Es gibt so Zeiten, in denen plötzlich die frühe oder späte Jugend und Sozialisation des/der Musikschreibenden in Form aktueller Veröffentlichungen an die Tür klopft und irgendwie eingebracht, berücksichtigt werden möchte, obwohl solche Erfahrungen doch hinter der Musik verschwinden wollten, vielleicht sogar sollten, ein Stück weit. Beim Kolumnisten waren – für regelmäßige Leser*innen vermutlich wenig überraschend – New Wave und Synthpop, Gothic und Industrial, Shoegaze, Ambient und Krautrock, aber mindestens genauso wichtig Funk, Soul, R&B, Electro, Cosmic Disco und die Anfänge von House und Techno prägend. Umso schöner, wenn das alles zusammenkommt und noch dazu von einem seit langem geschätzten Musiker wie Andy Bell. Der Gitarrist der Spätshoegazer Ride lässt auf Dissident (Bytes), dem Debüt seines Soloprojekts GLOK, eine ähnliche Historie anklingen, ausgearbeitet und eingefühlt in balearisch-kosmische House Music, durch die hin und wieder die typische, von heftigem Phaser- und Digital-Delay-Pedalen verzerrte Gitarrenarbeit Bells durchsticht, den überaus entspannten, soft-psychedelischen Sundowner Charakter des Albums aber keineswegs stört. Vor allem der epische Titeltrack mit seinem Krautsynthesizerblubbern und den saftigen Fusion-Beats im Slow-House Downtempo erinnert an Superpitchers „The Golden Ravedays“-Projekt, in welchem Vergangenheit und Gegenwart, Hommage und Nachfühlung, House und Chillout und eine von Studioisolation geprägte, verspielte Experimentierfreude eine ähnlich freundschaftliche Verbindung eingingen. Dass so etwas auch von einem junggebliebenen Altrocker kommen kann, macht doppelt Freude.

Stream: GLOK – Dissident

Der schon erwähnte Superpitcher macht sein Ding, aus einem relativen normalen House/Downbeat Track einen magischen Trip ans Ende des Sonnenuntergangs zu halluzinieren auf der feinen EP Spaceship (Life and Death) des mexikanischen Produzenten Paulor. Dessen Originale sind hübsche wie funktionale Nu-Disco Brenner. Von Vitalic und JD Twitch wurden sie für den großen Techno- bzw. Electro-Floor aufgebretzelt, aber erst in der zart zupackenden Bearbeitung von Superpitcher hebt der Titeltrack so richtig ab. Die (oder der?) französische Produzent*in, der/die sich nach einer Figur des Anime-Reihe Evangelion Eva 00 nennt, schiebt auf der EP It‘s All About The Attitude (Tropical Animals) die balearische Entspannung mit Gangsta-Attitüde und einem sicheren Gespür für die richtige Menge an Vocalschnipseln und Retro Sounds in Richtung roher electrofizierter House Music, die Ambient, Kraut und andere Rauchwaren tief inhaliert hat.

Stream: Eva 00 – VR Instrumental

Solche Vibes werden im Süden Kaliforniens, bei den freundlichen Bedroom-House Post-Hippies von Not Not Fun/100% Silk ebenso gut verstanden wie in den mediterranen Metropolen Mailand, Florenz und Barcelona, die nicht nur die Labels von Paulor und Eva 00 beheimaten, sondern auch die jüngsten 100% Silk Zugänge Robotalco dessen EP Callisto (100% Silk) klassisches Deep House nach dem Vorbild von Rick Wade und Roger Sanchez in Richtung der Balearen dreht. Mateis E Aqir ist dort bereits angekommen, physisch zwar auf der Kanareninsel Teneriffa und nicht auf Ibiza, in seinem Sound allerdings definitiv balearisch. Die ausschweifende EP Chrome Upon Guayota (Silk Sound) klöppelt sich durch perkussiven Ambient im untersten BPM Bereich. Minimalistisch und psychedelisch, eine der tollsten und eigenständigsten Veröffentlichung im wärmeaffinen Genre in den vergangenen Jahren.

