Wer bei der 3G-Regel an gestreckten Shit denkt, den nächsten Handymasten abfackeln möchte oder einfach nur sein altes Motorola-Handy loswerden will, ist hier falsch. Denn Tapestry hat wieder Tapes gesammelt und sagt: Geil, geil, geil! Angesichts des grün angestrichenen Winters, der sich in den Sommer verirrt hat, bleibt einem ohnehin nichts anderes übrig, als zu Hause das Kassettendeck zu füttern. Und sich in feuchten Träumen auszumalen, wie das wird, zum ersten Mal zurück im Club. Euphorie am Dancefloor. Bass im Herzen. Tränen zwischen den Augen. Lang wird es jedenfalls nicht mehr dauern. In der Zwischenzeit basteln wir im Kölner Modelbau-Shop mit niederländischen Facharbeitern an Kurzwellenradios, träumen vom Hausmeisterstrand in Jesolo und kleben dem Toni Hamady der deutschen Techno-Szene an den Tape-Spulen. Tapestry präsentiert die zehn besten Tapes für alle, die 3G auch geil finden – geimpft, genesen oder eben getestet.
Modelbau – Aether Aleatorica (superpolar Taïps)
Bände an Büchern ließen sich füllen über diesen Mann: Frans de Waard. Elektroniker aus den Niederlanden, experimenteller Knallkopf, Experte für Knister- und Rausch-Ausflüge zwischen Lötkolben und Schaltplan. Mit seinem Projekt Modelbau, das er seit 2012 solo betreibt, hat er über 80 Alben veröffentlicht. Für das Kölner Label superpolar Taïps hackt sich de Waard in die Frequenzen des Kurzwellenrundfunks. Statt Bastelkleber riecht’s nach Elektrosmog. Man kommt sich vor wie in der Kommandozentrale eines Geheimdienstes für interstellare Kommunikationsüberwachung. Einsame Nächte vor blinkenden Knöpfen auf riesigen Maschinen, die Welt an einem einzigen Draht – so muss das Kling-Klang-Studio klingen, wenn sich Außerirdische hinters Mischpult hocken, um eine Sprache hörbar zu machen, die sonst im Ambient-Rauschen des Alltags untergeht. Frans de Waard wird zum falschen Archäologen, schabt Schicht für Schicht von einem Sound, bis das Rauschen in den Vordergrund tritt. Und nur noch für sich selbst wirkt. Ein Tape, bei dem man allein zu zweit ist.
Intricate Decor – Intricate Decor (Brutalism)
Nochmal Köln. Diesmal Brutalism! Dabei schleppt die Design-slash-Party-Truppe vom Rhein die Basskisten zurück in den Carport. Leise, lauschig, lustvoll kredenzt man sich einen Entschleunigungskurs in angewandter Tagträumerei. Intricate Decor, ein Alter Ego von Labelhead Wegmann, lässt die Gitarre schrammeln, vorsichtig zwar, aber immerhin. Irgendwo zwischen den Ambient-Spielereien von Rødhåd und dem Blackest Ever Black, das man auf eine Tape-Spule ritzen konnte, segelt man hier in eine Welt, in der Beats nur Ballast und Anfälle von Melancholie der nötige Bombast sind, um sich durch die nächste Session beim Kopfgärtner zu schlängeln. Keine Frage, das ist Wandtapeten-Musik für Menschen, die im Baumarkt gerne am Industriekleber schnüffeln. Bleibt picken – in der Birne, am Körper und – hach! – im Lendenwirbel!
Whiteshadowhurts/Toxicspikeback – SCUM002 | Arcadia (Scum Collective)
Glitzer, Glanz und Gloria waren mal! Das scum-Kollektiv steckt sich zwei Fingerspitzen Speed in den Hintern und ballert mit stabilen 170 Beats in der Minute über den Badestrand. Ragazzi, Ragazzi, das ist Herzrasen, Angst und Euphorie als Trance-Zustand für die Trockeneis-Mafia. Keine Gefangenen im Pillen-Flashback, nur Poesie auf zwei Beinen. Soll heißen: Stampfen ist das neue Shuffeln, und Shuffeln das alte Krochn! Kirmes-Krach und kollektive Ekstase zum Mitnehmen. Schneller. Immer schneller! Und full frontal in die Vergangenheit. Was die beiden scummer Whiteshadowhurts und Toxicspikeback auf zwei Tape-Seiten geritten hat, will man auch. In doppelter Ausführung, spätestens wenn die Clubs wieder offen sind und die Anlagen heißer laufen als die Stickstoffkühlung von Twitch-Streamern. scum, das wissen wir jetzt, steht für mehr Tränen auf der Tanzfläche.
