Alva Noto & Ryūichi Sakamoto – Vrioon (Noton) (Reissue)

Alva Noto & Ryūichi Sakamoto – Vrioon (Noton) (Reissue)

Lernen sich zwei Nerds kennen, fragt der eine den anderen nach einem Remix und findet das Ergebnis schließlich so gut, dass sich daraus eine nachhaltige Kollaboration entwickelt: So unscheinbar liest sich der Ursprungsmythos des aus Noton-Mitbegründer Carsten Nicolai alias Alva Noto und Allround-Komponist, -Musiker und -Produzent Ryūichi Sakamoto bestehenden Duos, das seitdem eine überhaupt nicht unscheinbare Diskografie geschaffen hat.

Vrioon war ihre erste umfassende gemeinsame Arbeit und aber noch lange nicht das Projekt eines gemeinsamen Prozesses, wie er spätere ihrer Werke prägen sollte. Sakamoto schickte Nicolai ein paar musikalische Skizzen, die dieser dann in seine ganz eigene Klangsprache einfriedete. Das im Jahr 2002 erstveröffentlichte Album lebte dementsprechend von seinen Kontrasten zwischen Sakamotos schwelgerischen und impressionistischen Improvisationen und Nicolais technischer Strenge.

Dass das zwei Jahrzehnte und etliche Klavier-trifft-Elektronik-Projekte später noch immer anregend klingt, ist in erster Linie dem kongenialen Remaster von Bo Kondren, Chef des Berliner Studios Calyx, zu verdanken. Die Bässe brummen freundlich, die bisweilen die Ohrtrommel zum Schlackern bringenden hohen Frequenzen klingen glasklar und nicht zu aggressiv. Das neue Soundgewand unterstreicht die Komplexität der oberflächlich betrachtet so reduktionistischen Kompositionen, verleiht ihrer maßvollen Entfaltung eine eindringliche Tiefe. Der später entstandene Bonustrack „Landscape Skizze” rundet das alles mit elektroakustischen Tönen ab. Kristoffer Cornils

Arpanet – Quantum Transposition (Clone Aqualung Series)

Arpanet – Quantum Transposition (Clone Aqualung Series)

Ob Gerald Carroll Donald auch nur ein einziges Mal in Raguhn-Jeßnitz, im Osten Sachsen-Anhalts war, ist eher fraglich. Auf der MySpace-Seite seines Projekts Arpanet wird das Kaff zwar seit Jahren als Wohnort angegeben, doch das Detroiter Urgestein hatte schon immer einen soft spot für konstruierte Identitäten mit abstruser Namensgebung, die in mal, mehr mal weniger fragmentierte Hintergrundgeschichten eingebettet sind.

Das formte viele seiner frühen Arbeiten ebenso wie seine Begeisterung für Kraftwerk und Kraftwerke, aber auch für andere Pionier*innen elektronischer Musik und frühe Informationstechnologien. Eine davon, die es Donald neben dem Large Hadron Collider besonders angetan hat: Arpanet, Prototyp des Internets, nein, damals nicht für die heitere Kommunikation während thermonuklearer Scharmützel erfunden. Unter dem Namen macht der absurd produktive Tausendsassa ab 2002 merkwürdig abstrakten Detroit Electro, der sich oft geradezu skizzenartig in super dynamische Produktionswerte einfügt – und Quantum Transposition aus dem Jahr 2005 ist das Album, auf dem dies mit der wahrscheinlich größten Präzision gelungen ist.

Die 16 Tracks des nun via Clone Aqualung Series erschienenen Reissues, „Superposition Many Worlds“ ist als Bonus dabei, klingen zwar mechanisch strukturiert und gehorchen an der einen oder anderen Stelle auch mal einem Vierviertler wie in „Orbital Wavelengths” oder „Uncertainty Principle”, scheinen aber auch immer wieder abzubrechen, um dann auf fehlerhafte Loops umzuschalten, gleich akustischen Experimenten, die nur sehr selten Ansätzen von geradliniger Komposition folgen. Das verleiht dem Album insgesamt einen Wiederspielwert, der bei dieser Art von ausgefranstem Sounddesign eher schwierig zu realisieren ist. So wie das Arpanet das disruptive Potenzial des Internets vorwegnahm, spiegelt Quantum Transposition gleichermaßen das genretranszendierende Potenzial im enormen Output, den Donald seit 2005 unter allen möglichen Namen vorgelegt hat. Nils Schlechtriemen

Atom™ – Neuer Mensch (Raster)

AtomTM – Neuer Mensch (Raster)

Musiker sind am Ende nichts weiter als Code. Dass Uwe Schmidt alias Atom™ sein jüngstes Album für Raster jetzt Neuer Mensch genannt hat, passt da recht gut. Gerade weil der menschliche Input darauf gegen null zu streben scheint. „Music programmed, mixed and mastered by an algorithm”, verspricht der Pressetext. Und wo Atom™ früher schon nicht dazu neigte, seinen Tracks allzu viele parallele Ereignisse zuzumuten, klingt die Angelegenheit diesmal gleich noch etwas datenreduzierter. Kalt, mechanisch, digital, wenn man so möchte, ist dies die rasterigste Platte, die Schmidt bisher abgeliefert hat.

