Toshiya Kawasaki (Screenshot: Boiler Room)
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Er stolperte durch James Dean in die Modewelt und führte eines der wichtigsten Houselabels der Welt – Toshiya Kawasaki ist Chef von Mule Musiq und einer der Ersten, die den Kölner Kompakt-Sound nach Japan brachten. Über die Jahre gründete Kawasaki mehrere Sublabels. Inzwischen veröffentlicht er über Studio Mule auch experimentelle Musik zwischen Folk und Fusion. Warum er die Mode hinter sich ließ, wieso er Michael Mayer von Kompakt durch Zufall fotografierte und weshalb er keine Musik mehr von DJ Sprinkles veröffentlicht, erklärt Toshiya Kawasaki im Gespräch mit Chefredakteur Alexis Waltz.
Mit Mule Musiq und seinen Sub-Labels hast du minimalistischen House und Techno, aber auch EPs von Lydia Lunch veröffentlicht. Jetzt führst du Studio Mule, das sich auf europäische und amerikanische Künstler:innen konzentriert. Wie bist du an diesen Punkt gekommen?
Toshiya Kawasaki: Ich habe nie viel über die Musik nachgedacht, sondern das veröffentlicht, was ich liebe. Das hat sich über die Jahre immer wieder verändert, es ist ein Prozess. Bei Studio Mule ist es anders. Ich krame alte Platten aus meiner Sammlung und höre sie nach langer Zeit wieder. Gefällt mir, was ich höre, kümmere ich mich um die Lizenz, um die Platte neu zu veröffentlichen. Beide Ansätze verbindet, dass ich mich nie auf ein Genre spezialisiert habe. Von Hip Hop über Techno bis Jazz habe ich bisher alles gemacht.
Wie entdeckst du die Musik, die du neu auflegst?
Es ist Musik, die ich als Teenager gehört habe – alter japanischer Jazz, der in Japan aber auch international wieder an Popularität gewinnt. Vor 20 Jahren war das anders. Man konnte diese Platten für 500 Yen, also ein paar Euro, kaufen. Heute sind manche davon bis zu 100 Euro wert! Weil ich damals viel gekauft habe, kann ich für Studio Mule in die Zukunft planen. Um jene Platten neu zu veröffentlichen, die wieder in die Zeit passen.
Wie hast du diese Musik damals, in deiner Jugend, entdeckt?
Ich hab viel Radio gehört, Sender wie The Jet Stream, die mit Jazz-Fusion ein Gefühl der Nacht vermittelt haben. Später habe ich jazzigen Rock entdeckt. Clubmusik hat mich dagegen wenig interessiert. Trotzdem bin ich gerne in Clubs gegangen – nicht für die Musik, sondern wegen der Mädchen. Und wegen der Mode, die fand ich interessant!
Was hat dich an Mode interessiert?
Als ich in der fünften Klasse war, habe ich eine Levi’s-Werbung für die 501 gesehen – James Dean lächelte in Blue Jeans von einem Poster. Ich wusste: Das ist es!
Eine Zeitlang bin ich auf den eleganten Pariser Stil abgefahren. Dann hab ich gemerkt: Das ist fürs schnelle Hinschauen ganz nett, aber nicht detailliert ausgearbeitet!
Warum?
Na ja, schau dir James Dean an! Außerdem war die Werbung ganz einfach gemacht. Ihre Nicht-Normativität hat mich angesprochen, weil man nicht sagen konnte, warum das Werbung ist. Das war ein Aha-Moment. Bis zu diesem Zeitpunkt bin ich in Jogging-Klamotten von Nike rumgelaufen, danach hab ich mich für Mode begeistert. Bald hatte ich Freunde, die sich in dieser Szene bewegten.
Was hat dich davor beschäftigt?
