Ist es eine bewusste Überschreitung von Geschmacksgrenzen oder einfach Gedächtnisschwund? Jedenfalls ist die positive Neubewertung von Enya, keltischer Esoterik und Sandalenfilmsoundtracks im aktuellen Elektronikgeschehen schwer zu überhören. Das Timing für das Comeback von Dead Can Dance scheint so wohl gewählt. Als seien keine dreißig Jahre vergangen verschmilzt Anastasis (PIAS) gleißenden Ambientrock in archaischem Instrumentarium mit Streicher-Bombast und exaltierten Gesang zu einem hochglanzpolierten Klangmonolithen. Der heilige Ernst und die produktionstechnische Perfektion, mit dem Dead Can Dance diese Fusion betreiben, bleibt unerreicht. Ganz so humorfrei geht es unter New Yorker Nachwuchshipstern nicht zu. Bislang eher als Disco-Editoren aufgefallen, haben die Brooklyner Jahiliyya Fields im Unicursal Hexagram und Professor Genius auf Hassan (beide: L.I.E.S.) ganz unironisch kosmische Synthesizervisionen, als wären die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nie zu Ende gegangen. Arabeske Klassik, der Krautambient von Cluster/Eno und afrofuturistischer Electro à la Drexciya spielen unbekümmert mit Hexendreiecken und experimenteller Esoterik.
Stream: Jahiliyya Fields – White Cabbage
Eine ganz andere Art der Überschreitung kultiviert Luca Di Mira alias Pillow, Keyboarder der italienischen Postrocker Giardini Di Mirò, auf seinem zweiten Album From Dusk To Dawn (City Centre Offices). Auf seiner Traumreise durch die flauschigen Kissenlandschaften einer bedingungslos freundlichen Nacht schwelgt Di Mira hemmungslos in einem formvollendeten Schmelz von Streichern, Piano und akustischer Gitarre, klingt sacht melancholisch bis schmerzhaft schön. Faszinierend, wie souverän er den schmalen Grat zwischen übersteigerter Emotionalität und pathosbeladenem Wohlfühlkitsch meistert. Eine sehr europäische neoromantische Phantasie, in die sich offenbar auch ein Laptopkomponist wie Logreybeam aus Los Angeles hineinträumen kann. Perhaps (Muri) versammelt zehn delikate Etüden, die klingen wie von einem frankophilen Klezmer-Trio im Heizungskeller der Disney Concert Hall eingespielt. Max Richter, Superstar der Neoklassik, kann dieses Sentiment noch toppen. Für die Recomposed-Serie der Deutschen Grammophon (Universal) hat er Antonio Vivaldis Vier Jahreszeiten gekonnt ins melodramatische Extrem gesteigert.
Das Motherboard im Schatten reifer Männerblüte: So manch hehrer Recke hat sich auf seine alten Tage nochmal zusammengerauft und die beste Arbeit seit langem vorgelegt. Wie Cut-Up-Virtuose Kid606 auf seinem ungefähr zwölften Album Lost In The Game (Tigerbeat6): Miguel de Pedro sampelt sich durch die samtenen Dekaden von Trip Hop und Easy Listening. Seine berufsjuvenile „Fuck You“-Attitüde beschränkt sich auf die Songtitel. Ein erstaunliches, zartes Album vom Meister der testosteronsatten Terrorcollage.
Stream: Kid606 – Lost in the Game (Full Album Promo Mix)
Oder die Pan_Sonic-Hälfte Mika Vainio: Sein jüngstes Solowerk Fe3O4 – Magnetite (Touch) öffnet den von ihm oft gehörten, hermetischen Raum aus schroffen Bässen und avanciertem Ohrenbluten mit ungewohnt naturnahen Klängen. Kleine Fluchten aus einer selbstgewählten Sackgasse. Der Brite David Edwards alias Minotaur Shock hat auf seinem vierten Album Orchard (Melodic) ebenfalls eine befreiende Seitwärtsbewegung vollführt. Sein früh perfektioniertes Idiom aus frickeligem Digital-Postrock auf einem fragilen Clicksgerüst wird von „echten“ akustischen Instrumenten unterlaufen, bis der Gegensatz von Natur und Synthetik einfach keinen Sinn mehr macht.
Stream: Minotaur Shock – Orchard (Album Trailer)
Vladislav Delay hat auf der „Espoo EP“ (Raster-Noton) den Groove wiederentdeckt – zu seinen Bedingungen: hakelig, dubbig verspult, darin aber roh und direkt wie lange nicht. Auch die „Waldgeschichten 3“ (Pole Music) von Pole sind seine spannendsten. Wie immer oberflächenoptimiert und tiefenentspannt in Dub, findet der Abschluss der Trilogie genau die Partikel an Leichtsinn und Verschwendung, die mir in Poles Musik sonst fehlen.
Stream: Rdio-Playlist – Motherboard (September/Oktober 2012)