Streng genommen ist Sylvere bereits ein alter Hase im DJ-Geschäft. Einer, der seit über einer Dekade Clubs zum Bersten bringt und als Produzent tätig ist. So richtig angekommen fühlte er sich bis zu einem gewissen Punkt aber nie. So musste der Pariser, dessen Vater aus der Karibik stammt, seinen Sound aus einem schieren Übermaß an musikalischen und kulturellen Prägungen herausdestillieren: Shoegaze, Pop-Rock, Hip-Hop, Dancehall, Breakbeat und nicht zuletzt Techno dringen zwar über Jahre hinweg in die Synapsen des Musikers ein, ohne aber zu einer kohärenten, für Sylvere selbst überzeugenden Form zu finden.
Dann passiert zweierlei: Die Pandemie-Lockdowns zwingen den unstillbar Suchenden zur Isolation. Aber das damit verbundene Herunterfahren bewirkt eine totale Umkehr von Sylveres künstlerischem Ausdrucksvermögen: Das Aufsaugen der Einflüsse endet, die Festplatte ist hinreichend gesättigt. Plötzlich findet sich Sylvere im Zustand übersprudelnder Inspiration wieder. Er produziert und verschickt Material an einen guten Freund, der wiederum mit dem Berliner Duo Modeselektor bekannt ist. Das Unerwartete passiert: Sylvere wird von Monkeytown unter Vertrag genommen, gleich mehrere EPs werden im Voraus fixiert. Er wird eingeladen, als Warm-up-DJ das Publikum auf den Konzerten der Moderat-Europa-Tour auf die richtige Temperatur zu bringen.
Wie Sylvere zur Musik kam, welche (Um-)Wege er gegangen ist, um zu seinem Sound zu finden, was ihn zu einem brillanten Techniker hinter den Decks macht und warum nicht nur der Autor dieses Textes, sondern auch die Jungs von Modeselektor einen Narren an Sylvere, seiner Musik und seinem eindrucksvollen Auftreten gefressen haben, lest ihr in dieser Ausgabe von Am Start.
Im Videocall grinst mir ein erschlagend offenes Lächeln entgegen. Durch seine französische Muttersprache gefärbt, hat Sylveres perfektes Englisch eine schöne Note. Ein lässiger, unaufgeregt sympathischer Typ, denke ich gleich nach den ersten zwei Begrüßungsphrasen.
Ich habe Sylvere im Zuge einer Monkeytown-Labelnacht im Berliner Ohm im Sommer 2022 zum ersten Mal als DJ erlebt – eine Erfahrung, die sich aus unterschiedlichen Gründen eingebrannt hat. Warum, das wird sich im Folgenden noch erhellen.
Sylvere, der bürgerlich Sylvère Letellier heißt, sitzt während des Interviews in seiner Pariser Wohnung. Vor gerade einmal drei Tagen ist er von einer monatelangen Tour in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Als DJ hat er auf rund 20 Konzerten in nahezu allen großen europäischen Städten – zuletzt in Wien – das musikalische Aufwärmprogramm für Moderats Tournee zum Album MORE D4TA geliefert. Davon müsse er sich noch immer ein bisschen erholen, erzählt Letellier und lacht dabei laut.
„Mein Ziel war es, die Leute irgendwie in den richtigen Vibe zu versetzen, sie bis zu einer gewissen Temperatur aufzuwärmen – aber natürlich nicht zu sehr!”
Sylvere
Die Tournee wurde komplett im Tourbus bestritten. Sage und schreibe 16 Personen waren dort über Monate hinweg eingepfercht: Gernot Bronsert und Sebastian Szary von Modeselektor und Sascha Ring alias Apparat – die zu dritt das Bandprojekt Moderat bilden –, das ganze restliche Tour-Team und Sylvere, der als einziger kein deutscher Muttersprachler war; der aber – wieder lachend, halb im Ernst, halb im Spaß – erzählt, am Ende der Tour keine Kommunikationsschwierigkeiten im Deutschen mehr gehabt zu haben.
