Auch in diesem Jahr markierte das Lunchmeat den Übergang von der clubkulturellen Sommer- zur Winterzeit. Damit verbunden: Weniger ungezügelter Hedonismus, weniger enthemmter Rave, dafür mehr Audiovisualität und mehr Gedanken, die während der Performances durch den Kopf schwirren. Warum das trotz entzerrtem Konzept anstrengt, sich schlussendlich aber vollends lohnt, lest ihr im Folgenden.
Das Lunchmeat beginnt für mich im Gegensatz zu meinen bisherigen Ausgaben nicht im Divadlo Archa oder dem Club Ankali, sondern gleich im Trade Fair Palace der Prager Nationalgalerie. Mit einer Performance, die zwar nicht im offiziellen Programm des Festivals steht, dessen künstlerischen Anspruch aber ziemlich gut verkörpert.
Im Erdgeschoss des konsequent in Weiß gehaltenen Foyers haben sich Menschen zu Trauben zusammengefunden und plaudern teils angeregt, manche trinken Sekt. Weitestgehend unbeachtet und wie ganz selbstverständlich steht mitten unter ihnen eine aufwendig verkabelte Sackkarre vor einer fast bis ins erste Stockwerk ragenden Leinwand. Die gelöste Stimmung schwenkt um, als mit bela eine in weißes Hemd und schwarze Hose gewandete Erscheinung durch den Raum schlurft. Akkurat bemisst die Südkoreaner:in den Raum, schnappt sich Sackkarre mit montiertem Mikrofon und beginnt, eine Gerade von etwa 20 Metern manisch auf und ab zu schreiten. Sofort sammeln sich entlang dieser Menschen, die Szenerie gleicht einem Catwalk der Uneitelkeiten. bela blättert während der Performance zum Album Noise and Cries fahrig in einem kleinen Notizbuch und presst zu Drumming, das den Fluchtreflex aktiviert, kehlige Death Growls ins Mikrofon. Auf der Leinwand erscheint das Live-Bild des Gesichts der Künstler:in, vermischt mit Naturaufnahmen. Nach etwa einer halben Stunde löst sich die Performance in jenseitigem, körnigem Ambient und dem Applaus der Menge auf. Der Tod ist eingetreten, und das schon zu Beginn des Festivals.
Draußen ist es dunkel, und es nieselt beständig. Bei einem Bier unter dem provisorisch wirkenden Zeltgebilde, das die nächsten Tage als Outdoor Stage herhalten wird, fällt der Blick auf ein jeweils ausgedünntes Tages-, dafür in die Breite gezogenes Gesamt-Line-up. Soll heißen: Im Gegensatz zu den letzten Jahren erstreckt sich das Kernfestival nicht über drei, sondern über vier Tage und vermeidet damit in Teilen die trotz aller Strapazen liebgewonnene Hektik, die im Laufe des Lunchmeat stets zur Routine wurde: Auftritt, Treppen hoch, Auftritt vor der Nationalgalerie besprechen, Treppen runter, nächster Auftritt.
Donnerstagnacht herrscht also Entzerrung: Nur insgesamt vier Sets auf zwei Bühnen sorgen für einen betont sanften Einstieg. Das Live-Set von Aasthma, dem skandinavischen Duo aus Pär Grindvik und Peder Mannerfelt, pflügt durch wirklich alle Genres kontemporärer Dance Music, scheint sich aber für keines so wirklich erwärmen zu können. Während Mannerfelt seine Mähne in Schwingungen versetzt, versteckt sich Grindvik ein paar Meter weiter, ganz Witchhouse-y, unter seiner Kapuze. Ein Track klingt, als legten die beiden die Chords aus Pepe Bradocks „Deep Burnt” über einen Footwork-Beat von DJ Rashad, ein anderer, als imitierte er feixend Paul Kalkbrenners glatten Tech-House.
Oklou bettet das Publikum später in Watte und konstruiert demonstrativ einen Safe Space: Traumhafter Gesang mit Autotune-Volten zu ruhigen Melodien, Visuals mit haufenweise Katzen und leeren Städten, die wunderbar als Kulisse für kitschige Coming-of-Age-Filme taugen könnten, und eine devote wie zahlreiche Fanschar bestätigen einander mit vollem Reibungsverlust. Die Membran dieser rosa Seifenblase kommt ins Schwingen, als die Französin mit der extravaganten Kopfbedeckung ihr Mikrofon ins Publikum hält und zwei junge Fans den Text einer ihrer schwermütigen Balladen bemerkenswert schief intonieren. Der Mehrwert von Konzerten liegt im Imperfekten, wie diese Szene einmal mehr zeigt.
