Fotos von den jeweiligen AutorInnen
Nach den rebellischen sechziger Jahren zogen sich die siebziger auf sich selbst zurück. Das allerdings heißt nicht, dass es nicht zu Umwandlungen gekommen wäre, sie fanden nur im Verborgenen statt und infiltrierten erst langsam den Mainstream. So wie etwa Disco, das mehr als ein kurzer Trend war. Nachdem Disco bereits mit den tradierten Strukturen von Pop-Musik gebrochen hatte und das ungeschriebene Gesetz der dreiminütigen Obergrenze für einen Hit-Song gekonnt ignorierte, musste schnell ein neues Format für die DJs gefunden werden, die sich seit Anfang der siebziger Jahre einerseits mit den eher schwierig zu manövrierenden und klangqualitativ eher beschaulichen 7″s herumschlugen oder aber vorgemixte Tapes (hallo, Mr. Guetta!) zurückgriffen. Tom Moulton experimentierte bereits recht früh mit der Idee, den neuen Sound in voller Länge auf das 12″-Format zu bringen. Es sollte jedoch bis 1976 dauern, bis die erste kommerzielle Maxi-Single erschien: Double Exposures Ten Percent. Diese war in gleich zweifacher Hinsicht revolutionär, enthielt sie doch neben dem Titeltrack auch gleich den Walter Gibbons-Remix des Titelstücks. Mit der Einführung der 12″ wurden die Weichen für eine musikgeschichtliche Revolution gelegt, die sich weit über Disco hinaus erstreckte – auch die aufkeimende Hip Hop-Szene profitierte maßgeblich von dem neuen Format – und sie auch überdauern sollte. Derweil die 12″ beziehungsweise Vinyl allgemein nach der Jahrtausendwende über die zunehmende Digitalisierung (hallo, Mr. Hawtin!) einen deutlichen Knick erlebte, ist sie mittlerweile wieder zu einem der Hauptwerkzeuge unserer Clubkultur geworden. Mehr als genug Anlässe für das Groove-Team, die ganz persönlichen Favoriten vorzustellen.
TR-909 – Bass Drum (Sex Tags Mania, 2009)
Eigentümlich, dass bis 2009 niemand auf die Idee kam. Dann aber veröffentlichte das norwegische Label Sex Tags Mania am 1. April die ultimative Hommage an die Essenz von House und Techno: die Bass Drum. Auf eine gleichnamige 12″ presste man eine einzige Endlosrille, zu hören ist die Bassdrum der 909 (nicht etwa die der 808), die sogar als Artist geführt wird. Bei relativ genreunempfindlichen 120bpm tut sie ihren Dienst. Für immer. In die gar nicht benötigten Auslaufrille ist ‘The Redefinition of Space’ eingeritzt. Christian Blumberg
Fym / SMax – Streetlevel Surrealizm (Boogizm, 2001)
Streetlevel Surrealizm von Fym und SMax auf Boogizm hörte ich nach meinem ersten großen DJ-Set 2001 vom DJ nach mir. Eine Initiation, durch die ich das Potential des Unvorhersehbaren im Techno entdeckte und mich einige Zeit zur Spezialistin für diesen quirligen, jazzartigen, bleepigen Sound machte. Heute bin ich etwas stolz, dass ich den, neben der Brightontechno-Garde und Hieroglyphic Being, innovativsten Technoproduzenten und tollsten DJ SMax persönlich kenne. Christin Bolte
Random Noise Generation – Instrument Of Change (430 West, 1999)
Einmal im Jahr durchsuche ich mein Regal nach dieser Platte! Ich kann nicht glauben, dass sie weg ist! Kollegenklau! Instrument Of Change von Random Noise Generation hat mich überhaupt zum Techno gebracht. Ein Klassenkamerad, der jetzt in der Band Sick Horse spielt, hat mit leuchtenden Augen erzählt, wie toll Techno sei und wir haben diesen Track von Tape abgefeiert. Silvester 2000 im Tacheles dann haben Apparat und Ellen Allien “Instrument Of Change” aufgelegt und wir sind durchgedreht! Christin Bolte
Skooby Laposky – The Timpani Waves EP (Oratai Sound Salon, 2002)
Theo-Parrish-Platten und -Remixe machen sicherlich einen halben Regalmeter in meiner Sammlung aus. Dabei ragt dieser Remix aus der Masse seiner Veröffentlichungen heraus. Er dürfte einer der unbekannteren und ungewöhnlichsten von ihm sein. 2002 im Kölner Groove Attack für damalige Verhältnisse schroffe 12,50€ gekauft. Der Theo-Parrish-Remix von “Lighthouse” ist ein warmer, minimalistischer Dub-Schleicher mit Möwen- und Seegeräuschen, tiefergelegtem Bass und Rhodes-Sprenkeln. Rollt und rollt und rollt auf 105bpm. Die wunderschön gestaltete EP ist übrigens neben einem Album die einzige je auf Oratai Sound Salon erschienene Platte; auch von Skooby Laposky hat man danach scheinbar nie wieder was gehört. A true 12″ gem. Carlos de Brito