Sylvere, eigentlich gewohnt, als Club-DJ nachts vor höchstens ein paar Hundert Menschen seine DJ-Sets abzufeuern, spielt plötzlich vor Tausenden in ausverkauften Hallen. Die „Konzert-Warm-Up”-Sets dauern in der Regel circa 45 Minuten. Dabei gilt es, das richtige Format zu treffen: „Mein Ziel war es, die Leute irgendwie in den richtigen Vibe zu versetzen, sie bis zu einer gewissen Temperatur aufzuwärmen – aber natürlich nicht zu sehr! Ich glaube, das hat gut funktioniert. Ich habe die besondere Situation produktiv genutzt: Beispielsweise habe ich Stücke gespielt, die ich in meinen DJ-Sets in Clubs nicht spielen würde. Natürlich waren auch Sachen von Modeselektor dabei. Dieses kleine Augenzwinkern hat das Publikum immer sofort gemerkt und mich das mit glücklichen Reaktionen wissen lassen.”
„Ich muss ungefähr sechs Jahre alt gewesen sein, als ich mit meiner Mutter im Supermarkt war und sie darum bat, mir eine Platte mit Techno-Musik aus den Neunzigern zu kaufen.”
Sylvere
Aber wer ist eigentlich dieser Sylvere, der anscheinend nicht nur bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat, sondern auch bei den Granden von Modeselektor, sodass sie ihm die Vorbühne und CDJs überließen?
Steigen wir, um diese Frage zu ergründen, ein wenig früher ein. Sylvere ist ganze sechs Jahre alt, als er in einem Pariser Supermarkt seine Mutter darum bittet, ihm die erste eigene Schallplatte zu kaufen: eine Compilation mit Techno-Tracks aus den Neunzigern. Mit 14 schafft er sich seinen ersten eigenen schäbigen Plattenspieler an – im Fehlglauben, auf ihm nicht nur Musik hören, sondern sie auch produzieren zu können. Den Schock überwunden, beginnt er, sich das Produzieren beizubringen, alleine als Teenager im Zimmer der Elternwohnung. Neben Techno, das hebt Sylvere hervor, ist er musikalisch mit Shoegaze, Pop-Rock und Hip-Hop aufgewachsen.
Und eine weitere Prägung ist elementar: Sein Vater stammt von den französischsprachigen Karibischen Inseln. Immer wieder, schon in der Jugend, besucht Sylvere jene Welt, lernt die Menschen, die Kultur und vor allem die Musik kennen. Eine Musik mit andersartiger Rhythmik, die sich vom eurozentrischen Four-To-The-Floor abhebt. Riddim, Ghetto-Bass und Dancehall dröhnen durch die apokalyptisch anmutenden Tieftöner der Clubs und prägen Sylveres ästhetische Wahrnehmung bis ins Mark hinein. Er erklärt hierzu: „Natürlich ist die Musik dort sehr wichtig. Sie ist unglaublich vibey und groovy. Auch mit ihr bin ich groß geworden.”
„Im Grunde ist meine Musik gleichermaßen Club- und Techno-Musik – aber stark von karibischem Dancehall und Riddim inspiriert und beeinflusst.”
Sylvere
Als Teenager beginnt Letellier, Techno nicht nur zu hören, sondern in der Pariser Szene auszugehen und schließlich als DJ aufzulegen – auch diese, nun im Clubkontext erlebten musikalischen Eindrücke saugt er auf wie ein Schwamm.
Um 2012 ist sein Produktionsniveau so weit gegoren, dass erste Remix-Arbeiten und Kollaborationen entstehen und veröffentlicht werden. Zwar ist bereits eine Unmenge an Inspirationen und Prägungen vorhanden, dennoch steht Sylvere in dieser Zeit noch am Anfang damit, seinen eigenen Stil zu finden.
Es folgt ein zwei Jahre währender Lebensabschnitt in London Mitte der Zehnerjahre. Dort habe es ihm gefallen, sagt Sylvere, und hebt einen besonderen Moment britischer Kultur hervor: „Ich habe die Stadt als gutes Beispiel für kulturelle Integration und das Kulminieren und Verschmelzen unterschiedlichster Musik wie UK-Funk, Grime und so weiter wahrgenommen. Diese Mischung mochte ich.”
Letellier sozialisiert sich also in einer weiteren europäischen Metropole des Multikulturalismus – erst recht in musikalischer Hinsicht. Spätestens in London sind es Breakbeat und Electro, die in Sylveres musikalischem Schaffen einen zusätzlichen zentralen Platz einnehmen. Seine ersten Veröffentlichungen erscheinen auf britischen Labels wie Sans Absence oder Trax Couture.
