Darwin – Nov 3 / 2022 (HÖR)
Verschrobene Hi-Hats, ein sägender Bass und rhythmisch gebrochene Drums mit einer ganz anderen Struktur, als wir sie vom Techno-Mainfloor kennen, finden zusammen. Ab und an ertönen Grime-Vocals und verweisen uns langsam, aber sicher auf den UK-Dubstep-Sound, der durch Veranstaltungen wie die Reef im Berghain auf Berlin-Kompatibilität getestet wird. Das Spannungsfeld zwischen Entgrenzung auf Aufladung trägt auch dieses Set von Darwin, es macht erlebbar, welchen Tiefgang langsame elektronische Musik fernab von hektischer Masseneuphorie haben kann. Dubstep als Alternative zum immer hektischer werdenden Industrial-Techno-Schranz-Rave.
Herausstechende Stücke dieses Sets sind dabei zunächst der Opening Track „Rudeboy” mit Grime-Vocals des Schweizer Produzenten Estebahn. Auch V.I.V.E.Ks „Out Of Reach” von 2012 und Pariahs „Squishy Windows” gliedern sich lückenlos in dieses spezifische Sounddesign ein. Einen wundervollen Abschluss findet das Set mit der Hymne „The High” der US-amerikanischen Sängerin und Songwriterin Kelela. Vincent Frisch
French II – Dekmantel 411 (Dekmantel)
Der Dekmantel-Mix von French II aus dem niederländischen Tilburg fesselt mit einem konturierten Sound, der sich von der hermetischen Digital-Ästhetik vieler aktueller Breakbeat-Produktionen absetzt. Ineinander verschränkte Effekte wie Hall, Rauschen und Verzerrung rufen nicht bloß gängige Spielfilm-Referenzen auf, sie vermitteln das Lebensgefühl einer Musikerbiografie, die sich im Namen des breakbeat continuum zwischen Warehouses, Kellerclubs und Bedroomstudios abspielt. Die kann French II vorweisen: Mit 14 besuchte Frank Klick, wie der Producer eigentlich heißt, die ersten Hardcore-Partys. Wenig später half er bei Veranstaltungen, buchte DJs und produzierte mit der banganagangbangers-Crew. 2019 erschien sein Solo-Debüt bei Intercept, eine fokussierte, brainige Rhythmus-Studie, zugleich laidback und humorvoll.
Gerade dieses Understatement sorgt auch in seinem Mix dafür, die Aufmerksamkeit zu fesseln: Alles, was auf gegenwärtigen Dancefloors nervt, angeberische Eskalation und geschenkte Pop-Nostalgie, dient hier dazu, die Breaks komplexer und fordernder zu machen. Alexis Waltz
Mary Yuzovskaya – Podcast 772 (XLR8R)
In Berlin geht die Sonne derzeit um 16:13 Uhr unter. Die Jahreszeit für Seifenblasen, Humor und Doppelbödigkeiten in der Musik ist endlich rum, in der Dunkelheit regiert der sonische Ernst. Eine seiner versiertesten Vertreterinnen ist Mary Yuzovskaya, die in ihrer Heimatstadt Moskau noch zur Minimal-Phase anfing aufzulegen und sich seit Jahren als Instanz in Sachen urwüchsig-mittelgeschwindigem Techno mit Hang zum Hypnotischen profiliert.
Als Hörbeispiel dafür funktioniert die 772. Podcast-Ausgabe fürs amerikanische Magazin XLR8R prima: In der Tracklist tauchen bekannte Namen wie der skandinavische Chefgrufti Anthony Linell, D-Leria, Svreca, Orbe oder Blawan auf. Ob Schweden, Spanien oder England, sämtliche Techno-Stämme und ihre Eigenheiten fügen sich zu einer sinnstiftenden Stunde Tieftauchgang zusammen. Aufgenommen hat Yuzovskaya das Set übrigens nur mit Vinyl – in einem Durchgang. Geschönt wurde nachträglich nichts, wäre aber auch unnötig gewesen; diese knapp 66 Minuten fesseln als Gesamtpaket und machen trotzdem immer wieder Laune auf den nächsten Track. Nicht paradox, nur gut. Maximilian Fritz
SlothBoogie – 127 (SlothBoogie)
SlothBoogie ist ein Londoner DJ-Kollektiv. Man produziert eine Radioshow, führt ein Plattenlabel und veranstaltet regelmäßige Partyreihen in den Tiefen des schummrigen Nachtlebens der britischen Hauptstadt. Nebenher gibt SlothBoogie jungen Underground-DJs ihre Plattform. Damit hatte man bisher stets den richtigen Riecher, wenn es darum ging, Unentdecktes zu entdecken. In der neuen Ausgabe des Radio-Mixes klimpern Jazz-Melodien, rhythmisiert durch Retro-Beats und House-Groove. Eine Prise Dopamin und eine Handvoll Sommer-Nostalgie lassen die Fahrt Richtung Glück beginnen.
Conor Bevan ist es, der diese hinter den SlothBoogie-Decks anführt. Er ist einer von vier DJs des Londoner Kollektivs. Außer seiner hörbaren Vorliebe für Post-Disco-Sounds lässt sich wenig über ihn in Erfahrung bringen – mehr braucht dieser Mix aber nicht. Denn wer nochmal in Richtung warmer Sommer-Sounds abbiegen will, sollte die 55-minütige Fahrt antreten, bevor endgültig der Winter einbricht. Wencke Riede
Kia invited by Agonis – 04 November 2022 (EOS Radio)
Streng genommen handelt es sich um zwei Mixe. Agonis hat für die Novemberausgabe seiner Residency beim Frankfurter EOS-Radio die australische DJ Kia als Gast eingeladen. So teilt sich der zweistündige Mix in zwei Hälften. Agonis, der den ersten Part übernimmt, ist ein Meister in der Inszenierung technoider Drone-, Downtempo- und Ambient-Trips. Krachen, Klappern, Blubbern, Rauschen, Echo, Hall – in diesem Soundtunnel wähnt man sich klanglich in einer 2022-Version von Stanley Kubricks Schlusssequenz aus 2001: Odyssee im Weltraum. Beat ist rar. Gibt er sich allerdings wie bei Mura Okas „Log in Oct 13” zu erkennen, fühlt es sich an, als hätte gerade ein Herz zu schlagen begonnen.
Kias Part ist – im Kontrast zu Agonis’ eher geistiger Inwendigkeit – Stimulanz körperlicher Ausdruckssehnsucht. Das sich vermeintlich widersprechende Konzept geht allerdings erstaunlich gut auf, denn Kia setzt Agonis’ Tonalität und Finesse, nunmehr allerdings tanzbar, sehr konzis fort. Keine Effekthascherei, auch hier ist das Wenige viel, nicht allerdings im Stil eines Minimal, sondern im Sinne einer krassen, eine Art Anmut erzeugenden Zerbrechlichkeit. Nathanael Stute