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Jacob Kirkegaard: Stille existiert nur in unserer Vorstellung

Beim großen MaerzMusik-Finale macht Jacob Kirkegaard am Sonntag, dem 26 März, das Unhörbare hörbar. Seine Performance Labyrinthitis im Haus der Berliner Festspiele lädt ein, sich selbst beim Hören zuzuhören, und stellt so das Hören als passiven Prozess in Frage.

Hört man radioaktive Verstrahlung in Tschernobyl? Wie klingt schmelzendes Eis in der Arktis? Und hat die palästinensische Grenzmauer selbst eine Stimme? Jacob Kirkegaard verschlug es in den letzten Jahrzehnten in die weite Welt, um sich diesen Fragen zu widmen. Mit seinen Werken gibt er Einblicke in geheime Geräuschwelten, denen wir im Alltag oft keine Beachtung schenken. Nun kommt der Künstler nach Berlin und befasst sich mit seiner Performance Labyrinthitis beim MaerzMusik 2023 mit otoakustischen Emissionen. Dabei handelt es sich um aktive, akustische Aussendungen des Innenohrs entgegen der Richtung der Schallwahrnehmung der empfangenen akustischen Information.

Kirkegaard erklärt in unserem Interview zu Labyrinthitis: „Dieses Werk stellt die Vorstellung vom Hörer als Empfänger und vom Klang als Geber in Frage. Es geht in beide Richtungen. In Labyrinthitis hören Sie meine otoakustischen Emissionen, die aus den Lautsprechern kommen. Wenn Sie meinen Ohrtönen lauschen, werden Ihre eigenen hervorgerufen. Ihre Ohren fangen an, als Antwort akustische Töne zu produzieren. Und Sie können Ihre eigenen Töne hören, während sie produziert werden. Sie hören die Mechanik des Hörens. Du hörst dich selbst hören.”

Schließlich konstituiert die Performance am eine Art Spirale des Hörens, die schon fast der Hörschnecke des Ohres selbst gleicht. Das Publikum hört sich selbst beim Hören zu.

Wir haben uns mit dem dänischen Künstler über das Hören als politische Praxis, Stille als imaginäres Konzept und die Rolle von Technik zum Erschließen neuer Klangwelten unterhalten.

GROOVE: Als Künstler beschäftigen Sie sich mit komplexen akustischen Phänomenen, denen wir im Alltag oft keine Beachtung schenken. Wie kam es zu dieser Faszination, verborgene Klänge wahrnehmbar zu machen? Gab es ein Schlüsselerlebnis, das Ihre eigene Praxis des aktiven Hörens motivierte?

Jacob Kirkegaard: Ich glaube, alles begann in meiner Kindheit. Mein Vater hatte ein altes Kurzwellenradio, von dem ich fasziniert war. Ich habe eine ganz konkrete Erinnerung. Es war spät in der Nacht, draußen war es dunkel. Die Lichter in meinem Zimmer waren aus. Das einzige Licht schien aus dem grünen Frequenzband des Radios. Mein Vater hatte mir gesagt, ich solle ganz langsam durchspulen. Ich erinnere mich, dass ich all diese fernen Sender hörte. Musik und Sprachen aus der weiten Welt. Aber zwischen diesen Sendern hörte ich die unglaublichsten Geräusche und Morsesignale. Ich erinnere mich, dass ich das Gefühl hatte, in diese zahllosen atmosphärischen Schichten von Geräuschen hineinzugleiten. Ich erinnere mich, dass ich dachte, es sei alles versteckt und doch alles da draußen. 

Es war definitiv eine Flucht aus der realen Welt, aber gleichzeitig auch eine Möglichkeit, mich mit ihr verbunden zu fühlen. Ich hatte das Gefühl, dass ich eine verborgene Welt entdeckt habe. Dass ich ein Geheimnis habe. 