Four Tet & Burial – Moth / Wolf Cub (Text, 2009)
Kannst du dich noch dran erinnern, wo und wann du zum ersten Mal deine Lieblingstracks gehört hast? Ich zumindest in einem Fall: Trier, Frühling 2009. Auf einer WG-Party stehe ich sofort nach dem Reinkommen vor den Decks: Track ID? Burial und Four Tet, “Moth” – gerade rausgekommen. Derselbe Kumpel, der damals diese Platte auflegte, überließ mir dann auch drei Jahre später sein zweites Exemplar, weil ich sowohl die Erst- wie auch die Zweitpressung verschlafen hatte. Insbesondere “Moth” wird mich niemals ermüden – und das obwohl ich den Track gut ein halbes Jahr als Weckton eingestellt hatte. Wenn die Schönheit von Musik solchen traumatischen Erlebnissen trotzen kann, ist sie für die Ewigkeit. Und obwohl die komplett in Understatement-Schwarz gehüllte Platte so schwer zu identifizieren ist: Sie wird die Plattentasche nie verlassen. Ich hoffe trotzdem auf eine Drittpressung. Real DJs… Ihr wisst schon. Kristoffer Cornils
Maurizio – Domina (Maurizio, 1993)
Damals, so um 1994, hatte ich schnell entdeckt, dass sich auf wundersame Weise neben Fury in the Slaughterhouse- und New Model Army-Platten gelegentlich auch zerkratzte Force Inc-EPs in die Grabbelkiste des Eisenacher Kaufhaus Schwager verirrten. Und eines schönen Tages auch Maurizios Domina mit der in Stein gemeisselten und nach wie vor gültigen Dub Techno-Blaupause auf der A-Seite und dem nahezu balearisch verträumten Carl Craig Mix auf der B-Seite. Beides immer noch so aktuell und aufregend wie damals. Eine EP, die reift wie guter Rotwein und immer noch ein unumstößlicher Fixpunkt in meiner Plattensammlung ist. Stefan Dietze
Technasia – Themes From A Neon City (Technasia, 1997)
Ich glaube, kein elektronischer Musik-Act hat den universalen und Globus umspannenden musikalischen Impetus von Techno besser verkörpert als Technasia. Deren Story begann 1997 mit dieser Hommage an die Neon City. Amil Khan, seines Zeichens Labelmanager aus Hongkong, und der aus Frankreich stammende DJ Charles Siegling schufen mit “Descent” ein Stück narrativer Detroit-Neotrance für urbane Romantiker, das auch nach knapp 20 Jahren aber rein gar nichts an visionärer Kraft eingebüßt hat. Jochen Ditschler
Simon Fisher Turner – Shishapangma (Comatonse Recordings, 2015)
Diese ziemlich junge 12“ zeigt warum das unhandliche Vinyl-Format auch in Zeiten digitaler Kompression unverzichtbar ist. Die A-Seite ist ein Ausschnitt aus Simon Fisher Turners erhaben fließendem Soundtrack zu der Stummfilm-Dokumentation The Epic Of The Everest von 1924. Schon diese Art von subtilem Field-Recording-Ambient auf Vinyl zu pressen ist eine schöne, wenn auch leicht abwegige Idee. Die wahre Grandiosität des Stücks, und der Grund warum es auf Vinyl erscheinen musste, erschließen sich erst auf der B-Seite. In den 11 Minuten und 22 Sekunden von DJ Sprinkles „Deeperama“-Remix wird House als Ambient nochmal ganz frisch definiert. Ein derart weicher, warmen, tiefer und ganz sanft, aber unvergleichlich mächtig heranrollender Bass ist nur Vinyl und auf der bestmöglichen Pressung machbar – und DJ Sprinkles ist jemand, der ganz penibel auf solche Kleinigkeiten achtet. Sound ist alles, und das richtige Medium für den besten Klang ist entscheidend, das gilt nicht nur im HighEnd Bereich. Dieser Track ist als 128kbit MP3 oder Low-Resolution-Stream einfach nicht möglich. Es bliebe nichts übrig. Frank P. Eckert
Depeche Mode – Behind The Wheel (Remixed By Shep Pettibone) (Mute, 1987)
