Fotos: Matze Hielscher
Wer sich nach einer durchtanzten Nacht im Berliner Winter, so zwischen Katerkaffee und Duschvorhang, mal heimlich gefragt hat, wie es wohl sein müsste zu elektronischen Klängen den Polarkreis zu zertanzen, konnte an den vergangenen beiden Wochenenden beim erstmals stattfindenden Festival Lapp Dance, das von der Agentur Nordic by Nature auf die Beine gestellt wurde, eine angemessene Antwort für sein Gesuch finden. An einem Ort, an dem Wimpern einfrieren und der gefühlt auf keiner Landkarte mehr verzeichnet sein dürfte, einem Ort, der vier Stunden Tageslicht bietet und an dem Handschuhevergessen an Selbstverstümmelung grenzt, genau dorthin sind am ersten Wochenende die todesmutigen Ada, Local Suicide, Reznik, Kid Simius, Johann Fanger und Jens Balzer gereist, um den Lappen zu zeigen, wo der Weihnachtsmann seinen Sack hat.
Das Ende der Welt liegt mit zwei Stunden und 40 Minuten Flugzeit von Hannover aus näher als befürchtet, trägt den Namen Levi, liegt am nördlichsten Zipfel Finnlands (ungefähr auf der Breitengradhöhe Sibiriens), und erschlägt uns gleich zu Anfang mit einer lauschigen Temperatur von minus 25 Grad. Ein Flughafen, der nicht viel größer ist als eine kleinstädtische Bowlingbahn, nimmt uns in Empfang, und ein Bus, der wahrscheinlich noch Finnland unter russischer Besatzung erlebt hat, fährt uns zum Hotel Hullu Poro, finnisch für „Verrücktes Rentier“, das benachbart die Clubräumlichkeiten für das Festival bietet. Von Beginn an entsteht somit der Eindruck einer gewagten Polarexpedition.
Nach einer kurzen Beschnupperung der Bilderbuch-Schneelandschaft – nicht vom Pfad abkommen sollte, wer nicht hüfttief versinken möchte – eröffnet Jens Balzer das kollektive Warmtanzen vor einer zunächst skeptischen Menge. Sein düster-experimentelles Set entfaltet sich zwischen Arca- und Milanese-Stücken und versteht ganz wunderbar die Fremdartigkeit der ganzen Situation einzufangen. Kid Simius bringt schließlich den Eisblock zum schmelzen. Der Mann mit der Melodica aus Granada heizte mit seinem Mixer den Raum ein, als würden hunderttausend Leute vor ihm stehen, zerschießt tropische Beats mit Spacebeams und einem Bass, der Schneedecken zum Einstürzen bringen könnte. Und man merkt, wie selbst die reservierten Finnen allmählich mit den Gliedern zucken. Eine Stimmung, an die Local Suicide mit ihrem Spiel aus Cosmic Acid und Technodisco anschließen, und so einen ersten, surrealen Tag erfolgreich zum Abschluss bringen.
Gespielt wird natürlich am Abend, tagsüber frönt man den ortstypischen Transportmöglichkeiten (Huskyschlitten- oder Schneemobilfahrt, beides mit Nachdruck zu empfehlen), der ortstypischen Küche (Rentier, Rentier, Fisch, und Rentier.), heizt sich ortstypisch ein mit Unmengen an Alkohol und finnischer Sauna, oder lässt sich überwältigen von der ortstypischen Naturschönheit (Polarlichter gesehen, geheult vor Glück).
Derart lappisch eingestimmt, folgt der zweite Abend. Johann Fanger tupft verspielten House farbenfroh in die weiße Landschaft, der anknüpfende Reznik hingegen steht Pate für einen klassischen, vorwärtsgewandten Berliner Techno-Sound. Nein, das hat man hier so noch nie gehört, dies kann man den fragenden Gesichtern ganz gut entnehmen, doch umso mehr freut man sich am erfolgreichen innereuropäischen Kulturclash. Als Letzte im Bunde übernimmt Ada die Fackel mit Bravour und bietet mit tiefliegendem R’n’B und einem Jackson 5-Gassenhauer ein krönendes Finale. Just als es vorbei war, ist man endlich angekommen.
Doch ob großartiger Sets gibt sich die finnische Menge wie ein zähes Rentiersteak, einzig die Touristen scheinen schon mal einen Club von innen gesehen zu haben. Als Fazit bleibt somit, dass das Konzept funktioniert, allein die Lappen noch ein wenig vorsichtig sind. Wenig verwunderlich, schließlich speist sich die dortige elektronische Musik aus Eurotrash, EDM-Stumpfsinn oder Charthits anno 1998, außerdem liebt der Finne seinen Metal. Nichtsdestotrotz hofft man sehr, dass das erste nicht das letzte Mal war, und hat bereits mit dem Kalenderblattabreißen zum nächten Lapp Dance begonnen.
Interview: Local Suicide
Polarlichter oder Diskolichter?
Alles zu seiner Zeit! Die Polarlichter waren auf jeden Fall eine eindrucksvolle Erfahrung, auch wenn man bei minus 25 Grad durch einen Schneesturm auf einen zugefrorenen See laufen und stundenlang warten musste.
Crazy Reindeer oder Wilde Renate?
Beides nice! Wann hat man schon eine Sauna in seinem Hotelzimmer. Aber die Wilde Renate wollen wir natürlich auch nicht missen!
Was war das Außergewöhnlichste daran in Lappland zu spielen? Und welche Erfahrung nehmt ihr zurück mit nach Deutschland?
Nach der aggressiven Kälte kann einen der Berliner Winter auf jeden Fall nicht mehr schocken! Außergewöhnlich für uns Großstädter war die Stille, beeindruckend waren aber auf jeden Fall auch die zahlreichen Schlitten-, Snowmobil- und Rentier-Schlittenfahrten durch die verschneiten Landschaften, aber auch die Preise.
Erklärt den Unwissenden bitte, wie eigentlich Rentier schmeckt.
Ein wenig wie Hirsch, wobei uns für die Aussage vermutlich jeder Lappen mit der (Rentier-)Keule eine zimmern würde. Bewundernswert ist es wie sie es schaffen in jedes Gericht, in jeder Soße und zu jeder Tageszeit Rentier ins Essen zu mogeln!
Wie viel können die Finnen tatsächlich mit Berliner Clubkultur anfangen?
Schwer zu sagen, da vermutlich ein Großteil der Besucher Levis Touristen sind. Dass es eine kleine Szene für elektronische Musik in Helsinki gibt, haben wir aber schon öfter gehört.
Habt ihr euer Set vorher an die Finnen angepasst?
Machen wir vorab eigentlich nie, durch die Flexibilität die DJing mit einem digitalem Setup bietet sind wir immer auf jede Situation gut vorbereitet.
Was ist der Track, der Lappland am besten zusammenfasst?
Vanilla Ice – Ice Ice Baby und Galaxie 500 – Listen, The Snow is Falling
Würdet ihr es noch mal machen?
Auf jeden Fall! Levi ist bestimmt auch im Sommer wunderschön.