Sie haben sich bereits mit Themen wie der radioaktiven Verstrahlung in Tschernobyl und Fukushima, dem schmelzenden Eis in der Arktis und der palästinensischen Grenze beschäftigt. Inwieweit sehen Sie Ihre Kunst und das Zuhören als solches als eine Form politischer Praxis?

Ich denke, dass Politik etwas für Politiker ist. Ich bin ein Künstler. Ich suche mir Themen aus, die ich interessant finde. Mit interessant meine ich befremdlich, beängstigend, geheimnisvoll, erschreckend oder einfach sehr komplex. Themen, für die es schwer sein kann, die richtigen Worte zu finden. Oder auf die man sich einigen kann. Oder bei denen zu viele Worte die unmittelbareren Gefühle oder Empfindungen verdecken. Diese Themen sind oft politisiert. Klimawandel, Grenzmauern, Landwirtschaft, Kriegsführung usw. Solche Themen werden in einen einfachen Disput über Ja oder Nein verwandelt. Links oder Rechts. Richtig oder falsch. Oben oder unten.

Während es wichtig ist, Stellung zu beziehen, sind wir gleichzeitig mit einer zunehmend komplexen Welt konfrontiert. Als die Nazis zum Beispiel in Dänemark einmarschierten, trugen sie Uniformen. Es war leicht, zwischen dem Bösen und dem Guten zu unterscheiden. Heute ist alles anders. Ich denke, dass Adam Curtis’ Hypernormalisation und Bitter Lake das sehr gut demonstrieren. 

Meine Art, zu dieser komplexen Welt beizutragen, besteht darin, dass ich versuche, Hörräume für solche Themen zu schaffen, in denen ich das betreffende Thema sprechen lasse, anstatt über es zu sprechen. Viele Menschen streiten sich über Grenzmauern. Also versuche ich, der Mauer selbst zuzuhören. Was hat sie zu sagen? Sie spricht offensichtlich keine Sprache, die unmittelbar Sinn macht. Und genau das ist der Punkt. Sie hat ihre eigene Stimme. Und ich glaube, dass diese Stimme ein tiefer liegendes Gefühl kanalisieren kann. Ein Gefühl, das uns helfen kann, uns zu orientieren. 

Welche Rolle spielt Technik dabei, das Unhörbare als politisches Instrument und Mittel hörbar zu machen?

Ich verwende Beschleunigungsmessgeräte oder Sensoren, um viele der angesprochenen Themen aufzuzeichnen. Der Sensor ist interessant, weil er sehr genau in etwas hineinhören kann. In den Kern der Dinge. Hinter die unmittelbare Oberfläche. Wenn ich mir zum Beispiel Abfall und Abwasser anhöre, kann ich ein intimes Porträt von etwas Befremdlichem erstellen. Die Technik ist also wichtig. Aber die Konzepte und Ideen sind genauso wichtig. Das geht Hand in Hand.

In Labyrinthitis kann das Publikum Ihnen, aber auch sich selbst zuhören. Das stellt die Vorstellung vom Hören als passivem Prozess in Frage. Was unterscheidet das aktive vom passiven Hören? 

Das ist eine interessante Frage. Ich denke, dass alles Hören – wenn wir wach sind – in gewisser Weise aktiv ist, in dem Sinne, dass wir das Gehörte auf die eine oder andere Weise verarbeiten. Wir erkennen Geräusche und ordnen sie in unsere inneren Schubladen ein. Geräusche, die wir vorher noch nicht gehört haben, werden reflektiert und ebenfalls in Schubladen gesteckt. 

Wenn es um otoakustische Emissionen geht, meine ich mit passivem Hören die Vorstellung, dass das Ohr ein Einbahnsystem ist: Schall geht rein, aber nicht raus. Empedokles stellte Theorien über das Auge auf. Er meinte, dass das Sehen von Dingen bedeutet, dass das Auge auch Licht auf den Gegenstand der Betrachtung zurückstrahlt oder reflektiert. Als ich von otoakustischen Emissionen hörte und davon, dass das Ohr tatsächlich akustische Töne aussenden kann, sowohl spontan als auch hervorgerufen durch andere Töne, musste ich an Empedokles denken. Die Vorstellung, dass das Ohr als Reaktion auf das Hören von Geräuschen Töne erzeugen kann, hat mich sehr fasziniert. Das machte absolut Sinn. 