Kobermann – Monochrome Vol.1 (A.T.C.)
Bei Kobermann, dem Producer aus Wien, hat man stets das Gefühl, dass er die Maschinen für sich sprechen lässt. In einer anderen, uns unbekannten Sprache zwar – oder so vernuschelt, dass es nur die ganz Oargen checken –, aber ihrer eigenen Theorie folgend. Und vielleicht ist es tatsächlich so: Sie sprechen mit sich statt für uns. Jedes einzelne Kabel verknotet ein System, das nur in und durch sich existiert. Wobei das Labern über Kobermanns Monochrome Vol.1 freilich selbst Gefahr läuft, zur eigenen Theorie zu mutieren. Die Interdependenz lässt liebe Grüße ausrichten! Daher, Schritt zurück und back to the basics: Kobermann hat ein Tape veröffentlicht, das klingt, als hätte man Actress’ 88-Mixtape sandgestrahlt, abgebeizt und mit grauer Farbe bepinselt. Es rauscht und pfeift, der Grind sickert durch. Und plötzlich – cut! – rotzt ein Radio rein, drängelt sich vor, wird wieder zurückgeprügelt und begraben unter einer monochromen Masse. Das ist die Theory of Machines in ihrer abgewetzten Reinform. Ein Fest für Verrückte!
Various Artists – The Dig (Műhely)
Stell’ dir vor, der DHL-Typ klingelt, und du gehst nicht ran. Verkehrte Welt! Aber hey, mittwochs muss man ganz vorsichtig in die Woche reinstarten. Nur keine lauten Geräusche. Und bloß kein… was macht den dieser Hammer hier? Hm, gut in der Hand liegt das Teil ja. Ach, ungarische Qualitätsware, meinen Sie? Ob man damit auch ein paar deutsche Nägel in die Wand klopfen kann? Bäng! Und schon wird wieder geflext. Plötzlich knallt Reparatur-Techno aus der Bluetooth-Box – um den Spiegel auf 135 Beats in der Minute zu halten, sich den letzten Track vor dem nächsten reinzuhämmern und den Nachbarn rhythmische Grüße aus dem Land für Bass und Bumms durch die Wand zu schicken. Műhely ist ein Label aus Budapest, das Adam Krasz, Normal Tamas und Obwigszyh gegründet haben. Für den Labelsampler hat man den Bekanntenkreis gefilzt und neben ein paar Pillen auch einige Nummern aus den Taschen geschüttelt. Zwischen Vierviertel-auf-die-Zwölfe und Design-Beilage spart man sich den Besuch im Bauhaus. Und legt einen soliden Hammer zum Tape. Ja, kein Spaß. Ein Hammer! Wer wissen will, wie Techno zur Tool Time klingt, knattert mit Műhely durch die Nacht.
Various Artists – The Finspång Sound – Revelations (98-00) (Kronofonika)
Humor ham se, die Schweden! „Kurz nach Neujahr 2018 fanden wir eine große Kiste mit alten Kassetten bei einem Autohändler in Rejmyre”, schreiben die Labelheads von Kronofonika. Für alle, die in Geo nicht aufgepasst haben: Rejmyre ist ein 900-Seelen-Kaff in der Gemeinde Finspång, zwei Autostunden von Stockholm entfernt. Heute sagen sich dort nicht mal mehr Fuchs und Hase gute Nacht, in den 90ern sei der Ort das Mekka für eine „Underground-Szene” gewesen. Sagen zumindest die Labeltypen. Man muss aber nicht Håkan Nesser heißen, um zumindest eine falsche Fährte zu lesen und den Finspång Sound als Vergangenheitsbewältigung im Gegenwartsschock zu hören. Zwischen Euroscooter-Sound von Ludvig De Gärsgård, Mittelalter-Techno (ja!) und Late-Night-Dubbiness brodelt die Jetztzeit bis zum absoluten Ketamin-Comedown. Mit Revelations soll die Trilogie der mysteriösen Kassettenkiste übrigens abgeschlossen sein. Bis man eine Neue findet. Durch Zufall, natürlich!
