeugten allerdings nicht nur die Musikredaktionen überall, sondern ebenso Fans und DJs: Objekt beispielsweise webte für seinen Resident Advisor-Mix eine gute Stunde ähnlicher Musik zusammen. Nach einer weiteren EP – diesmal mit dezenten Percussion-Einsätzen – veröffentlicht der Leisure System-Mitbetreiber Barker nun sein Debütalbum Utility, das konzeptionell und ästhetisch an die Debiasing-EP anschließt: es soll glücklich machen. Nur warum?
Die Musik von Sam Barker kann so verworren klingen wie der Familienstammbaum einer durchschnittlichen Game of Thrones-Figur. Nicht selten hat es den Anschein, als würden die pulsierenden Sounds ein labyrinthisches Netz bilden, dessen Struktur höchstens der Urheber selbst überblicken kann: klanggewordenes Geheimwissen, schwer zu entschlüsseln. Dabei geht es dem Briten überhaupt nicht um maximale Esoterik, sondern um sehr direkte Effekte: Musik soll glücklich machen. Nur bloß nicht zu viel. Was sich wiederum hinter diesem Gedanken verbirgt, das ist ebenfalls kompliziert und daher nicht einfach zu erklären. Da hilft nur eins: An den Anfang zurückgehen und Stück für Stück nachzuverfolgen, warum der Produzent dorthin kam.
Tatsächlich gestaltet sich der Werdegang Barkers so geradlinig wie kaum eine andere Musikerkarriere. Die Mutter ist Gitarrenlehrerin und musiziert mit Kindern mit Behinderungen, im Haus der Barkers stehen kistenweise Instrumente herum. Der junge Sam singt, nimmt angespornt durch seinen großen Bruder Klavierunterricht, lernt Geige und spielt später Schlagzeug und Bass in verschiedenen Bands, darunter sogar eine Blaskapelle. Das impliziert viele verschiedene Interessen, ein Wunderkind sei er allerdings nicht gewesen. Stattdessen sei er ein „auditiv Lernender”, wie er es ausdrückt – jemand, der dem Gehör folgt.
„ICH BRAUCHTE ETWAS EINGEWÖHNUNGSZEIT, DENN AUF 120 BPM ZU TANZEN, FAND ICH ZUERST SCHWIERIG.”
Das führt ihn noch tiefer in die Materie. Als er mit 13 Jahren die Schule wechselt, findet er in der neuen Lehranstalt ein Studio vor. „Zuerst war ich davon fasziniert, weil es die Möglichkeit bot, Live-Musik aufzunehmen”, erinnert er sich. Langsam aber beginnt er mit den Möglichkeiten zu experimentieren, Gitarrenparts zu loopen. Das Interesse für die Technologie geht Hand in Hand mit einer geschmacklichen Umorientierung. „Zur selben Zeit begann ich, mich mehr für elektronische Musik zu interessieren, den Bandkram bekam ich langsam über.” Die über Warp erscheinenden Alben von Aphex Twin, Autechre oder Squarepusher tun ihr Übriges: Langsam aber sicher sattelt Barker auf elektronische Musik um.
Nur ein Problem gibt es. Die Schulzeit und damit auch der Zugang zum Studio neigt sich ihrem Ende zu. Den Abschluss macht er mit einer Einkaufsliste in der Tasche, Hardware, die er sich zusammenkaufen will – das Resultat von viel Internet-Recherche. „Zu Aphex Twin oder so hast du natürlich nichts gefunden, aber ich war geradezu besessen von Orbital”, sagt er. „Es gab eine Fanseite, auf der das gesamte Gear von ihren Live-Shows aufgelistet war. Ich wollte herausfinden, wie den Leuten diese Sounds gelangen.” Gesagt, getan, gekauft.
