Foto: Grzegorz Baciński & Izabella Chrobok (Keyi Studio)
Vor weniger als zwei Jahren spielte sie ihr Europa-Debüt, danach ging alles recht schnell: Ciel veröffentlichte ihre Debüt-EP auf Shanti Celestes Peach Discs und erhielt dafür viel Zuspruch. Sie wurde zur ersten Visitenkarte ihres breakigen Sounds. Diese Woche erscheint eine neue EP auf Ghostly International. Inzwischen spielt die Kanadierin mehrmals im Jahr in Europa und hat gerade selber ein Label mitgegründet, um Künstler*innen aus ihrer Heimatstadt Toronto zu fördern. Ein Versuch, mit ihrer Heimat verbunden zu bleiben. Groove-Redakteurin Cristina Plett traf die Künstlerin, die dafür bekannt ist, mit ihrer Meinung selten hinter dem Berg zu halten.
Cindy Li erscheint zum Interviewtermin, wie es sich für eine DJ gehört, die während ihrer Europatour ihr Basecamp in Berlin aufgeschlagen hat: Mit einem Jutebeutel von Clone-Records voll frisch gekaufter Platten. Am Morgen ist sie noch im Friedrichshainer Plattenladen Audio-In gewesen. Am nächsten Wochenende wird sie in Stockholm spielen. Doch jetzt schwärmt sie von der großen Auswahl an Breaks und Trance-Platten, die es bei Audio-In gäbe. Genres, die die Kanadierin, die unter dem Namen Ciel auflegt, immer mal wieder in ihre Sets einstreut. Die sie in den vergangenen zwei Jahren in Clubs auf der ganzen Welt geführt haben. Und die sie in ihrer Heimatstadt Toronto kaum bekommt. Denn dort gibt es nur einen Plattenladen, zu dem sie regelmäßig geht. Und nur wenige Clubs für gute dance music. Von Labels ganz zu schweigen. Womit wir bereits mitten im Thema wären: Anlass für das Gespräch ist ein Label, was Ciel gerade gemeinsam mit den befreundeten DJs Daniel 58 und Yohei Saka gegründet hat: Parallel Minds.
Toronto zu einem aufregenden Ort machen
„Um eine gesunde Musikszene zu haben, brauchst du Labels”, erklärt Li. Viele Freunde aus Toronto würden ihr Musik schicken, doch es gäbe schlichtweg keine richtige Plattform, um diese zu veröffentlichen. Auch wenn heutzutage jede*r via Bandcamp self-releasen kann, dienen Labels immer noch als Zeichen für Qualität und bilden die Basis für ein Netzwerk. Umgekehrt lernt man darüber vielleicht Labelmacher*innen kennen. Ohne den persönlichen Kontakt ginge es nämlich kaum, so Li: „Die Herausforderung ist, dass die meisten Labels sich keine Demos anhören. Und wenn du aus einer Stadt wie Toronto kommst, hast du da quasi ein geografisches ‘Non-Privileg’.” Denn obwohl es die größte Stadt Kanadas ist, gäbe es kaum Platz für elektronische Musik. Anders als in Vancouver, das die House-Szene um Mood Hut hervorgebracht hat, oder sogar Montreal, sind hier Indie-Rock und Hip Hop groß, erklärt Li. Parallel Minds möchte daran mit einer strikten Regel nun etwas ändern: „Toronto artists only.”
Stream: Ciel – „Hind Sight Is 360”
Es ist der nächste logische Schritt in Cindy Lis langfristigem Plan: „Was kann ich tun, um Toronto zu einem weniger langweiligen Ort zu machen?”, fasst sie ihre grundlegende Motivation etwas überspitzt zusammen. Seit rund vier Jahren veranstaltet sie Partys in Toronto, an unbekannten Orten wie Warehouses oder Garagen. Immer am Rande der Legalität. Li hat versucht, als Partyveranstalterin enger mit den Behörden zusammenzuarbeiten. Doch ihre zunehmend internationale DJ-Karriere kommt ihr immer mehr in die Quere: „Vor kurzem gab es ein wichtiges Meeting zwischen dem Musikbüro der Stadt und Promotern zu Lärmschutzverordnungen, das ist eine unserer größten Herausforderungen. Ich konnte nicht zu dem Meeting kommen, weil ich in Asien war”, sagt sie mit einem Hauch von Enttäuschung in der Stimme.