Stream: Mateis E. Aquir – Amigo

Mal etwas anderes zu machen als was die Miete zahlt, kann ungeahnte kreative Energien freisetzen. Zum Beispiel beim Polen Wojciech Tarañczuk, der in den Noughties in den Duos Catz N‘ Dogz und 3 Channels eine clevere Synthese von Minimal Techno und Disco Edits etabliert hat und heute als KETIOV sampleverliebten Deep House produziert (u.a. auf Running Back), hat für sein erstes Soloalbum King of Hypocrisy (KETIOV) sämtliche seiner bekannten Skills und Soundvorlieben zur Seite gestellt und eine wunderbar befreit aufspielende, mit Synthesizern experimentierende Ambient-Electronica produziert unter die sich hin und wieder ein schüchterner, gerader Beat schmuggelt, die aber insgesamt doch wesentlich nachdenklicher, melancholischer (und queerer?) wirkt als alles, was er bislang produziert hat. Norman Fairbanks aus Los Angeles verdient seinen Lebensunterhalt mit Soundtrackarbeiten für Film, Fernsehen, Games und Apps. Von ihm stammt unter anderem die „Kling Klang Maschine“ für iOS, mit der sich endlos variierte Schleifen aus Soundbits von Kraftwerk erzeugen lassen. Die „privaten“ Tracks, die er seit fast zwanzig Jahren ausschließlich digital veröffentlicht, beschäftigen sich mit der medialen Wirkung der spezifischen lokalen Kulturen seiner Heimatstadt auf die globale Kultur, vielleicht oder gerade weil Fairbanks seit geraumer Zeit teilweise in Berlin lebt. Die Tracks erzählen vom Hollywood David Lynchs und der Coen Brüdern, von L.A. Noir und der Autofahrer-Kultur von „Drive“, von Westcoast Hip Hop und hüpfenden Custom-Cars, und von dem zwischen den Beach Boys, Charles Manson und der kalifornischen Ideologie der Internetkonzerne sauer gewordenen Vermächtnis der Hippies. Ein wichtiges Element sind Stimmen, aus dem Radio, aus Reportagen, von Politikern und von gefundenen Aufnahmen. Diese verknüpft Fairbanks mit feinsten Analogsynthesizer-Arpeggien und gelegentlichen Beats zu erzählenden Ambient-Electronica Collagen. Diese können hochkomplex sein, aber ebenso einfach und zugänglich wie seine jüngste, für Streaming-Plattformen produzierte EP California Supermax (Spinnup).

Stream: KETIOV – Dual Morality

Die Stimmung noch etwas aufzuheizen eignet sich bestens die gut gelaunte, im Abgang leicht melancholische Indie-Electronica der australischen Combo Tralala Blip. Ihr internationales Debüt Eat My Codes if Your Light Falls (Someone Good/Room40) flittert zwischen hibbeligem Glitch, leicht wavigem Synthpop und  hyperglänzenden Post-Club Sounds. Eine tolle topaktuelle Pop-Platte, die sympathischer kaum sein könnte. Aber Tralala Blip schaffen es da noch etwas draufzusetzen, denn sie sind ein inklusives Projekt in dem „differently-abled“ Musiker ihre besonderen Fähigkeiten und vor allem ihren besonderen Blick auf die Welt einbringen. Auch wenn die Musiker*innen von Tralala Blip an der trockenheißen australischen Westküste leben, ihre Stücke erinnern im hibbeligen Charakter und in vielen Sounddetails an typische elektronische Klänge aus Island, wie der direkte Vergleich mit dem neu aufgelegten Yesterday was Dramatic – Today is OK (Morr) von Múm nahelegt. Zum zwanzigjährigen Release-Jubiläum haben Múm ihrem Debüt ein neuen Mastering gegönnt und neben den bereits veröffentlichten Remixen von 1999 und 2001 noch neue Reinterpretationen von Sóley (toll), Hauschka (solide) und den Neue Musik Avantgardisten Kronos Quartett (wow) zu einem üppigen Paket geschnürt. Das Album ist im Gegensatz zu den noch sehr im Frickelbeat-IDM-Idiom verhafteten und dadurch eher altbacken wirkenden Original-Remixen ziemlich gut gealtert. Die Wechselwirkung von melancholischem Pop-Wissen und verspielter Experimentierfreude hält länger frisch.