Auch gibt es während der London-Zeit ein Boiler-Room-Stelldichein, das allerdings in Paris stattfindet. Sein vor Kraft strotzender Auflege-Stil, der schon allein durch die beeindruckende körperliche Statur miterzeugt wird, ist zu diesem Zeitpunkt bereits unüberseh- und hörbar. Angekommen – musikalisch – ist er noch immer nicht. Er kehrt nach Paris zurück, legt weiterhin vor allem viel in Clubs und auf Festivals auf, 2019 hat er einen weiteren Boiler-Room-Auftritt.
Wohnort: Paris.
Seit wann am Produzieren: Ernst wurde es mit meiner ersten Veröffentlichung im Jahr 2014.
Dein erster richtiger Gig: Ein Showcase 2010 in Paris.
Was auf deinem Hospitality Rider nicht fehlen darf: Wodka ¯\_(ツ)_/¯
Diesen Track höre ich in letzter Zeit gerne: Fracture – First Aid Kit.
Dann kommt es zu einer unerwarteten Wendung. Die Corona-Lockdown-Phasen zwingen den Umtriebigen, der selbst nach wie vor das Ausgehen liebt, zur Ruhe. Ein Gefängnis, das sich als Befreiung herausstellen soll. Denn im Lockdown erlebt Sylvere seine bis heute produktivste Phase. Wie in Teenagertagen zieht er sich – gezwungenermaßen, wie wir alle – in seine Wohnung zurück. Er steht jeden Tag sehr früh auf, sprudelt vor Ideen, die ins Werk gesetzt werden müssen, keine Zeit für Schlaf. Aber er ist nicht nur produktiv wie nie, auch entsteht endlich eine Signatur, etwas Unverwechselbares in dieser Zeit der hermetischen Abriegelung. Sylvere findet seinen Sound. „Es war diese Phase, in der ich Zeit und vor allem Konzentration hatte, um die Musik zu machen, die ich wirklich machen wollte und will”, erklärt er.
Sympathischerweise – passend zu seinem generellen Auftreten – ist Sylvere selbst das noch gar nicht unbedingt klar. Nachdem einige Tracks produziert sind, entscheidet er sich – weitestgehend unbedacht und ohne eine Release-Intention im Hinterkopf – einem alten Freund, dessen Meinung er vertraut, ein paar dieser Produktionen zu schicken. Jener Freund ist Mitglied von TTC. Die französische Rap-Electro-Gruppe hatte in den Nullerjahren an Modeselektors ersten Alben mitproduziert, eine der damaligen Kollaborationen ist der Track „2000007”.
Sylvere erzählt – und grinst und lacht dabei. „Er hat sich meine Musik angehört, gefühlt 15 Minuten später angerufen und gesagt: ‚Ich muss das unbedingt Modeselektor schicken’. Da dachte ich nur, ‚Ooh, okay, das ist toll – aber eigentlich wollte ich nur ein Feedback!’”
Was folgt, ist Geschichte. Sein Kumpel leitet das Material auf direktem Wege an Modeselektor weiter. Sylvere, selbst natürlich seit Jahren großer Fan des Produzenten-Duos und ihres Labels Monkeytown, wäre, nach eigener Aussage, im Traum nicht darauf gekommen, Material in Richtung Berlin zu schicken: „Ein bisschen nach dem Motto: ‚Das wird doch eh niemals klappen’”. Und er erzählt weiter: „Zwei Tage später rief er mich zurück und sagte: ‚Die mögen deine Musik wirklich, kannst du mehr schicken?’” Nach ersten Bildschirm-Treffen zwischen Paris und Berlin wird Letellier in die deutsche Hauptstadt eingeladen. Und schließlich nimmt Monkeytown Sylvere 2021 unter Vertrag.
2021 erscheint eine erste EP unter dem Namen EP1, gefolgt von der EP2 2022. Darauf zu hören sind Titel wie „Because” oder „Twenty Four Seven”, die, sublim produziert, sowohl Referenzen aus allen bisher besprochenen musikalischen Spielarten erkennen lassen, als auch eine unüberhörbare Kohärenz mit dem Monkeytown-Sound aufweisen.