Davor war ich ein anderer Mensch. Ich komme aus einer Lehrerfamilie, mein Vater war als Tennisspieler doppelt diszipliniert. Dieselbe Disziplin verlangte er von mir. Vor dem Schlafengehen musste ich meine Bauchmuskeln trainieren. Meine Mutter hat außerdem spätabends überprüft, ob ich für die Schule lerne. Ich ging auf eine private Oberschule – mit vielen reichen Kindern. Manche von ihnen waren meine Freunde, ich bin mit ihnen ausgegangen oder habe Basketball gespielt. Das war lange Zeit mein Leben.
Du stammst aus Osaka.
Ich bin südwestlich von Osaka in der Präfektur Tokushima aufgewachsen. Mit dem Auto brauchte man drei Stunden in die Stadt.
Wie konntest du da deinem Interesse an Mode nachgehen?
Am Abend bin in die Clubs gegangen, untertags blätterte ich durch Modemagazine wie die Vogue. Mit ihren Hochglanz-Covern waren das damals eyecatcher! Mir gefiel der visuelle Aspekt. Deshalb lege ich heute großen Wert auf die Cover meiner Neuveröffentlichungen.
Wie hast du das Nachtleben in dieser Zeit in Erinnerung?
Es gab nur drei Clubs. Einer spielte Disco, in einem größeren Club lief, was gerade im Trend war. Und im kleinsten Club hörte ich Musik aus dem Underground.
Warum bist du später nach Osaka gezogen?
Um irgendwas mit Wirtschaft zu studieren, aber ich bin nur dreimal zur Uni gegangen. Zu der Zeit hab ich schon in Modeläden gearbeitet. Ich musste arbeiten, um mir die Klamotten zu finanzieren, die ich haben wollte.
Was für Mode hat dich interessiert?
Anfangs war es Mode aus den USA – lässig, Vintage, die Levi’s-Schiene. Später begann ich, mich für französische Mode zu interessieren. Eine Zeitlang bin ich auf den eleganten Pariser Stil abgefahren. Dann hab ich gemerkt: Das ist fürs schnelle Hinschauen ganz nett, aber nicht detailliert ausgearbeitet! Als ich die italienische Mode entdeckte, lernte ich das wahre Handwerk kennen. Dabei ist es geblieben. Es muss einfach sein, aber immer schick!
Ich nahm vieles auf und filterte daraus ein neues Feeling.
Ich habe gelesen, dass du für europäische Modelabels gearbeitet hast. Wie bist du dazu gekommen?
Das war eine kleine Firma, die in Paris ihren Hauptsitz hatte, aber im Tokioter Modeviertel Harajuku einen Laden eröffnete. Es gab Vintage-Arbeiterjacken und weiße Hemden mit Stickereien, Vintage-Burberry-Mäntel oder Taschen von Hermès. Am Anfang lief das gar nicht. Ich verdiente weniger als 100 Euro und wusste nicht, wie ich über die Runden kommen sollte. Dann wurden Redakteure von Modemagazinen auf den Laden aufmerksam. Plötzlich wollten alle dort einkaufen. Neue Läden machten auf, in einem wollte man neben Mode auch Platten verkaufen. Die Besitzer fragten mich: „Du kennst dich doch mit Musik aus, willst du nicht unser Einkäufer für CDs und Platten werden?” Zu Beginn war ich skeptisch, schließlich wollte ich Mode verkaufen. Außerdem wurden einem CDs ohnehin überall nachgeworfen. Über einen DJ-Freund hab ich aber Leute in der Musik-Distribution kennengelernt. Auf einmal hatte ich Zugang zu House und Hip Hop, bekam Sachen von Ryūichi Sakamoto. Das war eine andere Welt.
In den Neunzigern kamen Techno und House auch in Japan an. Wie hast du diese Zeit erlebt?
In Tokio fand alles gleichzeitig statt, es gab keine klare Richtung wie zum Beispiel in Detroit oder New York. Trotzdem entwickelten sich Tendenzen. In Clubs wie dem Yellow oder Blue liefen House und Acid-Jazz. Ich fand beides faszinierend, bin am nächsten Tag in die Plattenläden marschiert und habe mir die Platten angehört. Außerdem fing ich an, Musikmagazine zu kaufen, weil ich darin die DJ-Charts meiner Lieblings-DJs checken konnte. Und: Manche Leute verkauften auf der Straße Kassetten, die sie mit Radiosendungen aus London bespielt hatten.
