Das Decibel Open Air in Florenz findet seit 2017 jährlich statt. Bekannt ist es bei den meist lokalen Besucher:innen unter anderem dafür, große Namen aufzufahren. Die norditalienische Stadt ist jenseits der Festivals nicht so sehr in die Szene – oder vielleicht eher Industrie – integriert. Raver:innen reisen an, um The Chemical Brothers, Paul Kalkbrenner, Amelie Lens oder Carl Cox und andere zu erleben.
Unser Autor Stephan Gilgenreiner hat sich dieses Jahr unter die Feiernden auf dem Decibel Open Air gemischt, um zu beobachten, wie auf dem größten Festival der Renaissance-Stadt gefeiert wird.
Für das Decibel Open Air 2023 wurde im Vergleich zum Vorjahr einiges umgestellt, vergrößert und vermeintlich verbessert: Das Festival zog von seiner früheren Heimat in der Innenstadt, der Visarno Arena im Parco delle Cascine, raus ins Industriegebiet, auf eine freie Fläche in der Nähe des Flughafens. Aus ehemals 40.000 Quadratmetern Fläche wurden 90.000 Quadratmeter und eine geschätzte Kapazität von 35.000 Besucher:innen. Die genaue Anzahl der verkauften Tickets wurde nicht bekanntgegeben.
Einem Instagram-Post der Veranstalter:innen ist allerdings zu entnehmen, dass beinahe alle Tickets verkauft wurden. Die Barcrew wurde von 80 Mitarbeiter:innen auf 200 aufgestockt und eine Wasserstation installiert – nicht vorzustellen, was für eine Zumutung die Editionen der vorherigen Jahre gewesen sein mussten, wenn bei 35 Grad ohne Schatten kein kostenloses Wasser angeboten wurde.
Bereits am ersten Tag des Festivals kam dann eine schockierende Nachricht: Die Stadtverwaltung von Florenz hatte wenige Stunden vor Beginn des Festivals beschlossen, dass kein Alkohol verkauft werden darf. Die genauen Gründe dafür wurden nicht genannt. Es bleibt unklar, ob das Festival die Auflagen nur unzureichend erfüllt hat, ob die Stadtverwaltung ein zu hohes Sicherheitsrisiko darin sah, dass die Besucher:innen bei 35 Grad in der prallen Sonne massenhaft Alkohol trinken, oder ob sich die konservative Stadtverwaltung lediglich querstellen wollte.
Organisatorisch ging es dann vom Regen in die Traufe. Das Alkoholverbot schlug zwar erstaunlich wenig auf die Stimmung der Feiernden, was vermutlich an den unzähligen offensiv operierenden Dealern auf dem Gelände und den Trinkgelagen draußen lag. Dennoch dürfte es für die Veranstalter:innen ein finanzielles Desaster dargestellt haben. Auch wenn die Verantwortung dafür wohl weitgehend die restriktive Stadtpolitik trägt, wurden die Defizite von der Festivalorganisation alles andere als wettgemacht.
So war die Anreise bereits ein kleines Debakel. Die vom Festival empfohlene Route verlief mittels Tram bis fast zum Flughafen. Von da sollte man einen Shuttlebus nehmen, der alle 15 Minuten zirkulierte. Für 15 Euro pro Person und Tag durfte man mitfahren und musste so die letzten drei Kilometer zum Gelände nicht laufen. Der bereits horrend hohe Preis – für das Geld Preis hätte man auch locker ein Taxi nehmen können – war noch nicht die eigentliche Abzocke.
Der Bus ließ seine Insassen an einem Kreisverkehr aussteigen, der als improvisierte Busstation diente. Von dort musste man nochmal zehn Minuten zu Fuß gehen. Wer am Abend nach Hause wollte, wartete vergebens. Es kam kein Shuttlebus, und man musste zusehen, wie man nach Hause kam. Erst am zweiten Tag fanden wir heraus, dass die eigentliche Station etwa einen Kilometer entfernt lag, es gab keinerlei Beschriftungen, Wegweiser oder sonstige Informationen.