Wenn die aufoktroyierte Selbstisolation im Lockdown eine einschneidende – und genauso notwendige – Episode war, dann war die Zusammenkunft mit Monkeytown der wichtigste Schritt in Sylveres bisherigem Werdegang. Über das Label, das aus guten Gründen ein besonderes Renommee besitzt und eine große Strahlkraft hat, und die neue Situation sagt Sylvere in begeistertem Ton: „Bei Monkeytown fühle ich mich superfrei. Ich kann das tun, was ich will. Gleichzeitig fühle ich mich auch geschützt. Früher habe ich alles selbst gemacht. Jetzt habe ich beispielsweise zwei Agent:innen, die sich um alles kümmern: Bookings, Zoom-Meetings und so weiter, das ist total verrückt. Das alles ist also ein großer Schritt, und ich fühle mich gut in diesem neuen Leben.”
Und um an dieser Stelle wieder zum Anfang zurückzukommen: Es wird die Zeit der Veröffentlichung der zweiten EP gewesen sein, als ich Sylvere – ahnungslos, die Line-ups bleiben bis zur Party geheim – im Kontext der Monkeytown-Labelnacht zum ersten Mal spielen hörte.
„Ich gebe mir immer Mühe, die Menge im Blick zu behalten und mich nicht zu sehr auf die CDJs zu konzentrieren. Das ist schwer, aber manchmal gelingt es mir, und dann sehe ich eigentlich fast immer glückliche Gesichter.”
Sylvere
Denn dieser Aspekt – das Auflegen selbst – ist die andere Seite dieses Musikers, die neben seinen Produktionen Staunen macht. Sylvere legt mit CDJs auf. Seine Statur – er ist durchtrainiert und mindestens 1,90 Meter groß – strahlt etwas zugleich Einschüchterndes und Beschützendes aus. Von diesem Menschen geht trotz einer beeindruckenden kraftvollen Aura nichts Bedrohliches aus, im Gegenteil: Hinter dem DJ-Pult stehend, die Kopfhörer halb schräg über die Cap tragend elektrisiert Sylvere unmittelbar durch eine ungeheure Intensität und Selbstsicherheit.
Auf diesen persönlichen Eindruck hingewiesen, erklärt Sylvere: „Genauso eine Wirkung möchte ich mit meinen Sets erzeugen. Ich mag es, wenn es druck- und kraftvoll ist, wenn es roh ist. Ich möchte in meinen Sets auch eine Art von Geschichte erzählen, sagen wir zum Beispiel, indem ich vibey beginne und in der Mitte des Sets plötzlich Vollgas gebe, dass es die Leute aus den Puschen haut. Es stimmt, dass meine Sets insgesamt sehr intensiv sind, so soll es auch sein. Trotzdem – dass es in erster Linie vibey bleibt, ist mir am Ende am wichtigsten.”
„Ich muss alle Tracks von Anfang bis Ende kennen, um nicht überrascht zu werden.”
Sylvere
Einen Grund, warum man spürt, es über seine eigenen Produktionen hinaus mit einer ausgefeilteren Idee zu tun zu haben, liefert Sylvere gegen Ende des Interviews. Auf meinen Eindruck angesprochen, dass sein Auflegen – als zu beherrschende Technik begriffen – so erschlagend on point daherkommt, gerade im Hinblick auf die Tatsache, dass er es in seinem Sound-Universum mit einer Unzahl unterschiedlich schneller Geschwindigkeiten zu tun hat, gesteht Sylvere, etwas geschmeichelt: „Freut mich, dass du das bemerkt hast. Du hast recht. Das, was ich spiele, ist tatsächlich nicht einfach aufzulegen. Deshalb verbringe ich viele Stunden mit der Vorbereitung von DJ-Sets, um zu sehen, was funktioniert und was nicht. Einige besonders komplizierte Stücke zu spielen, ist dann fast schon eine Challenge, die mir Spaß macht.”
Dem DJ und Produzenten Sylvere gelingt es, innerhalb des Breakbeat-, Ghetto-Bass-, Dancehall- und Techno-Universums – dem ja, genau wie dem Modeselektor-Sound, immer auch eine tonale Aggressivität innewohnt – nuanciert zu sein. Das Intensive, das den Sound im Kern trägt, immer wieder zu brechen, das Rohe zu sublimieren, in Schönheit aufgehen zu lassen und damit einen Anspruch zu transportieren, der weit über das gemeine „The harder the better”-Appeal der harten Gangarten elektronischer Musik hinausgeht. Vielleicht ist es das, was mich – und möglicherweise auch Modeselektor – an Sylveres Auftreten und seiner Musik so sehr beeindruckt.