Breakcore mit Seeblick
Nach einem Jahr in diesem und jenem Gelegenheitsjob steht das Heimstudio und Barker schreibt sich im Studiengang Digital Music in Brighton ein. „Es war halb kunstorientiert, halb technologisch ausgerichtet. Der Technologieteil war nicht unbedingt tiefgründig – einige Leute wussten gar nichts, wieder andere hatten einen musikalischen Hintergrund oder spannende Ideen”, erklärt er. Nichts Halbes, nichts Ganzes. Immerhin jedoch fällt es ihm leicht, die Hausaufgaben zu erledigen. Für ein paar Credit Points einen Track nur aus selbst erstellten Sounds bauen? Alles klar, das Modul wäre dann ja abgehakt.
Wichtiger ist zu dieser Zeit, dass Barker in der lokalen Szene Anschluss findet. Er arbeitet in einer Bar an der Küste der Stadt auf der ikonischen Seebrücke Brightons. 200 Leute passen in die Location, hinter der Stage gibt ein Rundfenster den Blick auf Strand und Meer frei. Er beginnt, dort Dienstag abends Live-Konzerte unter dem Titel Instrumentality zu veranstalten. Entweder wird der Pub ab Mitternacht geschlossen und die Jam-Sessions gehen bis morgens um neun oder aber es werden internationale Gäste eingeladen: Flying Lotus spielt dort seinen ersten Live-Gig auf britischem Boden, Legenden wie Clark bringen das eng verschweißte Publikum bei Silvesterabenden ins neue Jahr. Daneben ist Folktronica oder Breakcore zu hören und zwischendurch tritt auch mal jemand auf, der Schallplatten mit Haarspangen und Kontaktmikros bearbeitet.
Zur selben Zeit beginnt Barkers eigenes Projekt zu reifen. Unter dem Namen Voltek veröffentlicht er im Jahr 2006 seine erste EP auf dem Label Net Lab, wo auch Ital Tek und Chris Moss Acid ihre ersten Schritte wagen. Die Musik von Voltek speist sich aus einem konzeptuellen Rahmen. „Es war ein Syntheseprojekt, das heißt, ich habe versucht, alle Sounds selbst zu synthetisieren, anstatt Samples oder Drummachines zu verwenden. Aber es wurde auch langweilig, mit diesen Auflagen zu arbeiten. Außerdem hatte ich einen Sampler, den ich verwenden wollte!” 2011 veröffentlicht er das Album Power Tools auf Acroplane, danach ist Schluss. Er hat allerdings auch anderes zu tun: 2007 siedelt Barker nach Berlin über. Nachdem er bereits im UK gemeinsam mit dem späteren Leisure System-Kollegen Ned Beckett Partys veranstaltete, heuert Barker bei dessen Booking-Agentur LittleBig an und zieht gemeinsam mit ihm in die deutsche Hauptstadt.
Der Übergang gestaltet sich alles andere als nahtlos, die Ankunft kommt einem Sprung ins kalte Wasser gleich. Es ist die Hochphase des Minimal-Sounds. „In Brighton gab es eine große Breakcore- und Noise-Szene. Die Leute konnten sich sehr gut damit arrangieren, dass es bis in die extremsten klanglichen Gefilde und in die höchsten Tempos ging. Und dann plötzlich das Gegenteil: abgespeckt, langsam, kühl und ruhig, emotional zurückhaltend. Ich brauchte etwas Eingewöhnungszeit, denn auf 120 bpm zu tanzen, fand ich zuerst schwierig”, lacht Barker. Mit der Programmierung von Leisure System setzen er und Beckett allerdings einen Kontrapunkt. Hier findet viel UK-inspirierte Musik ihren Platz, wird an den rigiden Berliner Dancefloor-Konventionen vorbei aufgelegt.
„Du kannst das weder Ambient noch Techno nennen. Es ist androgyne Musik.”