Ein Geist in ihrer Heimatstadt
Seit sie in den vergangenen zwei Jahren immer mehr durch die Welt tourt, fällt es ihr nicht nur auf solch praktischer Ebene zunehmend schwer, weiterhin Partys in ihrer Heimatstadt zu veranstalten. Es führt in vielerlei Hinsicht zu Konflikten: Während sie alleine unterwegs, aber auch wenn sie wieder zu Hause ist. „Ich fühle mich jetzt schon manchmal wie ein Geist in Toronto. Ich durchlaufe permanent verschiedene Gefühle, wenn ich da bin”, erzählt sie. Auch deswegen achtet sie darauf, möglichst einen Monat am Stück dort zu sein. Allein durch das Wiederankommen merkt sie immer wieder, dass sie nicht mehr ganz ein Teil von Toronto ist: „Die ersten Wochen ist das einzige Gesprächsthema immer: ‘Willkommen zurück, wie war deine Tour?‘“, Li äfft die immergleiche Frage mit hoher Stimme nach. „Aber ich will einfach nur sein, wer ich war, bevor das Touren anfing. Doch natürlich kann das nicht passieren.” Cindy Li ist sich diesem Umstand mehr als bewusst, so wie sie alles um sich herum zu reflektieren scheint. Und trotzdem, oder gerade deswegen, strengt sie sich an, diesen Zustand zu ändern – beziehungsweise, alles beim Alten zu belassen. An die Zeit anzuknüpfen, in der sie eine feste Präsenz im Nachtleben der kanadischen Großstadt war: Zunächst mit einer Residency im Club Bambi’s. Dann mit ihrer Partyreihe „Work In Progress”, bei der alle Headliner queer oder weiblich sind, denn die Beseitigung von Geschlechterungleichheit bei DJs und Produzent*innen ist ihr schon lange ein Anliegen. Schließlich mit ihrer zweiten Partyreihe „On My Way”, bei der sie sich auch erlaubt, männliche Künstler zu buchen. Das Label ist nun ein Versuch, trotz ihrer temporären Abwesenheit in der Szene präsent zu bleiben.
Stream: Ciel – „Why Me?“
Während Li auf Tour ist, sind die Sorgen andere. Im Berliner Bezirk Neukölln, wo das Gespräch stattfindet, fühlt sie sich inzwischen ganz wohl. Die ersten Male, als sie in Europa spielte (ihr erster Gig in Berlin fand im August 2017 statt), war das noch anders. „Ich fühlte mich sehr einsam. Es ist ziemlich einschüchternd, so in einer Szene zu landen und keiner weiß, wer du bist. Ich fühle mich dadurch ziemlich ängstlich und klein.”, sagt Li ehrlich. Und das sei eigentlich noch immer so, „die ganze Zeit”.
Twitter als Tagebuch – und Sucht
Bei ihrer letzten Tour durch Asien, die, wegen der sie das wichtige Meeting in Toronto verpasst hatte, war das anders. Zum einen hatte sie eine persönliche Verbindung zu den Ländern, die sie bereiste: Li ist in der chinesischen Großstadt Xi’an geboren und lebte dort, bis sie acht Jahre alt war. Rund zwei Dekaden später arbeitete sie zwei Jahre lang in Südkorea als Englischlehrerin. Zum anderen hatte sie ihren langjährigen Partner dabei, was sie nervlich entlastete: „Es ist einfach schön, wenn du jemanden zum Reden hast”, sagt sie und fährt fort: „Wenn du auf Tour bist, können kleinere negative Sachen passieren, aber ich bin da ziemlich sensibel. Wenn ich mich dann in solchen Momenten selbst bemitleide, ist das Wichtigste, etwas oder jemanden zu haben, der mich von den Gedanken ablenkt.” Aber was tut Li, wenn da keine ihr nahestehende Person ist? Sie schweigt lange. Und antwortet schließlich: „Ich glaube, eine meiner schlimmsten Angewohnheiten ist, Twitter wie ein Tagebuch zu nutzen.” Ein Tagebuch in 280 Zeichen-langen Fragmenten.
Stream: Crack Mix 232 – Ciel
Das macht sie zu einer polarisierenden Figur unter DJs. Denn mit den Unsicherheiten, die sie im Interview schildert, steht sie vermutlich nicht alleine dar. Gerade weil es aktuell so viele Künstler*innen gibt, die in kürzester Zeit von unbekannten Locals zu Stammgästen des internationalen Club- und Festival-Zirkusses aufsteigen. Doch nicht alle lassen so tief in ihre Gedanken- und Gefühlswelt blicken; vermitteln in Echtzeit einen Eindruck dessen, was es bedeutet, für Wochen am Stück nicht zu Hause zu sein; geben ihre ungeschönte Meinung zu „Techno-Twitter”, wie Li es nennt, ab. Sie sei schon immer eine extrovertierte Person gewesen und die Art und Weise, wie sie im Gespräch auch von sehr persönlichen Themen ohne Scheu erzählt, bestätigt das. Dass Extraversion gerade im Internet ihre Schattenseiten haben kann, ist klar: „Du machst dich angreifbar”, erklärt sie. „Jeden Tag, wenn ich auf Twitter bin, sind da einfach ständig Leute am Streiten”, fährt Li fort, und man hört ihr an, wie müde sie dessen ist. Ihren Twitter-Konsum bezeichnet sie als Sucht, alles andere wäre gelogen, sagt sie. Deswegen ist Cindy Lis Vorsatz für 2019 auch: Ihre gesamte Nutzung von Social Media zu reduzieren.
Wo bleiben die Produzentinnen?
