Text: Philip Weichenrieder, Fotos: Jon Bergman (oben), Michael Mann
Erstmals erschienen in Groove 154 (Mai/Juni 2015)

Frank Wiedemann, eine Hälfte von Âme, und Ry Cuming alias Ry X landeten 2012 mit „Howling“ einen Hit zwischen Pop und House. Aber statt nachzulegen, machten sich die beiden rar. Bei der Produktion der Musik für ihr Album Sacred Ground sind sie zu einer Band zusammengewachsen und gaben sich den Namen ihres ersten gemeinsamen Tracks: Howling.

Die Chancen standen im Sommer 2012 gut, dass die eingängigen Akkorde aus „Howling“ auf der Tanzfläche eines House-/Technoclubs oder auf einem Festival ans Ohr drangen und euphorisch-melancholische Gemeinschaftsmomente erzeugten. Frank Wiedemann und Ry Cuming gelang mit dem Track ein unabsichtlicher Hit. Es dauerte fast ein Jahr, bis mit der „Shortline EP“ ein weiteres Zeichen der beiden aufleuchtete. Die Musik war weniger hitverdächtig, klang dafür nach zwei Musikern, die einen gemeinsamen Weg suchten. Beinahe wieder zwei Jahre später haben sie ihn mit Sacred Ground gefunden.

 

Eine Art, die Welt zu sehen

Auf ihrem Album gehen sie einen Mittelweg zwischen elektronischer Clubmusik und Pop, zwischen Tanzen und zurückhaltender Nachdenklichkeit. Synthesizer und E-Gitarre, pulsierende 4/4-Kickdrum und plockernde Analog-Percussion, Piano und Field Recordings, Gesang und Leerstellen fügen Howling zu einem Ganzen. Cumings zerbrechlich wirkende Stimme schwebt, tief verankert in den melancholischen Melodien von Gitarre, Klavier und Elektronik, über dem Rest. Bässe, die kraftvoll, aber nicht dominant sind, legen sich in den Körper, die Bassdrum pocht sanft im technoiden Viervierteltakt, legt sich aber nicht darauf fest. War ihr Hit „Howling“ noch das Produkt der jeweiligen Fähigkeiten zweier Musiker, entspringen die anderen Stücke auf Sacred Ground den kollektiven Gaben einer Band. Es gibt keine separaten Klänge mehr, die den jeweiligen Personen zuzuordnen sind, sie sind verschmolzen, zeichnen wie das instrumentale „Quartz“ oder das Abschlussstück „Lullaby“ das Bild einer verschränkten Identität. Frank Wiedemann und Ry präsentieren „The Howling“ nicht mehr, wie die notdürftige Urhebernennung ihrer zweiten EP „Shortline“ lautete, sie sind Howling.

Das Duo hat einen menschenbezogenen, manchmal sogar spirituellen Blick auf das, was es tut. Sie betonen, wie sie beim Musikmachen einander vertrauen, wie wichtig ihnen zwischenmenschliche Beziehungen sind. Dieses Bewusstsein schimmert in Form einer konstanten Wärme auch in ihrer Musik – und strahlt aus. Der Blick wendet sich nachdenklich nach innen und auf sich selbst in dieser Welt. Das spiegelt sich auch im Thema des Albums und seinem Titel wider. Während der Titel für Wiedemann, der im Interview als sachlicherer, pragmatischerer Teil des Duos herüberkommt, einfach gut zur Musik passe, die sie zusammen gemacht haben, beinhalte er für Cuming, den emotionaler wirkenden der beiden, eine esoterische Sicht der Dinge: „Die Erde ist für mich sehr heilig. In diesem menschlichen Körper zu sein ist eine sehr heilige Erfahrung für mich. Die Möglichkeit zu haben, in dieser Welt, auf dieser Erde zu leben. Die Erde, auf der wir gehen, überall“, sagt er. „Wenn wir sie als heiligen Ort behandeln, wenn wir so handeln, als würden wir denken, dass unsere Körper und die Menschen um uns herum heilig sind – das ist eine ziemlich coole Erfahrung, eine ziemlich coole Art, die Welt zu sehen.“

Auch wenn die Worte von Cuming kommen und Wiedemann sie so vielleicht nicht wählen würde, teilen sie die wertschätzende Haltung zueinander und zu den Menschen um sie herum.