SPIRINET – ENERGY FORMULA (K-HOLE TRAX)
Morgens halb zehn in Polen: Keine Power im Akku, deshalb: Energie fließe! SPIRINET, ein Mailänder Producer, schiebt ein Tape ins Deck und lädt seine Maschinen für K-Hole Trax. Das polnische Label erstmal so: „Hi-NRG!” – bringt aber alles nix. Sebastiano Carghini hat schon in die Steckdose gegriffen. Knirsch. Peng. Zisch. Die Welt dreht sich ein Stückchen langsamer. Rauch steigt auf. Der Verstärker verprügelt Lautsprecher mit Bässen zwischen Chicago und Chop Suey. Das verfolgt alles kein Ziel, außer Spaß bei Arbeit, Sport und Spiel. Zwischen „Bangin’ Bassline” für den Totalabriss und einer verkorksten Valium-mit-Rotwein-Session, um „Outta Here” zu getten, reißt ein paar Mal das Band. Oder tut zumindest so. Viel Krach für alles, was man schon lange nicht mehr gehört hat. Glatt verpackt und kleingehackt.
Kiki Moorse & Andreas Reihse – BADFRENCH (WANDA)
Gibt es eine bessere Duett-Kombi als Andreas Reihse und Kiki Moorse? Françoise Cactus und Jens Rachut vielleicht. Dann hört sich der Spaß aber auch auf. Reihse und Moorse, der Kreidler-Installateur und das Ex-Chicks-On-Speed-Chick, müsste man in einem französischen Bistro zusammenführen, wenn sie sich dort nicht selbst zusammengeführt hätten. Als BadFrench raucht man Kette, während man vor Notre Dame ein Freudenfeuer zündet, um sich am Chanson der Neuzeit zu vergeh…, pardon, -suchen. Französisch, eine Sprache, die wunderbar als Distinktionsmerkmal und Mittel zur Profilierung gleichermaßen funktioniert. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt! Mit BADFRENCH legen Moorse und Reihse jedenfalls eine Tour de France hin. Mit dem Fahrrad über die Champs-Élysées, rauf zum Montmartre. Die Klampfe unterm Arm. Den Pop zwischen den Zähnen. Zwei geniale Dilettant*innen, die die Marseillaise anstimmen und doch nur Quatsch machen. BadFrench will save us all!
Vladimir Ivkovic – Sweet Earth Flying (Climate Of Fear)
Vladimir Ivkovic, der Toni Hamady der deutschen Techno-Szene. Ein Mann, viel Bart. Noch mehr Wumms! Aus dem Dunstkreis des Belgrader Clubs 20/44 emporgestiegen, den Salon Des Amateurs gemastert und von der Pandemie das Frequent-Flyer-Ticket aus der Hand gerissen, hat Ivkovic für das Berliner Label Climate of Fear den Säbelzahntiger aus dem Synthesizer gequetscht. Es knarzt und knorzt wie damals ’96 auf diesem „endgeilen Rave, oida!” Die Kick am Anschlag, die Sounds wie Sirup – eine klebrige Masse, die die Gehörgänge verplombt, um das Resonanzprinzip als Frequenzmodell aufzuzeichnen. Ivkovic überlässt der Masse den Bass und auch sonst nichts dem Zufall. Im Club, der vielleicht oder vermutlich dann doch eher bald als baldestmöglich öffnet, bringt er seine eigenen Nadeln mit. Nicht, um sich backstage das Astra in den Arm zu jagen, sondern um den Platten den richtigen Spin zu geben. Für Sweet Earth Flying braucht’s – juche! – nur ein Tapedeck und genügend Platz. Also: Raus mit dem Technics-Teil und gib iiiiiiiiiihm!
bela – Guidelines (Éditions Appærent)
Die Geheimtipp-Sirenen heulen: bela ist der neue Shit für Cyborg-Mukke, die ballert wie Blade Runner 2049 und den Orientierungssinn mit Beats zerstört, bei denen man – wie bei einem anständigen Retreat – zuerst kotzen muss, um sich anschließend die Suppe wieder in den Mund zu stopfen. Wer nur Schwindel fühlt, hat Guidelines nicht verstanden. Aber Moment mal: bela lebt in Seoul. Das klingt nach Magnetbahn-Rodeo über schimmernden Neonschildern in einem Großstadtmoloch, ist aber sauberer als ein desinfinzierter Corona-Warteraum in Schleswig-Holstein. Man will ja nicht Putzfimmel sagen, aber, nun ja, Purist*innen laufen dort mit feuchten Unterhosen rum und die Kondo-Methode greift ins Leere. Guidelines ist also das organisierte Chaos in der chaotischen Organisation, eine Handlungsanweisung für den Putzplan. Nicht, um mal eben nach der letzten Corona-Party durchzuwischen, sondern um Techno einen White-Noise-Schock zu verpassen. Die Zukunft haben wir uns dreckiger vorgestellt!