Video: Tralala Blip – Facing Monsters

Das intergalaktische, bionische Soundwesen Eartheater, auf Erden als Alexandra Drewchin bekannt, verfolgt eine faszinierende Strategie zur Weltherrschaft, die wie ihr jüngstes Album Irisiri (PAN, 2018) gezeigt hat, völlig unvermeidlich ist: auf Tonträger irritierend handzahm und zugänglich, aber doch immer experimentierend und expansiv emotional, live dagegen heftigst körperlich-akrobatisch, konfrontativ, angriffslustig, lärmig und brachial, dabei nicht weniger experimentell, nicht weniger gefühlsbetont. Ein unbedingt empfehlenswertes Erlebnis der extraterrestrischen Art. Ihr(e) nächste(r) Verwandte(r) ist darin Yves Tumor und dann kommt lange nichts. Das Vinyl-Reissue des 2015er Eartheater Tapes Metalepsis (Hausu Mountain) bringt diese kognitive und somatische Dissonanz exzellent auf den Punkt. Das sind einfach grandiose, irre gut gemachte Pop-Songs, die einer Selbstzerfleischungsprodezur unterzogen wurden, die sich gewaschen hat – und die trotzdem allem transgressiven Schreddern irre gut gemachte Pop-Songs und Balladen geblieben sind.

Stream: Eartheater – Put a Head in a Head

Indie-Folk Songs zu Ambient zerfließen zu lassen, Gitarre und Stimme in endlosem Delay in tieftraurig-tiefschönste und gespenstisch unverständliche Schwebflächen zu zerdehnen – erfunden und zum Genre gemacht hat das Liz „Grouper“ Harris. An ihr konsequentes Ende von friedvoller, schmerzfreier Isolation und Ich-Befreiung durch Verschwinden im Hintergrundrauschen gebracht hat es die Türkin Ekin Üzeltüzenci. Das diese Selbstbefreiung und Aufgabe im Hall und Rausch durchaus dynamisch und vor allem diesseitig weltlich ist, lässt sich aktuell an vier Veröffentlichungen von Üzeltüzenci als Ekin Fil beobachten. Heavy (Vaagner), das neu gestaltete Reissue eines ultralimitierten Tapes von 2015 folgt dabei noch am deutlichsten dem Vorbild Groupers. Hier dominiert eine Lowest-Fi Gitarre und eine warme Schwermut umarmende, aber nie erdrückende, wunderschön verwehte Songs. Das aktuelle Mini-Album You Only (Vaknar) hat sich von diesem Sound weitgehend emanzipiert. Hier bestimmt ein nostalgisch ächzendes, verstimmtes Piano das Klangbild und Üzeltüzencis Stimme ist kaum noch zu hören und erst recht nicht zu verstehen. Sie geht in einen düster kühle Drone auf. Das ebenfalls brandneue Vinyl-Only Release KOMA (Possible Motive) liegt im Sound zwischen den beiden anderen, ist aber noch strikter, was die Licht- und Hoffnungslosigkeit der Sound-Songs angeht. Das zwanzigminütige Deep Listening Stück Windblow (Longform Editions), das Üzeltüzenci speziell für das interessante, konzeptuell arbeitende Label Longform Editions (von dem in Zukunft hier definitiv noch mehr zu lesen sein wird) angefertigt hat, verzichtet auf Gesang und wiedererkennbare Instrumentierung. Es ist reiner, subtiler Schleifensound, aus den Erinnerungen an Songs und Lebendigkeit geformt. Sehr düster und gespenstisch, wie das Leben nun mal so ist, überall, nicht nur zwischen Istanbul und Berlin.

