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Auf dem Le Bon Air Festival mit Jack de Marseille: Die Kulturtechnik des Lächelns

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Das Le Bon Air in Marseille gilt als eines der besten Festivals für elektronische Musik im südlichen Frankreich. Unser Autor Christoph Braun besuchte nicht nur die Partys dort, sondern ließ sich auch von French-House-Ikone Jack de Marseille durch die Stadt führen – unter anderem, um zu erfahren, wo in der Region der Herzschlag der elektronischen Musik zum ersten Mal spürbar war.

Jack de Marseille am Cours Julien (Foto: Christoph Braun)

Durch Marseille zu laufen mit dem DJ, Produzenten, Ex-Club- und Ex-Plattenladen-Betreiber Jack de Marseille ist fast wie das Stopp-Spiel, das man auf Kindergeburtstagen erlebt: Alle tanzen, die Musik hört auf, und wer zuletzt tanzt, scheidet aus. In den Straßen des alten Stadtviertels Canebière zeigt uns Jack die historischen Flecken, von denen aus die ersten Techno-Klänge in die Calanques hinaushallten, die Hügel rund um die Marseiller Meeresbucht.

Die Katze von La Canebière (Foto: Christoph Braun)

Alle paar Minuten wieder Küsschen links, Küsschen rechts, wenn Jacques Garotta einen alten Kumpel oder eine Kumpeline trifft. Wer zu spät anhält, muss wieder sekundenlang durch die sengende Sonne des Frühlings strafwandern. Ça va? Bei mir läuft’s, kann Jacques da nur erwidern.

Die Embleme großer, traditionsreicher Imperien sind dort an den Decken zu sehen: der Schriftzug von Underground Resistance, der Doppeladler von Kompakt, ja, auch das „Entflammbar”-Logo von Massive Attack.

Mit Jack In The Box organisiert er sein eigenes Festival in Marseille und lässt sich rund um die Welt buchen. Dennoch nimmt er sich am Tag seines Eröffnungssets auf einem anderen Festival in der Stadt, dem Le Bon Air, mehr als vier Stunden Zeit, den Allemands vom GROOVE Magazin seine Heimatstadt zu zeigen.

Das Musée des Beaux-Arts (Foto: Christoph Braun)

Er lebt gerne hier, das ist dem 1965 geborenen Sohn zweier Eltern anzumerken. Eltern, die gemeinsam eine Töpferei in der Stadt betrieben. Immer wieder bleibt er stehen, um noch letzte Nuancen hinzuzufügen. Wie schön das historische, monumental-repräsentative Rathaus ist, wo er mit vorgehaltener Waffe ausgeraubt wurde und dadurch seinen DJ nicht bezahlen konnte. In der Gegend residiert jetzt Montblanc neben Louis Vuitton. Es ist ja auch eine alte Stadt.

Le tunnel des mille signes von Frédéric Clavère von 2013 (Foto: Documents d’artistes Marseille)

Der Tunnel etwa, der zum Festivalgelände Friche la Belle de Mai führt, taucht tief ein in die Vergangenheit – der elektronischen Musik. Die Embleme großer, traditionsreicher Imperien sind dort an den Decken zu sehen: der Schriftzug von Underground Resistance, der Doppeladler von Kompakt, ja auch das „Entflammbar”-Logo von Massive Attack. Die Logos gehören zu einer Arbeit, die 2013 entstand, als Marseille die europäische Kulturhauptstadt war. Sie ist so beliebt, dass mittlerweile schon Dutzende Teile von den Decken und Wänden gestohlen worden sind.

Tanzen im Tabak

Auch das Festivalgelände selbst erzählt Geschichte. Wo heute das Underground-Radio La Grenouille produziert und sendet, eine Kita den Kleinen ein Zuhause für den Tag spendet und zeitgenössische Kunst gezeigt wird, schufteten früher die Arbeiter:innen, um Tabak einzutüten. Es ist eine Mikro-Stadt, und die scheint zu funktionieren.