Wenn unsere Ohren selbst Töne erzeugen, gibt es dann so etwas wie Stille?

Ich glaube, dass Stille ein Paradoxon ist. Sie existiert nur, wenn man sich in einem unbewussten Zustand befindet. Wenn du schläfst oder tot bist. Aber wenn du schläfst oder tot bist, hörst du nicht zu, du erlebst die Stille nicht. Sobald du bei Bewusstsein bist, hörst du etwas. Stille ist gleich Null. Natürlich, die Ägypter haben die Null erfunden. Wir können die Stille verstehen, wir können sie uns vorstellen. Und auf diese Weise existiert sie. Als imaginärer Raum. 

Labyrinthitis schafft einen diskursiven Raum, in dem Technologie und Körper nicht als dichotome Gegensätze betrachtet werden. Inwieweit macht es sich Labyrinthitis zur Aufgabe, die Beziehungen zwischen Technologie, Natur und Körper zu hinterfragen und neu zu definieren? 

Das ist eine große Frage. Wenn ich Labyrinthitis präsentiere und danach mit Menschen spreche, gibt es so viele verschiedene Reaktionen. Was hören wir? Hören wir uns selbst hören? Wenn wir die Töne unseres Ohrs hören, kann das Ohr dann sich selbst hören? Ist das nicht ein Paradoxon? Können wir uns selbst hören, wenn wir hören? 

Es stimmt zwar, dass die Technik es mir ermöglicht hat, die tatsächlichen Töne, die das Ohr aussendet, akustisch zu erfassen, aber es ist auch möglich, otoakustische Emissionen ohne die Hilfe der Technik zu hören. Wenn auch sehr selten, hören manche Menschen sie als Tinnitus. Der Komponist Giuseppe Tartini schuf ein Stück, in dem er ähnliche Tonkombinationen verwendete wie jene, die otoakustische Emissionen hervorrufen. Tartini ist für den Tartini-Ton bekannt. Ohne sich dessen bewusst zu sein, waren das, was Tartini in den Ohren seiner Zuhörer hervorrief, tatsächlich otoakustische Emissionen.

Kann man Labyrinthitis als Deep-Listening-Projekt bezeichnen? Und wenn ja, was verstehen Sie darunter?

Ich meine, dass das Konzept des Deep Listening von Pauline Oliveros definiert wurde. Ich kann nicht sagen, ob es unter ihre Kategorie fällt. Aber ja, dem eigenen Gehör zu lauschen bedeutet, nach innen zu hören. Und das ist an sich schon eine Art des Deep Listenings. Aber es ist mehr als nur tiefes Zuhören. Dieses Werk stellt die Vorstellung vom Hörer als Empfänger und vom Klang als Geber in Frage. Es geht in beide Richtungen. In Labyrinthitis hören Sie meine otoakustischen Emissionen, die aus den Lautsprechern kommen. Wenn Sie meinen Ohrtönen lauschen, werden Ihre eigenen hervorgerufen. Ihre Ohren fangen an, als Antwort akustische Töne zu produzieren. Und Sie können Ihre eigenen Töne hören, während sie produziert werden. Sie hören die Mechanik des Hörens. Du hörst dich selbst hören.

Das MaerzMusik-Abschlusskonzert beginnt am 26. März um 19 Uhr im Haus der Berliner Festspiele. Das vollständige Programm steht hier.

GROOVE präsentiert: MaerzMusik 2023

17. bis 26. März 2023
Tickets: Preise von den Veranstaltungen abhängig

Haus der Berliner Festspiele und weitere Standorte

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