Stream: Ekin Fil – Aeter

Ein halbes Jahr ohne neuen Celer Release? Müssen wir uns sorgen machen? Wohl nicht, denn Will Long arbeitet gerade seinen und Danielle Baquet-Longs kaum noch fassbaren Backkatalog auf und hat auf celer.bandcamp.com viele der klassischen und auf Tonträger mittlerweile vergriffenen und teuer gehandelten Celer Veröffentlichungen digital auf „Name Your Price“ Basis zur Verfügung gestellt. Empfehlenswert ist davon praktisch alles, besonders hervorheben möchte ich die zwischen 2008 und 2010 als limitierte CDs oder auf Vinyl erschienen Arbeiten In Escaping Lakes und Mesoscaphe (mit Mathieu Ruhlmann), die den Drone-Aspekt von Celer explorieren, sowie die im gleichen Zeitraum erschienenen Enganged Touches, Vestiges Of An Inherent Melancholy und I, Anatomy, die eher erzählend arbeiten, auf der Basis von Field Recordings im Zusammenspiel mit warmen Streicherflächen. Wer es schafft, sich im Katalog von Celer nicht gänzlich zu verlieren, für den gibt es noch Paw Grabowski alias øjeRum. Der dänische Produzent bespielt ein ähnliches Feld zwischen warmem, meist auf Orgelsounds basierendem Drone und minimalistischem Ambient. In den vergangenen drei Jahren hat er im Schnitt alle zwei Monate ein Tape, eine CD oder ein Vinyl herausgebracht und sich keine Schlappe geleistet. Seine Arbeiten sind immer perfekt ausgearbeitet, wehmütig nostalgisch klingend, aber doch hochmodern, wie die exzellenten an Max Ernst erinnernden Collage-Cover seiner Veröffentlichungen, die im Falle der handgefertigten CD-Edition von Alting Falder I Samme Rum (Sound in Silence) und Don’t Worry Mother, Everything Is Going To Be Okay (Shimmering Moods) auch haptische Kleinode sind. Das gilt ganz genauso für das Tape Forgotten Works (Vaagner), wobei diese Zusammenstellung unveröffentlichter Stücke aus den vergangenen Jahren in der Hinsicht besonders ist, dass die Stücke weniger ausformuliert und aufpoliert wirken als bei øjeRum üblich und die Palette der Instrumente breiter ist. Ein Stück ist sogar ein beinahe ein Indie-Folk Song, mit verhallter Gitarre und verhuschter Stimme vorgetragen wie etwa Grouper oder Ekin Fil. Um Kyle Bobby Dunn steht es dagegen definitiv nicht gut. Seit er im Mai sein Drone-Ambient Megaopus From Here To Eternity (Past Inside The Present) veröffentlichte, hat er vorwiegend durch um sich schlagende Hasskommentare in den sozialen Medien von sich reden gemacht. Zudem gab es gegen ihn Vorwürfe der Übergriffigkeit, sowie misogyner und antisemitischer Ausfälligkeiten, so dass mehrere Labels die Zusammenarbeit mit ihm aufkündigten. Ob es nun an einer mehrfach von ihm selber angedeuteten psychischen Krankheit liegt, oder ob Dunn einfach nur ein unverbesserlicher Mackertyp ist, diese Selbstdemontage eines großen Ambient-Produzenten ist sehr traurig. Wohl mal wieder ein Fall, in dem die Kunst sensibler und vernünftiger ist als der Künstler der sie produziert.

Stream:  øjeRum – Untitled (from Forgotten Works)

So langsam trübt es ein. Ist der Sommer schon zu Ende? In der Zusammenarbeit der Manchester Musiker Daniel W J Mackenzie & Richard A Ingram ist die Sonne jedenfalls meist gerade am Untergehen. Ihre cineastisch postrockenden Trips in die Dunkelheit, Half Death (Midira) tragen aber noch die gewisse Restwärme in sich, die dringend nötig ist, um durch die beginnende Kälte der Nacht zu kommen. Durch die zwei erzählerisch ausufernden, novellenartigen Tracks der Mini-LP For Burdened and Bright Light (Consouling Sounds) des Postrock-Kollektivs A-Sun Amissa ziehen allerdings schon die ersten Herbststürme. Kinder von Traurigkeit waren Richard Knox, Angela Chan und ihre wechselnden Mitstreiter*innen schon immer, aber so schroff und düster mit Doom-Metal und Power-Noise Anspielung gespickt wie hier agieren sie dann doch eher selten. Aber selbst dieses Album hält die Balance zwischen Dunkelheit und Licht, erhabener Überwältigung und klanglicher Intimität, das A-Sun Amissa so unverwechselbar beherrscht. Wo bei A-Sun Amissa die dräuenden Gewitterwolken hin und wieder aufbrechen und eine gewisse Resthelle in der Distanz erahnen lassen, agieren die anonymen britischen Produzent*innen Several Wives komplett im finsteren eines beklemmend isolierten Raums. Göldi Fell (Gizeh) könnte der Soundtrack zu einem Trip in die Reaktorruine von Tchernobyl sein, wo der bange Blick auf das Pulsieren des Geigerzählers die Reise ins Innere des Betonsargs begleitet. Die Several Wives machen einen jederzeit unbehaglichen Drone aus verstrahlten orchestralen Sounds, die meist unterschwellig bedrohlich vor sich hin dräuen und pluckern, sich hin und wieder aber zu heftigstem Psychostress verdichten. Der Soundtrack zu einem Anthropozän, aus dem die Menschen schon längst wieder verschwunden sind, ihre toxischen Hinterlassenschaften aber noch Jahrtausende weiter bestehen.