Friche la Belle de Mai, der Austragungsort des Le Bon Air (Foto: Annaëlle Peyre)

Der Blick von der Friche, der einstigen Tabakfabrik, auf die Stadt alleine ist einen Besuch wert: Über die Buchten und Berge Marseilles sieht man von hier aus. Am Abend, wenn es dunkel wird, gehen daher auch unter der Industrieruine die bunten Lichter an.

Jack im Vieux Port von Marseille (Foto: Christoph Braun)

Der Blick schweift nach unten, zum Vieux Port: Dort geht die einst vom antiken Griechenland als Kolonie gegründete Stadt noch etwas weiter zurück in die Vergangenheit. In den Höhlen von Cosquer malten Menschen im Jahr 33.000 vor Christus blaue Pferdeköpfe, was das Erbe der Antike in ein ganz anderes Licht setzt. Die von Amateur-Taucher:innen erst Ende des 20. Jahrhunderts entdeckten Grotten haben Aufschlüsse über die Geschichte der Rituale des Homo sapiens gegeben, weil sie mehr als 10.000 Jahre älter sind als die bekannteren Höhlen von Lascaux in der Dordogne.

Von dort fahren wir sonntags im kleinen Motorboot mit u.a. Sherelle und Vanda Forte an Bord zu den vorgelagerten Friaulischen Inseln, zu denen auch Monte Christo zählt, das aus Alexandre Dumas’ Roman “Der Graf von Monte Christo” berühmte Eiland. Die beiden DJs sind noch etwas übernächtigt von ihren Sets auf dem Le Bon Air.

Sherelle und Vanda Forte (Foto: Christoph Braun)

Veranstaltet wird es von der Agentur Bi:Pole, die seit 2010 Touren und DJ-Gigs bucht und etwa die auf dem Festival spielenden Vanda Forte und Sherelle in Frankreich unter Booking-Vertrag hat. Von Freitag bis Sonntag spielen DJs und Live-Acts: Techno, House und Breakbeats. Dabei unterscheidet das Festival zwischen dem Tagesprogramm von 17 Uhr bis 22:30 Uhr, in dessen Zuge es auf dem großformatigen Dach des Festivalzentrums Sets und Performances gibt, sowie dem Nachtprogramm. Das findet in drei unterschiedlichen Räumen statt und bringt je 200 bis 400 Leute zum Tanzen.

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Festivalstimmung auf dem Le Bon Air (Foto: Isis Mecheraf)

Es gibt eine erfreuliche Lässigkeit, das Coolsein ist hier anders organisiert und beinhaltet etwa die Kulturtechnik des Lächelns. Das gibt dem Ausgehen mehr Leichtigkeit, selbst angesichts des Ansinnens von I Hate Models, der via Privatjet hatte kommen wollen

Nina Kraviz auf dem Le Bon Air (Foto: Annaëlle Peyre)

Verständlicherweise passte das nicht zu den Öko-Ideen des Festivalteams. Es gab ja mit Nina Kraviz oder Floating Points genug an Headlinern, und die Privatjets können gerne die Flugplätze ein Stück die Riviera runter Richtung Italien anfliegen, etwa Cannes oder Monaco oder St. Tropez, wo die Superyachten treiben.

Zurück zu Jack

Die Lässigkeit versprüht auch Jack de Marseille. Wir trafen ihn zunächst um Mittagessen im jungen Stadtteil um den Cours Julien: ein stiller Zuhörer, der bereits beim ersten Halt einen Vierer-Tisch voller Techno-Bekannter begrüßen muss. Auf der Anhöhe des studentischen Quartiers zeigt er uns die Mittelmeerküste Richtung Spanien. In Agde, gelegen zwischen Montpellier und Narbonne, hat er seine ersten DJ-Sets gespielt: Synth-Pop, EBM und House.