Diese Platte habe ich Ende 1987 bei WOM gekauft – weil ich zuvor noch nie eine Platte in durchsichtigen Orange gesehen hatte, vor allem aber weil ich zu der Zeit alle Platten von Depeche Mode kaufte. Das Medium Maxi-Single war damals noch nicht mal so alt wie Inches groß, aber ich wusste nicht, dass es ursprünglich nur für DJs gedacht war. Zuvor hatten Depeche Mode ihre Singles vor allem von den Produzenten ihrer Alben anfertigen machen, hier veröffentlichten sie erstmals ausschließlich Dance-Mixe auf einer regulären Veröffentlichung. Auf der A-Seite den “Behind The Wheel”-Remix der US-Remix-Größe Shep Pettibone, auf der B-Seite die Coverversion von “Route 66″ der englischen Produzenten Beatmasters. Als Teenager, der noch zu jung war, um in Discos reinzukommen bot diese 12” für mich das, was Boiler Room für viele Jugendliche heute ist: eine erste Ahnung von Clubmusik. Heiko Hoffmann
File 538 – File 002 (File 538, 2002)
Dass Japan in den Neunzigern und frühen Zweitausendern ein unglaublich interessanter Nischenmarkt für elektronische Musik war und allerhand Obskuritäten hervorgebracht hat, dürfte vielen spätestens seit dem Far East Recording-Revival bewusst geworden sein. Ein weiteres gutes Beispiel ist File 538, Urheber eines zwei Platten umfassenden One-Off-Projekts, von dessen Existenz nicht viel mehr als die angelegten Discogs-Einträge zeugen. Die zweite Platte im Speziellen vereint Breaks mit einem Hauch von Jungle, sowie verträumten Downtempo – intensiv und einfach toll. Lässt sich teils auch gut auf 45rpm spielen. Felix Hüther
Madonna – Justify My Love (Sire, 1990)
Meine erste bewusste Erinnerung an „Justify My Love“ ist, als ich als Noch-Nicht-Ganz-Teenager heimlich nachts VH1 schaute und dann dieses Video lief – sehr verstörend, aber auch faszinierend, und ich will gar nicht drüber nachdenken, inwiefern sich das auf meine weitere Entwicklung auswirkte. Jedenfalls habe ich vor einiger Zeit in einem übervollen Plattenladen in Wien eine Remix-Platte von „Justify My Love“ entdeckt. Die Single gibt es in verschiedenen Ausführungen, wobei bei meiner das Original nicht drauf ist. Dafür ein sehr schöner Hip Hop Mix; eine Version, die meiner Meinung nach sehr nah am Original ist; sowie eine Variante, die von Madonna und Lenny Kravitz selbst erstellt wurde. Letzteren Track finde ich besonders bemerkenswert: Das Instrumental besteht aus indischen Samples, produziert von Lenny Kravitz, und dazu liest Madonna den Text der Offenbarung des Johannes. Ja, die Bibel! Madonna! Amen. Regina Lechner
Cabaret Voltaire – Sensoria (Virgin, 1984)
Das Lachen zu Beginn, die durchgehend einpeitschenden Handclaps, der Funkbass, der New-Beat-Groove, die Breaks, die Synthlines, die gespenstischen Vocalsamples, die Postpunk-Gitarren, die fesselnde Frauenstimmen-Melodie, die Latin-Percussions, Richard H Kirks’ nervös sehnsüchtiger Gesang und vieles mehr: als 1984 zum ersten Mal die Magie der Cabaret Voltaire Maxi „Sensoria“ im Bewusstsein des Verfassers dieser Zeilen auftauchte, war er für eine Weile absolut hypnotisiert. Kaum eine 12inch aus der Mitte der 1980er ist so gefüllt mit Sound-Informationen aus ihrer Zeit. Auch die assoziativen Lyrics offenbaren viel über den Gegenwartswahnsinn von damals – einer Zeit in der eine gewisse Frau Thatcher das neoliberale Glücksstreben im Herz des Vereinigten Königreichs installierte und die Nato an der Ostgrenze ihre Nuklearwaffen immer höher auftürmte. Das erstaunliche an „Sensoria“ ist aber: die epischen 7:52 Minuten laden ziemlich unmittelbar zum hingebungsvollem Groovedrift ein. Ein Track, der auch noch heute jede Party mit dem versorgt, was schon zu seiner Entstehung immens wichtig war: musikalische Überraschungsmomente zwischen Experiment, Musikalität, Groove und einer kritischen Haltung zur Gegenwart. Das Video zu „Sensoria“ – realisiert von Cabaret Voltaire und dem britischen Regisseur Peter Care – ist ebenso außergewöhnlich und landete schnell in der permanenten Sammlung des Museum Of Modern Art/NYC. Michael Leuffen
FCL – It’s You (San Soda’s Panorama Bar Acca Version) (We Play House, 2012)