Video: Several Wives – Copycat

Hat Dark Ambient üblicherweise ein großes Interesse an einer irgendwie sinngebenden, quasi erzählenden Anordung von Klängen, so ist dieser Aspekt im Grenzbereich zwischen akademisch und nichtakademisch experimentierender Elektroakustik noch deutlicher zu spüren, speziell wenn eine menschliche Stimme involviert ist. Das kann ganz wörtlich verstanden werden, wie auf On Vanishing Land (Flatlines), das sich zwischen Hörspiel, Radio-Essay und Ambient-Erzählung stellt. Die zweite Arbeit der Kollaboration des britischen Autors, Kulturtheoretikers und Hyperdub-Mitgründers Mark Fisher mit dem Sound Art Produzenten Justin Barton, die 2013 als multimediale performative Ausstellung in der Londoner Galerie „The Showroom“ stattfand, findet nun zwei Jahre nach Fishers Tod auf einer eigens dafür geschaffenen Plattform eine posthume Existenz. Und dass das fünfundvierzigminütige, in zwei Teile gesplitte Stück nun als Tonträger außerhalb eines engeren Kunstkontexts verfügbar ist, ist mehr als erfreulich. Fisher erzählt von der Kultur-Natur, den unwirtlichen von verfallender Industrie geprägten und doch unvermittelt bezaubernden Nichtorten der britischen Ostküste bei Ipswich, von Containerhäfen, Heideland und antiken Hügelgräbern um immer wieder bei seinem Lebensthema anzulanden, den Geistern des Kapitalismus, den unheimlichen Echos der dysfunktionalen Industriekultur. Barton unterlegt Fishers Erzählung mit speziell für diesen Anlass geschriebenen Dark Ambient/ Drone Stücken von Raime, John Foxx, Gazelle Twin und anderen. Und doch ist dieser Trip keine Dystopie, keine „Black Mirror“ artige Vision ohne Hoffnung. Inmitten der schäbigen Restnatur des unordentlich verrottenden Brachlands scheint immer wieder die Idylle einer nachkapitalistischen Ordnung auf. The Kingdom of the Eel (Focused Silence), das Debüt von Dean Ramsay erzählt ebenfalls von der jahrtausendealten Natur- und Kulturlandschaft der Norfolk Fens im äußerten Osten Englands. Ramsay beschränkt sich auf instrumentale Mittel der Erzählung, Feldaufnahmen und Synthesizer stetig auf der Kippe zwischen idyllischem Natur-Ambient und klaustrophobischer Indoor-Elektroakustik. Dass die Idee der Erzählstimme sehr gut gegen den Wortsinn verstanden werden kann, zeigt ebenso deutlich die epische Analogsynthesizererzählung Genera; Live at AB Salon, Brussels (Touch) der US-Amerikanischen Newcomerin Bana Haffar. Sie hat vor vier Jahren ihre klassische Musikausbildung an der Violine zugunsten einer Faszination mit den Eurorack-Modulen von Make Noise und Serge aufgegeben und erzählt seither von Spaziergängen auf und in realen und elektronischen Räumen und Pfaden. Spannende und informative Trips, die vielleicht ähnlich viel über den Zustand der Welt sagen können, wie Fishers explizit gemachte Gedanken.