Doch hat er zugleich seinen Witz mit Neigung zum Absurden wie Albernen eingebüßt? Streng konzeptuelles Arbeiten gehörte immer schon zu Schmidts Markenzeichen, und Neuer Mensch macht da keine Ausnahme. Angefangen beim roten Quadrat vor weißem Grund auf dem Cover, das man als Zitat des avantgardistischen Schwarzen Quadrats von Kasimir Malewitsch verstehen kann, über den angeblichen nichtmenschlichen Ursprung der Stücke bis zu Titeln wie „Nix”, „Sprechender Raum” oder „Hartcode”. Über dem geballten Posthumanismus könnte man glatt vergessen, dass dies, in Teilen zumindest, eines der körperlichsten Tanzalben von Atom™ seit einer Weile ist. Merke: Das Selbst ist auch bloß ein Algorithmus. Tim Caspar Boehme

DJ Swagger – Minor Major Grand Schemes (Goddess Music)

DJ Swagger – Minor Major Grand Schemes (Goddess Music)

Bereits sein drittes Album neben einer stattlichen Anzahl an EPs auf Labels wie E-Beamz, Who’s Susan, ec2a oder dem Shall-Not-Fade-Ableger Timeisnow legt DJ Swagger mit Minor Manor Grand Schemes vor: ein gelungener Ritt durchs Hardcore Continuum, der tatsächlich nicht von den britischen Inseln kommt, vielmehr aus Bielefeld. Seine ersten Sporen verdiente sich Swagger im damals arg gehypten Lo-Fi-House-Genre, dann ging es aber recht fix in Richtung Bass Music mit all ihren diversen Spielarten.


So auch auf diesem absolut abwechslungsreichen Longplayer. Los geht’s mit zwei harschen Bass-Techno-Hybriden, eindeutig als Dancefloor-Bomben konzipiert. Und schon wird die erste Abzweigung genommen, hin zu fluffig-melancholisch gestepptem UK-Garage, inklusive träumerischer Vocals. Aber auch entspannter Drum’n’Bass steht auf dem Menü, treibende Speed-Garage-Mutationen mit Bleep-Faktor oder wobbelnd synkopierter Dubstep. Selbst vor deutschsprachigen Rap-Reimen wird nicht zurückgeschreckt – und why not?

Los ist hier auf jeden Fall einiges, und nach dem nächsten Break wartet eventuell schon wieder etwas ganz Neues. Eines jedoch ist, apropos Break, konstant: BREAKBEAT wird hier großgeschrieben. Und so entlässt DJ Swagger nach einer knappen Stunde mit der wirklich verzaubernd schönen Garage-Electronica-Hymne „Fluox” – das perfekte Dessert nach einem satt und zufrieden machenden Klang-Festmahl. Bass-Town Bielefeld? Wer hätte das gedacht? Tim Lorenz

ELLES – A Celebration of the Euphoria of Life (Studio Rockers)

ELLES – A Celebration of the Euphoria of Life (Studio Rockers)

Eleanor Pinfold alias Elles hat nun schon eine Weile mit dem portugiesischen Label Naive zusammengearbeitet. Nach Singles für das Haupt- und Sublabel sowie einer Kollabo mit Labelboss Violet geht es für die DJ und Rinse-FM-Moderatorin jetzt ans Eingemachte in Form eines Albums.