Bald beginnt Barker mit dem Panorama Bar-Resident und Berghain-Booker nd_baumecker Musik zu machen. Die beiden teilen eine Liebe zur Hardware und zu musikalischer Tiefe sowie eine Abneigung gegenüber stilistischen Scheuklappen. Auf die Single Candyflip von 2010 sollen mehrere EPs und zwei Alben folgen, von denen vor allem erstere noch einen Rest an DJ-Funktionalität in sich tragen. Stücke wie das vierzehnminütige „Statik” von der 2016 veröffentlichten LP Turns allerdings sind kleine Mini-Opern, die sich auf Ambient ebenso wie aus der britischen Breakbeat-Tradition oder dem Berliner Dub Techno zwischen Basic Channel und Pole bezieht.
Vom Chaos und dem Aufräumen danach
Es ist vielleicht kein Wunder, dass über die Arbeit in der Booking-Agentur, der Planung der eigenen Partys und der fruchtbaren Kollaboration mit Baumecker nicht viel Solo-Material erscheint. 2012 veröffentlicht Barker zwar die EP Like An Animal als dritte Katalognummer auf dem Leisure System-eigenen Label, danach herrscht indes wieder Funkstille. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Einerseits bezeichnet sich Barker gleichzeitig als zu selbstkritisch und zu romantisch. Was das heißt? Dass er einerseits nur schwerlich mit seinem Output zufrieden ist oder aber dass er andererseits partout nicht den überflüssigen Speck vom letzten 15-Minuten-Jam abschneiden will, auch wenn der dadurch nur gewinnen würde. Das immerhin erlaubt Einsichten in die eigene Psyche: „Du liebst es, ein Chaos zu veranstalten, nur das Aufräumen gefällt dir nicht – und dann fällt dir auf, dass es dir in deiner Umwelt genauso geht”, erklärt Barker. „Wenn ich also eine Lösung für das eine Problem finde, könnte ich das eventuell auf das andere anwenden.”
Überhaupt: Probleme und ihre Lösung, überhaupt: Psychologie. Barker interessiert sich sehr für psychologische Abläufe und die dazugehörige Theorie, weswegen er in der Praxis auch mal Selbstbeobachtungen als Ausgangslage für musikalische Experimente hernimmt. Debiasing findet so langsam über einen Zeitraum von drei Jahren zusammen, die Leitfrage ist zuerst recht simpel: Wie lässt sich Musik machen, die im Kern noch als Dance Music fungiert, aber völlig auf deren zentrales Element, die Kickdrum, verzichtet? „Teilweise wollte ich verstehen, warum wir, wenn wir mit diesen ganzen Möglichkeiten und all dieser Technologie konfrontiert sind, und wenn es bei Musik um Innovation, Selbstausdruck und Individualität geht, dennoch so ähnliche Dinge damit anstellen und denselben Mustern und Regeln folgen – mich eingeschlossen”, erklärt Barker den langen ästhetisch-psychologischen Selbstversuch. „Warum klingt das, was aus meinem Studio kommt, als wäre es mit so viel anderer Musik verwandt, die bereits existiert?” Die eigene kognitive Voreingenommenheit, das spricht der Titel auch aus, wird als Problem herangezogen, auf den Prüfstand gestellt und letztlich gelöst werden.
„Ich denke schon, dass die Erzeugung von maximaler Freude durch Musik ziemlich ungesund ist.”
Mittlerweile kann Barker sich auch wohl beruhigen: Debiasing klingt in seinem Miteinander aus Modular-Geplonke und -Geplinker wie kaum eine andere Platte des letzten Jahres. „Du kannst das weder Ambient noch Techno nennen. Es ist androgyne Musik”, räumt er ein. Und schiebt mit einem Lachen hinterher, dass er selbst der Letzte wäre, der so ein Release auf dem Berghain-Label Ostgut Ton erwarten würde. Dennoch kommt es gut an, sehr gut sogar. Das bestärkt den Produzenten in seinem Experimentierwillen, er lässt Anfang 2019 die Single Barker001 folgen. Geplant war das jedoch nicht unbedingt. Obwohl Barker bereits an seiner Debüt-LP arbeitet, will es zuerst einfach nicht flutschen. „Ich habe sehr lange Zeit versucht, einen Sinn zwischen all diesen Tracks herzustellen, obwohl sie konzeptionell nicht verknüpft waren”, sagt er über die damalige Gemengelage. „Ich habe dann letztlich aber das Handtuch geworfen und mich wieder ans Reißbrett gesetzt, um von Neuem anzufangen. Alex (Samuels, Ostgut Ton-Labelmanger, Anm. d. Redaktion) überzeugte mich aber, etwas mit den Tracks zu machen.” Dazu gehört dann eben auch ein Stück, das die Kickdrum nicht weglässt, sondern dezidiert ins Zentrum stellt: „Neuron Collider”.