Das gilt auch für object blue, so etwas wie die tragische Figur des zweiten Abends, deren Live-Set ihre Frau Natalia Podgórska visualisiert. Ghosts heißt das Resultat, eine der diversen Weltpremieren im Programm, wobei diese hochtrabende Bezeichnung den Liebhabercharakter des Festivals mit forcierter Grandeur konterkariert. So oder so, die Performance verdient Aufmerksamkeit: Zu wuchtigen, zugleich clever verästelten Beats wird das Publikum durch eine modular anmutende Umgebung navigiert, die der eines Videospiels ähnelt, dabei aber ohne die immergleichen Androiden, hyperrealistischen und doch gesichtslosen Figuren und weitere dystopische Allgemeinplätze AI-generierter Kunst auskommt. Man ist tief drin, leider streikt object blues Laptop anfangs vereinzelt, später gehäuft, sodass der Ton immer wieder ausfällt. Nach mehreren Unterbrechungen geben die beiden schließlich auf, aufmunternder Applaus für die Perspektive, die sie eröffnet haben, ist ihnen dennoch sicher.
Wenige Minuten später folgt die nächste Weltpremiere: Pinch & Lorem führen in der benachbarten Concert Hall das Projekt A Red Rabbit auf. Im Rahmen dieser geht Pinchs tieffrequenter Genre-Mix aus Dubstep und Techno eine Symbiose mit den morbiden Bilderwelten des italienischen Visual Artists ein. Der ruft mit suburbanen Häusern in der Einöde, Kindern in der Dunkelheit, plastisch gerenderten Insekten, dem titelgebenden Kaninchen und markerschütternden Stimmen aus dem Off eine Bilderwelt auf, die für mehr als einen Horrorfilm ausreicht. Im letzten Drittel der in szenische Kapitel unterteilten Performance sorgt die wohl erste gerade Kickdrum des Festivals für Dancefloor-Atmosphäre, die das düstere Treiben nicht in Zerstreuung aufgehen lässt, sondern noch intensiviert. Wo bela als Ein-Mensch-Maschine Abgründe erkundete, treten Pinch & Lorem hinter ihren Gerätschaften zurück, mit anderem, aber nicht minder verstörendem Ergebnis.
Nun mag der Eindruck entstanden sein, dass Lunchmeat sei angesichts multipler globaler Krisen in diesem Jahr eine besonders düstere Angelegenheit. Das ist, wenn überhaupt, nur in Teilen wahr. Zwar sind The Fear Ratio kein gnadenlos lebensbejahender Act, die Seriosität von James Ruskin und Mark Broom tut, ähnlich wie die von Voices From The Lake im Vorjahr, dem Timetable mit seinen mitunter etwas strapaziösen Auftritten aber gut: Vor roten Gitter-Visuals, die teils einem Hühnergrill ähneln, ersonnen von den Lunchmeat Studios um Festivalbetreiber Jakub Pešek, gibt das Duo eine Tour durch britisch geprägte elektronische Tanzmusik zum Besten, ohne die Synapsen zu verknoten oder ein übermäßig kompliziertes Konzept zu fahren – IDM, Techno, Breaks, eine Wohltat.
Am Samstagabend schickt Sister Zo Beats durch die Gassen Holešovices, den Akademiker-Stadtteil Prags, in dem sich die Nationalgalerie befindet. Man hört sie schon von sehr Weitem, und irgendwie mögen sie sich nicht so recht in ein ansonsten kohärentes Gesamtbild des Festivals fügen. Das liegt nicht an der Musik selbst, sondern an dem Ort, von dem sie kommt: Die Outdoor Stage wurde im vergangenen Jahr eingeführt, dient dem Lunchmeat als verlängerter Arm außerhalb der Katakomben der Nationalgalerie und soll wohl für eine Auflockerung des diskursiven Charakters des Festivals sorgen. Am Vortag spielte hier Peder Mannerfelt, vor Sister Zo RAMZi ein Live-Set. Starke Acts, die im Freien, in diesem Transit-Raum zwischen Gesprächen über und dem Eintauchen ins Festival doch nicht so recht funktionieren mögen. Nun fühlt es sich alles andere als richtig an, in ökonomisch schwierigen Zeiten ausgerechnet die Gratis-Bühne zu kritisieren, das Lunchmeat täte aber wohl gut daran, wieder voll auf die beiden Kellerbühnen zu setzen. Zumal es dort, erstens, nach den audiovisuellen Auftritten ebenfalls DJ-Sets zu hören gibt, und, zweitens, das gesamte Festival extrem fair bepreist ist: Festivalpässe kosteten im Vorverkauf unter 70 Euro.