Darauf steht Elles’ Stimme im Zentrum, und die führt durch eine Sammlung von Ideen und Erfahrungen, die sich allesamt mehr oder weniger aus dem Nachtleben und dem Umgang mit elektronischer Subkultur speisen. Musikalisch ist das hauptsächlich Pop-affiner Electro geworden, inkludiert dabei aber Retro-Elemente aus Jungle, House und Techno. So ist die stilistische Mitte in etwa zwischen 80er-Electro-Pop und 90er-Indie-Clash zu suchen. Referenzen zum Clubleben, Tracktitel wie „Toilet Talk” oder „Coming Up Is Such Sweet Sorrow”, sind offensichtlich und machen das Narrativ der Songs für all jene leicht nachvollziehbar, die sich selbst in den Vocals um Ausgehen und Afterpartys wiederfinden können. Dabei wirkt die vielfältig manipulierte Stimme der Londonerin auch als Musikinstrument, wenn sie mal metallisch verfremdet klingt, durch den Vocoder gejagt oder dann wieder zuckersüß radiotauglich getrimmt ist. Immer wieder sorgen Stilmittel wie typische Rave-Stabs oder gechoppte Oldschool-Drums für einen Vintage-Teint, während Downtempo-Momente, „Dry Ur Tears”, und eine Prise Psychedelia („Candyflip 69”) das Album vor allzu viel Pop-Gefälligkeit bewahren. Leopold Hutter

Farben – textstar+ (Faitiche)

Farben – textstar+ (Faitiche)

2002 versammelte Jan Jelinek alias farben unter dem Titel textstar Tracks von vier EPs, die zwischen 1999 und 2002 auf dem Label Klang Elektronik erschienen waren. Diese Sammlung liegt jetzt wieder auf Vinyl vor, unter dem Namen textstar+, wobei das Pluszeichen auf einen Bonustrack hinweist – und vielleicht auch auf das Remaster.

Während andere Produktionen von Jelinek geradezu zeitlos erscheinen, können seine frühen Produktionen als farben auch als Zeitdokument gehört werden. Mit diesen Tracks suchte Jelinek zumindest die Nähe der Tanzfläche, und gerade in den Beats spiegelt sich einstiger Zeitgeist: Hier herrschen vornehme Zurückhaltung in Arrangement und Produktion, und jener Minimalismus hornbebrillter Elektronika, mit dem eine neue Generation von Powerbook-Producer*innen um die Jahrtausendwende selbst solche WG-Küchen in Dancefloors verwandelten, die zuvor von Gitarrenklängen dominiert wurden. Weiterhin benutzte Jelinek einen Sampler, der gerade mal 1.44 Megabyte pro Sample zuließ. Die entsprechend kurzen Samples wiederum sorgten für Kontinuität in einem Klang, der um die Jahrtausendwende vorzugsweise mit der Vorsilbe „Micro” beschrieben wurde: Microhouse, Microsampling, Microsound.

Ein weiterer Grund für die Geschichtlichkeit von textstar+ aber liegt im Geflecht aus Referenzen, das die Compilation spannt, oder – wie es die zeichentheoretisch geschulten Liner Notes formulieren – den Signifikanten. Sie finden sich in Samples, Tracktiteln und Artwork, alles auf textstar+ dient eben auch als Text. „farben Says Love To Love You Baby”: Jelinek verlegt, abstrahiert und versteckt Verweise auf Soul, Disco, Jazz, und sogar Elvis Presley, aber auch auf Marx, Engels und die erste Generation der RAF, deren Mitglieder auf den Hüllen der EPs noch erkennbar, auf dem Artwork der Compilation dann zu monochromen Farbschablonen abstrahiert wurden. Während man Jelineks eleganter Beinahe-Clubmusik lauscht, entfaltet sich also nebenbei der Horizont des damaligen pop-intellektuellen Diskurses, in dem auch Themen aus der Zeit der Bonner Republik noch nachhallen. Christian Blumberg

Flug 8 – Enroute (Live at Robert Johnson)

Flug8 – Enroute (Live at Robert Johnson)

Ambient-Alben unterscheiden sich durch Fortbewegungsweisen. Es gibt tröpfelnden Ambient, statischen Ambient. Und es gibt die Musik von Flug 8, dem bei Frankfurt am Main ansässigen Daniel Herrmann. Seine Interpretation von Ambient ist gezeichnet von einem Schweben, einem raumgreifenden Fliegen mit weit nach vorne tragendem Flügelschlag.

Enroute, Herrmanns Corona-Werk, beginnt mit den Wölkchen-Sounds von „North West”, die sich in warmen Farben bewegen, von Ost nach West, West nach Ost, und später in ihrem Driften gekreuzt werden von disharmonischen und doch formgebenden vertikalen Kratzern. Die Titel bleiben im Feld der Luftfahrt, wenn etwa in „Intercontinental” mit Bläschen-Keys und verwischten Sprechstimmen ein großer Raum vermessen oder in „Economy” eine Loriot-Komödie aus den dem mit Menschen gefüllten Flugzeuginnenraum inszeniert wird. Dem Album ist eine Reisesehnsucht anzuhören, und in „Bouncing Rays” kommt diese Sehnsucht an einem paradiesischen Ort an. Schönes Album für Mitternacht und auch für alle anderen Tageszeiten. Christoph Braun

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