Friede, Freude, Foie-gras-Prinzip
Obwohl es also dauern soll, bis Barkers Debütalbum Utility Form annimmt, steht zumindest nach dem Erfolg der Debiasing-EP der konzeptuelle Rahmen fest. „Obwohl das weder bewusst noch vorsätzlich passierte, wollte ich mit der vor allem ein paar gute Freund*innen erreichen, denen sie meiner Meinung nach gefallen hätte. Es gab eine Absicht, jemanden glücklich zu machen.” Wieder beginnt Barker psychologische Konzepte zu konsultieren und kommt auf den Utilitarismus – ein Nützlichkeitsprinzip, welches das Wohl der Gemeinschaft im Sinn hat. Klingt erstmal einleuchtend. Aber was hat das mit Musik zu tun? „Vereinfacht gesagt habe ich mich gefragt, was der Sinn und Zweck des Musikmachens ist oder warum ich Musik veröffentliche, was noch ein ganz anderer Prozess ist”, erklärt er. „Der Grund, warum ich Musik mache, ist, dass ich es liebe und es mir Spaß macht. Und ich veröffentliche diese Musik, weil ich auf eine Art ein Glücksniveau anheben oder überhaupt erst erschaffen will, eine Form von Freude.”
Nur kann, wie nicht allein eingefleischte Erobique-Fans wissen, Freude auch überdosiert werden. Auch das allerdings ist den hüpfenden, polternden, schwebenden Sounds von Utility in jeden Ton eingeschrieben. In Tracktiteln wie „Paradise Engineering” und im Begleitschreiben zum Album bezieht sich Barker auf die Theorien des transhumanistischen Theoretikers David Pearce, vor allem dessen Veröffentlichung The Hedonistic Imperative aus dem Jahr 1995. Selbst bei einer kursorischen Lektüre hinterlassen dessen Gedanken und Forderungen einen merkwürdigen Beigeschmack – jegliches kreatürliche Leid soll ausradiert werden, das Ziel ist die absolute Glückseligkeit. Das liest sich zuerst utopisch, ist aber deutlich von der kunterbunten Aufbruchstimmung der Mittneunziger geprägt, die uns rückblickend vermutlich erst die Suppe eingebrockt hat, die wir nun auslöffeln müssen.
Barker sieht in der Utopie Pearces ein ebenso dystopisches Potenzial – genau das fasziniert ihn daran, genau deswegen ist sein Bezug auf den Theoretiker kein affirmativer. „Pearce stellt ein Extrem dar, und ich würde nicht unbedingt sagen, dass es sich um ein wünschenswertes Extrem handelt”, betont er. „Allerdings ist es schon inspirierend zu sehen, wie weit dieses Prinzip getrieben werden kann. Ich denke aber schon, dass die Erzeugung von maximaler Freude durch Musik ziemlich ungesund ist.” Trance sei ein Beispiel von einem Genre, das sich das zuschulden hat kommen lassen. „Es stopft dir die Euphorie in den Rachen.” Utility folgt diesem Foie-gras-Prinzip eben deswegen nicht, weil die Folie für dieses von Grund auf positive Album von einer Reihe von Negativbeispielen inspiriert wurde. Das scheint zuerst abstrakt und klingt nach kruder Dialektik, ist aber eben auch zu hören: Ähnlich verhält es sich nämlich mit der Weglassung der Kickdrum, die der Musik Barkers auf scheinbar paradoxe Weise so viel hinzufügt.