Jack zeigt den GROOVE-Leser:innen, wo in Marseille Gewürze in großen Mengen zu erstehen sind (Foto: Christoph Braun)

Heute gibt es hier Karten zu kaufen für die Mozartoper Figaros Hochzeit. In einer Seitenstraße des Viertels setzt sich Jacques vor ein Ladenlokal und erzählt von Wax Records, dem Plattenladen, den er von 1995 bis 2003 betrieb, mit Wordandsound und Hard Wax als deutschen Vertriebspartnern. In dieser Zeit brummte es, denn als Daft Punk 1997 auf ihre erste Welttournee gingen, war Jack de Marseille ihr DJ. Die damalige Frau von Thomas Bangalter stamme aus Marseille, und Jack ist seither mit ihm und Guy-Manuel de Homem-Christo befreundet. Ab Mitte der Zweitausender wurde alles wieder etwas ruhiger.

Ein Gast des Le Bon Air (Foto: Annaëlle Peyre)

Es folgen ein paar Jahre der Suche: Jacques Garotta probiert sich als Tierarzt, gibt Tennisstunden und geht zum Militär, wo ihn die Morse-Codes interessieren. Im Laufe der Neunziger kehrt er zurück in seine Heimatstadt. Sein Leben als Jack de Marseille beginnt, manchmal nennt er sich auch Jacqou Le Croquant oder DJ Jack. Alles spielt sich am Vieux Port ab, unten am Wasser. Die Börse ist hier, und gegenüber der Oper befand sich der erste Club für elektronische Musik Marseilles, der Tunnel.

Jacks spielt sein Set auf dem Le Bon Air (Foto: Christoph Braun)

Außerdem gebe es noch zwei Clubs für etwa 200 Leute und vor allem eine Menge illegaler Raves. Das erzählt er alles mit der Gelassenheit des Angenehm-Ältergewordenen, bevor er uns lebhaft in den Bois de Longchamp mitnimmt: Elternhaus und deren ehemalige Keramikwerkstatt. Kaffee im gut frequentierten Bioladen. Sichtlich erfreut ist Jack, seine Stadt herzeigen zu dürfen.

Alt & jung, Sherelle und Laurent Garnier

Es ist 17 Uhr. Vier Stunden Zeit hat Jack de Marseille sich am Ende genommen. In aller Seelenruhe geht er jetzt erst mal eine Freundin besuchen, private Probleme, er möchte ihr beistehen. Es sind ja immerhin noch zwei Stunden bis zum Beginn seiner Show.

Helena Hauff b2b Ben UFO (Foto: Isis Mecheraf)
Helena Hauff b2b Ben UFO (Foto: Isis Mecheraf)

Er spielt schließlich ein Set aus Funky House und Acid House auf dem Dach der Friche La Belle De Mai, gefolgt von Irène Drésel mit einer etwas überkandidelten, balletartigen DJ-Show plus E-Drummer. Helena Hauff wird an diesem Abend ein Set spielen, am zweiten Abend ein b2b mit Ben UFO. Das ist die Artist-In-Residence-Idee: Künstler:innen in verschiedenen Umgebungen zu zeigen.

Drei Schönheiten auf dem Le Bon Air (Foto: Annaëlle Peyre)

So wird Sherelle am zweiten Abend ansatzlos zwischen Techno-Bassdrums, Breakbeat und Footwork wechseln, und das in einem chromüberzogenen Sounddesign, das ihrem Set etwas sehr Zeitgenössisches gibt. Auch Vanda Forte, eine in Marokko geborene und in Marseille lebende DJ und Produzentin, gehört zu den drei Artists in Residence. Wir verpassen leider ihren samstäglichen Auftritt, weil sie zeitgleich mit Sherelle spielt. Auf ihrem SoundCloud-Konto ist allerdings reichlich zu hören: da kommt was!

Laurent Garnier auf dem Le Bon Air (Foto: Annaëlle Peyre)

Beendet wird das Festival am Sonntagabend vom anderen, noch größeren Namen in Frankreich: Laurent Garnier. Bei der Verabschiedung richtet Jacques Grüße aus an alte Weggefährten, besonders an Dimitri Hegemann vom Tresor. Gerne, und gerne bis nächstes Jahr.

Transparenzhinweis: Der Artikel ist mit freundlicher Unterstützung von Marseille Tourisme entstanden. Auf deren Seite könnt ihr euch über Reisen in Stadt und Region informieren.

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