Programmatisch gestaltet sich der Samstagabend ambivalent. In der Concert Hall stehen zwei Performances an, die deren Größe zur Gänze nutzen. Myriam Bleau & Nien Tzu Weng präsentieren ihr Projekt Second Self. Dazu schnallen sich die beiden Künstler:innen einen Touchscreen mit Gesicht vor den Kopf, der bei Berührung Sounds triggert, und stelzen zu Techno-Beats über die Bühne, später auch in die Menge. Der erste angekrochene Besucher kann sich noch nicht durchringen, seine Finger auf den Bildschirm zu legen, der zweite nimmt gerne am bizarren Schauspiel teil. Eindrücklich ist das allemal, unterstreicht aber unfreiwillig auch das Gimmick-Hafte dieses Stroboskop-Spektakulums.
Mit noch viel, viel mehr Blitzlicht arbeiten später an selber Stelle Nick Farin und das Projekt Actual Objects, das drei hochformatige LED-Stelen auf die Bühne transportieren. Zu grellem, trancigen Geisterbahntechno verformen sich darauf in rasendem Tempo Gesichter zu spooky Fratzen und Götzenfiguren, was insgesamt schon arg aus der Zeit gefallen wirkt. Außerdem google ich zum ersten Mal in meinem Leben, ob man auch ohne auffällige Anamnese zu jedem Zeitpunkt im Leben Epilepsie entwickeln kann. Die Antwort verunsichert mich, die Performance ermüdet inhaltlich und überfordert optisch.
Mehr Spaß macht, was auf der Club Stage passiert, wo Toumba & sida100 und ABADIR & Nicolò Cervello in der bewährten Kombination aus Ton- und Videokünstler auftreten. Erstere fusionieren rhythmisch variable Bass Music mit Einflüssen aus dem Mittleren Osten mit Visuals, die oldschoolige Breakbeat-Bilderwelten wie die von Peshay hommagieren. Zweitere bilden in Musik und Visuals den unregelmäßigen Rhythmus des Scrollings in sozialen Netzwerken ab und machen deren Algorithmen für ihre Kunst profitabel, indem sie auf beiden Ebenen Versatzstücke aus Instagram und TikTok verwerten. Weniger tanzbar, doch ebenso hochkarätig.
Den Abschluss des – für mich – letzten Festivaltages bestreitet Machinedrum. Ganz amerikanisch schwört Travis Stewart zu Beginn seines Sets das Publikum auf die nächsten anderthalb Stunden ein. Anschließend spielt er poppige Tracks, zu deren Gesangs- und Rap-Parts die jeweiligen Featuregäste als überlebensgroße Avatare auf dem Bildschirm erscheinen. Das erinnert erinnert in seiner grellen Ästhetik an Disclosure, das analoge Rasselspiel, das Stewart anfangs noch zelebriert, verstärkt diesen Eindruck: Machinedrum legt großen Wert auf den tatsächlichen Live-Charakter seines Live-Sets, performativ wie immersiv. Fans seines Frühwerks hadern trotzdem mit der Dominanz des Pop in diesem Konzert: Überwiegend laufen Tracks, mit denen Stewart seit 2016 (Human Energy) einen Paradigmenwechsel in seinem Schaffen einleitete, und die quietschige Mixtur aus Visuals und Musik ermüdet auf Dauer. Gegen Ende des regulären Auftritts wartet mit dem grandiosen „Gunshotta” vom ebenso grandiosen Album Vapor City von 2013 noch eine versöhnliche Belohnung, ehe Stewart für die Ausdauernden noch eine halbe Stunde lang unveröffentlichtes Material zum Besten gibt.
Vielleicht aber auch eine gute Idee, zu diesem Zeitpunkt auf eine besonders zugängliche Performance zu setzen. Denn, so die einhellige Meinung in den letzten Gesprächen vor der Nationalgalerie, das Lunchmeat hat auch in diesem Jahr wieder gefordert. Trotz entzerrtem Konzept, das noch immer viel abverlangt. Mit Sets, die Aufmerksamkeit beanspruchen. Und mit der schieren Menge an Eindrücken, die sich Tag für Tag in die Hirnwindungen brennen.