 

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Auf der Suche nach den eigenen Wegen

Dabei ist Howling eher zufällig entstanden. Cuming und Wiedemann lernten sich 2011 über eine gemeinsame Freundin kennen und aus einem Gespräch über Musik und gemeinsamer Faszination für Musik von Fela Kuti, Steve Reich, Ravi Shankar oder Philip Glass wurde ein andauernder Austausch. Dass beide selbst Musik machen, war erst einmal kein Thema. Irgendwann schickte Cuming Wiedemann eine Demoaufnahme von einem seiner Stücke – „Howling“. Wiedemann bearbeitete es, legte einen Beat unter Cumings Gitarre und Gesang, fügte dezente elektronische Instrumente hinzu und spielte den Track einige Tage später in seinem Live-Set. Bald darauf, im Sommer 2012, erschien die EP auf Innervisions. Nach der ersten Single nahmen sie sich Zeit, wollten das gerade ins Rollen geratene Hyperad nicht noch mehr anschubsen. Es war eine bewusste Entscheidung, die ihren Ursprung in den künstlerischen Wegen der beiden hat.

Hinter Cuming lag die Veröffentlichung seines Debütalbums auf einem Major-Label und damit verbundene schwierige Erfahrungen, die prägend für den heute Dreißigjährigen geworden sind. Seine ersten Schritte als Musiker in der Musikwirtschaft waren fremdbestimmt, wie er erzählt: „Ich habe Songs geschrieben und dann kamen die Leute aus der Industrie, haben sie mir aus der Hand genommen, damit gemacht, was sie wollten, und mir gesagt, das sei ich.“ Im Alter zwischen 18 und Anfang 20 musste er einen Weg finden damit umzugehen und zu sich selbst zu finden, während er bereits im Rampenlicht stand. Nach diesen Erlebnissen nahm er Abstand von Majors und ersetzte seinen von der Musikwirtschaft vereinnahmten Nachnamen (sein Debütalbum trug seinen bürgerlichen Namen) für seine neue Bühnenpersönlichkeit mit einem großen X.

Eine nicht ganz so persönliche, wenn auch ähnlich bestimmende Erfahrung machte Frank Wiedemann Mitte der 2000er mit Kristian Beyer als House- und Techno-Duo Âme. Ihre Single „Rej“ erschien als zweite Platte auf ihrem gerade zusammen mit Dixon gegründeten Label Innervisions, verhalf dem Label zu Bekanntheit und brachte Âme zahlreiche DJ-Gigs ein, wie der Vierzigjährige resümiert: „Alle dachten, wir würden Minimal spielen“, sagt er. „Dabei war das der erste Track, den wir bis dahin in diese Richtung gemacht hatten, und wir hatten nicht vor, plötzlich viel Minimal zu spielen. Von da an war mir klar, dass ich in keine Kategorie gesteckt werden, sondern einfach tun möchte, was ich will.“

 

 

Die spirituelle Erfahrung

Beide suchten ihre eigenen Routen abseits von Zwängen oder Abhängigkeiten und emanzipierten sich als Künstler. Cumings Song „Berlin“ wurde 2013 zum Erfolg – auch aufgrund des Einsatzes in einem Werbespot für einen bekannten Elektronikgeräte-Hersteller. Mit dem Album Liminal, für das er sich 2014 mit Steve Nalepa und Adam Freeland als The Acid zusammentat und auf dem Cumings Gitarre nur eine neben vielen anderen, vor allem elektronischen Klangquellen ist, weckte er nochmals Aufmerksamkeit in der elektronischen Szene. Durch die Freundschaft und Zusammenarbeit mit Frank Wiedemann wurde er aber auch Mitglied der Berliner Innervisions-Familie.

