Neben Luke Slater hat wahrscheinlich kein britischer Techno Producer eine so umfassende und eigenständige Perspektive auf die Musik entwickelt wie Anthony Child alias Surgeon aus Birmingham. Seine sieben Alben aus den Neunzigern haben bis heute nichts von ihrer Energie und ihrer Unmittelbarkeit eingebüßt. Nachdem er in den Nullerjahren eine Auszeit vom LP-Format genommen hatte, schien er sich mit Breaking The Frame von 2011 neu zu orientieren. Surgeon bezog seine Klangräume auf die veränderte physische und soziale Außenwelt. Nach zwei Ambientalben unter seinem bürgerlichen Name zeigt er sich jetzt auf From Farthest Known Objects wieder in der größtmöglichen Direktheit. Allein die Klanggestaltung hat eine unvergleichliche Brillanz, Klarheit und Schärfe, die alle andere Musik vergessen macht. Bereits die Stille scheint bei ihm eine Spannung zu haben. Beats und Synthesizer sind nicht bloß die Bestandteile eines Technotracks. Sie sind unberechenbare Kräfte, bei aller Erfahrung bleibt die konkrete Begegnung unvorhersehbar. Anders als auf seinen Alben aus den Neunzigern kombiniert er nicht mehr Beat-Nummern mit Tracks ohne Grooves. Jetzt arbeitet er bei allen Titeln mit einem bestimmten Typ zerdehnter Breakbeats und einem bestimmten Typ beißender, metallischer Synthesizersounds. So entsteht eine neue Geschlossenheit. Durch die vergleichsweise geringen Unterschiede zwischen den Tracks wird die jeweilige Dynamik der entsprechenden Klangkonstellationen noch direkter herausgearbeitet. Eine weitere Qualität des Albums liegt darin, dass Surgeon die gerade Bassdrum in den Hintergrund treten lässt. Während zurzeit viele Bass-Music-Produktionen ein monotones Gehämmer zum Fetisch machen, ist bei Surgeon die gerade Bassdrum eher ein Idealbild, das im Kopf das Zuhörers entsteht, aber so gut wie nie unmittelbar umgesetzt wird. Bei aller Kontrolle und Bestimmtheit geht es Surgeon doch um Öffnung und Entgrenzung, um Techno jenseits von Techno. Die einzigartige Wirkung von Surgeons Musik entsteht vielleicht, weil er sich auf den elektronischen Postpunk und Industrial anders bezieht als die meisten Kollegen. Surgeon zitiert nicht, er übersetzt die künstlerischen Ideen in den Technozusammenhang. An Postpunk und Industrial interessiert ihn die Haltung: die Konsequenz, die Kompromisslosigkeit. Aber klanglich hält er mit einer unglaublichen Entschiedenheit an Techno als Zentrum, Basis und Ausgangspunkt jeglichen musikalischen Interesses fest.
Stream: Surgeon – BDF-3299