Die Platte habe ich 2012 vom belgischen DJ Jonas Lion geschenkt bekommen, als er zu Besuch war. Wir sehen uns vielleicht 1 mal im Jahr und eine 12″ als Mitbringsel ist mittlerweile Tradition. Die Platte ist limitiert auf 150 Stück, kein Repress. Es gab damals einen ziemlichen Hype um den Track, stellenweise gab es Discogs-Mondpreise von 400€. Aktuell ist sie schon ab 90€ zu haben, Schnäppchen! Ist doch ein guter Preis für ein einziges Lied. Hatte ich schon erwähnt, dass die Platte durchsichtig ist? Jan Rödger
Roy Davis Jr. featuring Peven Everett – Gabriel (XL, 1997)
Die liebste 12″? Knifflige Aufgabe, wenn einem direkt locker zehn in den Kopf schießen. Laurent Garniers Flashback, die Maurizio-Serie, was aus dem Bradock-Katalog. Oder doch Disco, was Neues, vielleicht sogar eher Unbekanntes? Am Ende fiel die Wahl auf Gabriel von Roy Davis Jr. featuring Peven Everett, weil drei der vier Tracks auf dieser 12″ zwar für die Tonne sind, die “Live Garage Version” aber so ziemlich alles vereint, was ich an Dance Music liebe. Erst vor kurzem wurde die Platte nachgepresst, ich habe meine Kopie irgendwann günstig bei Discogs geschossen, Jahre nachdem ich den Track erstmals in einem Mix auf jetzt.de entdeckt habe, den ich bis heute nicht wieder auftreiben konnte. Danach habe ich 12″ noch einmal sehr günstig für vier Euro oder so in einem Berliner Plattenladen entdeckt und ohne lange zu überlegen für einen Freund mitgenommen, der damals vom UK-Sound in Richtung House wanderte – und Garage ist da ja eine wunderbare Brücke. Sascha Uhlig
Mala – Changes/Forgive (Deep Medi, 2007)
Die Vocal-Melodie in “Changes” ist unverkennbar, die gebrochenen und wellenartig hämmernden Bassdrums ziehen mit ihrer zwingenden Energie auch bald zehn Jahre nach dem Release noch in ein schwarzes Loch. Mala, Digital Mystikz und Deep Medi stehen für eine enge Verbundenheit mit einer Soundsystem-Kultur, in der neben DJs und MCs auch Dubplates (wenn man möchte, eine besondere Art der Single) eine wichtige Rolle spielten und immer noch spielen. In der Auslaufrille der Single ist “TRANSITION” eingeritzt, der Name von Jason Goz’ Mastering-Studio aus Süd-London, das für eine Menge Platten und Dubplates des Genres verantwortlich zeichnet. Goz war auch regelmäßiger Besucher der DMZ-Nächte, wie in der ausführlichen Interviewsammlung von Lauren Martin für Vice nachzulesen ist. Mit der geerdeten Mächtigkeit und dem transzendenten Choral ist “Changes” eine Verkörperung des Mottos, unter dem die DMZ-Partys und Malas Musik stehen: “Meditate on Bass Weight”. Philipp Weichenrieder
Neuro Politique – Fusion Neu (Irdial Discs 42, 1992)
Das Cover sieht aus wie eine vielgenutzte Antiquität. Der Platte liegt ein langes Manifest bei: „Why CD is a Con or The Preservation of the Analogue Infrastructure“. Die CD hatte gerade ihren unausweichlich scheinenden Siegeszug angetreten. Das wäre schon Grund genug, dass diese 12“ einen besonderen Platz im Herzen jedes Vinyl-Liebhabers verdient hätte. Der Hauptgrund ist aber die Musik: vorwärtstreibend und vielschichtig zugleich, elektronische Musik mit einem tiefen, organischen Sound, weit entfernt vom kalten, perfekten Klang, den die CD versprach. Music for the body and the brain, die auch 24 Jahre später noch großartig klingt. Dieter Wiene
UR – The Return of Acid Rain/The Storm Continues (Underground Resistance, 1993)
Es ist mehr als leicht, unter Platten von Underground Resistance Exemplare zu finden, die wichtig und gut sind. Aber diese Konzept-EP mit acht Tracks von 1993 war für mich immer etwas Besonderes. Vor allem wegen dem eher kurzen “Rainbows over Paradise”, das als perfektes Intro und Outro, als Break, als Trostpflaster funktioniert, halt schlichtweg immer toll ist und selbst nach mehr als zwei Jahrzehnten nichts an Kraft und Ausstrahlung eingebüßt hat. Die Acid-Bassline singt nahezu, die Snares und der Beat legen los und dann ist es auch schon vorbei. Zwei Minuten und 25 Sekunden Optimismus aus Detroit. Perfekt. Schön. Zeitlos. Und mit einer Botschaft, die weiterhin gilt: “Rain should give life not take it away.” Gregor Wildermann