Negative, gar hasserfüllte Kommentare bekommt sie so oder so. Denn das ohnehin schon raue Gesprächsklima auf Social Media trifft bei ihr als Frau obendrein auf Sexismus. „99% der hasserfüllten Kommentare, die ich kriege, kommen von Männern. Ich habe jede weibliche Künstlerin Hass von Männern im Internet kriegen sehen”, so Li. Jayda G beispielsweise sieht sich mit Vorwürfen konfrontiert, nicht mixen zu können. Das Aussehen für Erfolg verantwortlich zu machen, ist sowieso ein Klassiker. Und wirtschaftlich gesehen sei es lohnenswert, Frauen zu promoten, so Li: „Ich glaube, dass Frauen als DJs aus der Business-Perspektive echt Sinn machen. Wer würde nicht wollen, dass eine wunderschöne Frau tolle Musik spielt?”. Dass sie damit schnell als Token herhalten müssen, liegt auf der Hand. Doch obwohl oder gerade weil immer mehr Frauen in der DJ-Szene zu sehen sind, arbeitet sich Li schon an der nächsten Frage ab: „Was ist mit den Produzentinnen?”
Stream: Ciel – „Elevate (Go Off Mix)”
Die können mit dem Vorwurf des Ghostproducings schonmal die ganze musikalische Integrität abgesprochen kriegen. Genau das ist Cindy Li passiert, nachdem sie Ende 2017 ihre erste EP auf Shanti Celestes Label Peach Discs veröffentlicht hatte. Für ein Debüt schienen die drei Tracks auf Electrical Encounters einigen Männern wohl zu gut. Zudem sie erst ein Jahr vor der Veröffentlichung überhaupt mit dem Produzieren angefangen hatte. Warum es so schnell ging? Li holte sich Hilfe. Ein Freund zeigte ihr, wie man mit Ableton produziert. Dass sie damit immer offen umgegangen ist, lässt den Ghostproducing-Vorwurf natürlich in greifbare Nähe rücken. Doch Li versteht nicht, warum es so verpönt ist, sich etwas richtig beibringen zu lassen: „Es ist interessant, dass wir in der elektronischen Musik so eine DIY-Mentalität haben, obwohl es eine professionalisierte, milliardenschwere Industrie ist. Wie lernen Booker, Promoter, Agenten? Sie geben ihr Wissen weiter, Generation für Generation. Auf eine gewisse Weise ist das sehr traditionell”, beobachtet Li. Man könnte einwenden, Techno müsse eben DIY sein, punkig. Für sie aber ist klar: „Das ist es schon seit vielen Jahren nicht mehr.”
An Talent glaubt Ciel nicht
Eine nicht zu unterschätzende Rolle bei Lis schnellem Produktionserfolg hat zudem ihre Ausbildung gespielt. Genauso, wie sie an das professionelle Erlernen von Dingen glaubt, sieht sie Musik als ein Handwerk, das man lernen kann und bei dem Übung die Meisterin macht. Sie musste es selbst auf die eher harte Tour lernen: Li hat als Kind zwölf Jahre lang Klavier gespielt. „Meine Mutter ließ mich jeden Tag vier Stunden üben. Richtig harte asiatische Eltern”, sagt sie und lacht ein wenig verlegen. Jetzt, viele Jahre später, kommt ihr das Verständnis für Melodien und Harmonien zugute. Gerade der poppige Aufbau ihrer Tracks und der emotionale Gehalt der Melodien machen ihre Musik so eigen. Sie verzahnen sich mit den perkussiven Drums, wie sie auf ihrer neuen EP Why Me? auf Ghostly International stärker im Vordergrund stehen. Beides zusammen wird zum unverkennbar verträumten „Ciel-Touch”, den man auch in ihren DJ-Sets hören kann. Andere brauchen Jahre, um so etwas wie einen eigenen Sound zu entwickeln. Auch wenn sie nicht an den Begriff glaubt: Vielleicht ist also doch etwas Talent dabei.
Dass sie ihre Fähigkeiten in Zukunft gerne einmal weitergeben würde, erscheint nur logisch. Li kann sich vorstellen, Workshops übers Produzieren anzubieten, gerade auch um Produzentinnen zu fördern. Oder Mentorin zu sein. Mit Parallel Minds gibt sie erst einmal etwas an Toronto zurück. Auch wenn sie sich mit ihrem ständigen Elan, Dinge verbessern zu wollen, nicht ganz wohl fühlt: „Ich glaube, das ist auch ein kleiner Messias-Komplex. Ich meine, es ist ein bisschen arrogant zu denken, dass ich die Fähigkeit habe, Toronto weniger langweilig zu machen”, überlegt Li, um dann schallend zu lachen. Es scheint, als wolle sie mit der Ironie den Wahrheitsgehalt der Aussage kaschieren: Dass Ciel tatsächlich zu vielem fähig ist. Vielleicht auch dazu.
„Why Me?” erscheint am 24. Mai auf Ghostly International.