Cuming und Wiedemann sind glücklich mit ihren Situationen, fühlen sich beschenkt. Aber Cuming unterstreicht auch, dass es das Ergebnis von Entscheidungen ist, die sie getroffen haben, von Entscheidungen gegen die Zusammenarbeit mit Majors, für den eigenen, im ersten Moment schwierigeren Weg. Gerade erleben sie, dass diese Schritte die besseren waren, was sie auch auf Howling übertragen möchten. Sie hätten bewusst darauf verzichtet, nach „Howling“ neues Futter vor die Hype-Maschine zu werfen. „Wir wollten alles etwas verlangsamen, damit wir Zeit bekommen, um Musik zu machen. Wir wollten den Hype nicht. Am Ende geht es nicht darum, Michael Jackson oder Prince zu sein – das ist ein schweres Leben. Frank und mir geht es mehr um unsere menschliche und aus meiner Sicht spirituelle Erfahrung als darum, Rockstars zu sein“, stellt Cuming klar. In den Erklärungen des Duos lässt sich immer wieder eine Abneigung gegen große musikwirtschaftliche Strukturen heraushören. In Kategorien wie Mainstream wollen die beiden aber genauso wenig denken, wie sie sich als Teil eines musikalischen Undergrounds stilisieren möchten. „Ich kann das Wort Underground nicht mehr hören“, unterstreicht Wiedemann mit Nachdruck. „Es ist immer das Gleiche: Jemand entdeckt eine Band, die supercool ist und niemand kennt. Und dann mögen sie 5000 Menschen und die Reaktion ist: ‚Oh! Sie haben mir mein Baby weggenommen, es gehört nicht mehr mir allein!‘ Vorher beschweren sie sich, dass niemand die Band bucht, und sobald sie gebucht werden, beschweren sie sich, dass sie nicht mehr die Einzigen sind, die sie kennen.“

 

Chicago & Bob Dylan

Auch wenn ihre gemeinsame Musik keinen Rave-Stempel trägt, liegt der Ausgangspunkt von Howling bei elektronischer Tanzmusik. Ihre ersten Live-Sets spielten sie in Clubs und auf Festivals, deren Schwerpunkt auf elektronischer Musik liegt. Das heißt aber nicht, dass sie sich auf Dance Music fokussieren. Wiedemann bringe Cuming in ihren Gesprächen Chicago House näher, Cuming zeige Wiedemann hingegen eine neue Perspektive auf Bob Dylan – beide Herangehensweisen finden sich bei den Produktionen von Howling. In ihrer Musik erkennt Cuming eine Balance zwischen Clubmusik als Basis und Songstrukturen als Überbau. „Die elektronischen Elemente führen dabei durch den Song“, findet er. Obwohl ihre Wohnorte weit auseinanderliegen – Cuming lebt in der Nähe von Los Angeles, Wiedemann in Berlin – haben sie die Musik für Sacred Ground zusammen eingespielt und produziert, wann und wo sie die Zeit dazu gefunden haben. Bewusst entschieden sie sich dagegen, dass Wiedemann einfach nur Songs von Cuming remixt. „Das hätte bedeutet, dass ich die Songs zur Housemusik gebracht hätte“, bemerkt Wiedemann. „Aber ich denke, dass wir es eigentlich genau andersherum machen, dass wir House- und Techno-Elemente in einen klassischen Song bringen.“ Ihre Einflüsse und Arbeitsweisen stehen so nicht getrennt nebeneinander, sondern verschmelzen zu einer einzigen Herangehensweise, womit sie einen dritten Weg gefunden haben: den von Howling.

 

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