Stream: Bana Haffar – Genera (preview)

Die elektroakustische Komponistin Kali Malone, die ziemlich mühelos zwischen akademischem und popmusikalischem Elektronikschaffen pendelt, ist ebenso flexibel wenn es um die Instrumentierung ihrer Stücke geht. Nach den beeindruckenden Buchla-Synthesizer-Explorationen „Cast of Mind“ im vergangenen Jahr (Motherboard berichtete), steht auf The Sacrificial Code (Ideal Recordings) die rein akustisch belassene Kirchenorgel im Mittelpunkt. Zehn lange, live eingespielte Stücke von archaischer Einfachheit in wenig geläufigen Tonarten. Die streng konstruierten Stücke bestehen aus nicht mehr als langsamen Variationen einer Handvoll stehender Einzeltöne, erreichen aber in ihrer ausgestellten Simplizität einen fast psychedelischen Effekt. Die Idee einer ultimativen Aufhebung der Zeit, einer sakralen Entrückung durch rhythmischen und melodischen Minimalismus ist uralt. Von der gregorianischen Chorälen über die Drone und Minimal Music der sechziger Jahre bis zum Minimal Techno von Ricardo Villalobos oder Richie Hawtin hat sie sich immer wieder manifestiert. Kali Malone und die auf ihrem jüngsten Album Pale Bloom (W.25th/Superior Viaduct) ebenfalls mit extrem reduzierten Orgelklängen arbeitende Sarah Davachi haben dann nochmal eine neue wie einzigartige Form für diese Erleuchtung gefunden. Ihr extrem zurückgenommener, ego-reduzierter Ansatz betont die Reinheit des Klangs, öffnet den Raum und vermittelt die Ahnung einer säkularen Transzendenz.

Kali Malone – Litanic Clothes Wrung

Zwischen ernster Elektroakustik und bitterernstem Dark Ambient ist doch so viel Raum für spielerische Experimente, warum wird er so selten genutzt? Zum Beispiel wie von The Cray Twins. Das virtuelle Soundart Kollektiv um die Schotten Paul Baran und Gordon Kennedy, das sich vielleicht nach den in den sechziger Jahren in die Popkultur eingegangenen britischen Gangsterbrüdern Kray benannt hat oder doch nach einem Flusskrebs, mischt auf seinem zweiten Album In The Company Of Architects (Fang Bomb) die Beiträge diverser elektronischer und akustischer Improv-Instrumentalisten quasi im “Shuffle-Modus” zu drei langen hörspielartigen Tracks zusammen. Eine rasante Abfolge irgendwie interessanter Sounds, die zwar in einen größeren Zusammenhang montiert sind, aber doch zufällig collagiert wirken, die crunchy verfrickelt doch ein größeres Ambient-Ganzes ergeben. Das enigmatische Berliner Label Undogmatisch verkauft seine Musik wie Kunsteditionen. Das eröffnet Freiheiten für Eigenheiten, die ein regulär operierendes Label eventuell nicht bieten kann. Das Duo des Labelmachers Mirco Magnani & Lukasz Trzcinski verbindet auf der nicht am Kunstmarkt orientierten, in der Vinyledition sogar extrem fair bepreisten LP Lumiraum (Undogmatisch) elektrische Frösche mit analogen Holzbläsern in einer Ästhetik des improvisierten und vorläufigen, die es schafft doch irgendwie zu Ambient zu werden. Das ist tatsächlich ziemlich undogmatisch und richtig gut.

Stream: Mirco Magnani & Lucasz Trzcinski – Buriash

Wenn es darum geht, alles mit nichts zu verbinden, wenig aus viel zu machen, ist Félicia Atkinson die Künstlerin der Wahl. Der französischen Autorin, Produzentin, Musikerin, Kunstbuchverlegerin, Labelbetreiberin und Spoken Word Perfomerin beherrscht die Synthese von elektroakustisch-akusmatischer Komposition, neoklassischem Ambient und avantgardistischer Performance-Kunst auf eine völlig organische Weise. Vermutlich gelingt ihr dies so augenscheinlich mühelos, weil sie die Kraft der Stille jederzeit bewusst einsetzt. Ihr gefühlt endlos vor sich her mäanderndes Doppelalbum The Flower And The Vessel (Shelter Press) aus geflüsterter Poesie über verrauschten Feldaufnahmen, knisternden Klangcollagen und Erik Satie hommagierenden Pianominiaturen am unteren Rand der Hörschwelle gehört zum leisesten und diskretesten, was in den vergangenen Jahren von ihr (und überhaupt) erschienen ist und erzählt doch mehr von der Welt und der Substanz, aus der sie gemacht ist, als der fetteste Krach.

Stream: Félicia Atkinson – Moderato Cantabile

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