Am ersten Tag stapften wir also vorfreudig den letzten Kilometer an Müllbergen vorbei zum Festival – noch unwissend, was uns genau erwartete – und gelangten ohne langes Schlangestehen auf das Gelände. Auf drei Stages verteilt spielten FiveP, Meduza und MRPHN. Die Hauptbühne und die beiden ähnlich großen Stages in Zelten lagen nahe beieinander, sodass man Stage-Hopping betreiben konnte, um abzuchecken, wo was läuft.
Angeschrieben war keine Bühne, kein Timetable war aufgehängt, was vor allem aus zwei Gründen ein Problem darstellte: Zum einen wechselten die Namen der Stages. Am ersten Tag hieß das eine Zelt „Resonance Stage”, dort lief harter Techno. Am nächsten Tag hieß das andere Zelt Resonance Stage, und die ehemalige Resonance Stage „Social Music City”. Das verwirrte noch mehr, und man musste sich irgendwie selbst zurechtfinden, falls man eine:n bestimmte:n DJ hören wollte.
Auch beim Booking stand ein Debakel an, das ohne Beschriftungen wohl noch einfacher vertuscht werden konnte: Etliche DJs wie Amémé, Michael Bibi und auch Headliner wie Peggy Gou und Klangkuenstler – mit deren Namen wohl viele Tickets verkauft wurden – erschienen nicht. Kommuniziert wurde das gar nicht oder völlig mangelhaft. Es gab einen einzigen Line-up-Update-Post. Auf dem Timetable fehlten die DJs schlicht und einfach. Nirgends wurde explizit erklärt, dass die DJs nicht auftreten, es wurden keine Gründe genannt, ebenso warteten die Besucher:innen vergeblich auf eine Entschuldigung.
Schatten gab es nur in den VIP-Bereichen oder den Sauna-ähnlichen Zelten, das Essensangebot ließ zu wünschen übrig und jedes Getränk, das man kaufen konnte, war von Red Bull. Für schlecht vorbereitete gab es außerdem keine Ohropax. Dafür konnte man Merchandise kaufen oder sich beim Jägermeisterstand, der ja keinen Alkohol verkaufen durfte, ein Tattoo aufmalen lassen.
Die katastrophale Organisation verdrängte die positiven Momente des Festivals allzu sehr, denn über die wuchtigen Soundsysteme liefen doch auch einige Highlights, die von den gut gelaunten Besucher:innen merkwürdigerweise ähnlich gleichgültig und stoisch aufgenommen wurden wie die Schattenseiten des Festivals. Nina Kraviz spielte am ersten Tag ein kreatives Set, angefangen bei Ghetto House über dubby Detroit Techno bis hin zu von Progressive angehauchtem Trip-Recordings-Techno und ihren eigenen Produktionen. Bei allen Kontroversen um ihre Person: Kraviz beherrscht ihr Handwerk und stach aus den restlichen Sets heraus.
Nachdem sie den Soundtrack zum Sonnenuntergang geliefert hatte, folgte ein Live-Set der Berliner Gruppe Moderat. Mit deutlich langsameren Klängen, poppigen Ansätzen und einer guten Stimmung war dieses eine Erfrischung und zugleich auch ein mutiges Booking, das neben den sonst durchgängig energetischen DJ-Sets gut funktionierte. Folamour sorgte derweil für uplifting House, I Hate Models für Brechstangen-Techno. Boris Brejcha und 999999999 spielten dann das Closing.
Am zweiten Tag spielte Adiel bei 35 Grad Hitze ein treibendes, aber gelungenes Set und bot Ablenkung, während Deborah De Luca auf der Mainstage auftrat. Paul Kalkbrenner, der bereits letztes Jahr gebucht wurde, stillte dann den Hunger aller Harmoniebedürftigen. Mit den Closing-Sets von Amelie Lens und Jamie Jones b2b Loco Dice stellte sich doch noch so etwas wie eine Euphorie ein.
Über das Wochenende hinweg scheinen viele Besucher:innen über die misslungene Organisation hinweggesehen und das Decibel Open Air genossen zu haben. Dennoch wird das Alkoholverbot alleine das Festival an seine existenzielle Grenze gebracht haben, und man darf gespannt bleiben, ob es ein Decibel Open Air 2024 geben wird. Es könnte eines der Festivals sein, das zu groß, zu kommerziell denkt, ehe es kollabiert.