Welche Radiosendungen waren das?
Die von Gilles Peterson und Tony Humphries. Ich habe diese Kassetten für umgerechnet zehn Euro gekauft. Schließlich musste ich wissen, was als Nächstes angesagt sein würde. Auch das trug dazu bei, dass es in Tokio ein Mischmasch aus Stilen gab, aber im guten Sinne! Vieles davon nahm ich in mir auf und filterte daraus ein neues Feeling.
Eines, das du im Einkauf für die Lifestyle-Boutique geschult hast, nehme ich an.
Ja, ich war für Mode und Musik zuständig. Der Laden lief gut. Man eröffnete sogar einen Neuen in Paris. Zur Eröffnung wollten die Besitzer allen Besuchern ein Willkommensgeschenk machen. Ich sollte mich darum kümmern und schlug ihnen eine CD als Soundtrack der Boutique vor. Etwas, das man im Hintergrund hören kann, ungefähr eine Stunde lang. Ich fragte meine Musikerfreunde, ob sie Tracks beisteuern können. Daraufhin stellte ich meine erste Compilation zusammen – für die Modeboutique!
Ich hörte darauf House, aber keinen britischen oder amerikanischen, sondern mit eigener Note – ein echter Aha-Moment!
Wie ging es danach weiter?
Die CD kam gut an. Das haben auch andere Läden gemerkt. Sie wollten meine Expertise. Also hab ich heimlich für sie als Buyer gearbeitet, bis ein Lifestyle-Laden aus Kyoto an mich herantrat. Sie wollten, dass ich für sie cutting-edge-Musik einkaufe, nur auf CD, nicht auf Vinyl. Das hab ich zwei Jahre gemacht. In der Zeit hatte ich so viel Arbeit, dass ich manchmal kaum zum Schlafen kam. Nachdem ich dort gekündigt hatte, begann ich als freiberuflicher Buyer zu arbeiten. In Kyoto war es aber schwierig, Leute für meine Art von Musik zu begeistern. Plötzlich stand ich ohne Arbeit da. Das war nicht einfach, schließlich habe ich in den Läden immer gut verdient. Ich konnte mir für mehrere 1000 Euro im Monat Platten kaufen, hatte keine Sorgen. Über den Deal mit einer Musikfirma, für die ich Pressetexte für Songs schrieb, kam ich an eine besondere CD. Es war ein Mix von Michael Mayer von Kompakt. Ich hörte darauf House, aber keinen britischen oder amerikanischen, sondern mit eigener Note – ein echter Aha-Moment! Man muss sich vorstellen: In Japan war dieser Sound nicht bekannt. Weil ich davor schon Partys veranstaltet hatte, kam ich mit der Idee, Michael Mayer einzuladen.
Wann war das?
2000. Über Nacht wurde ich zum Booker für alle Künstler:innen von Kompakt. Ich habe sie eingeladen und wir sind durch Japan getourt. Auf dieser Tour kamen immer wieder junge Künstler:innen auf mich zu, die mir ihre Demo-Tapes zusteckten – wirklich gute Sachen waren das! Ich habe überlegt, ob ich ein Label gründen soll. Zu der Zeit verkauften sich CDs aber immer schlechter. Viele japanische Labels gingen pleite. Trotzdem wollte ich was mit Musik machen, aber nicht nur für den japanischen Markt. Also habe ich bei Kompakt angefragt, ob sie die Distribution übernehmen könnten.
Die Musik wurde wichtiger als die Mode.
Dazu erzähl’ ich dir eine Geschichte: Mit 21 flog ich für eine Modemesse nach Köln. Am Eingang dieser Messe legte ein blasser, dünner, aber gut gekleideter Typ auf. Ich kann mich genau an ihn erinnern, weil die Musik, die er spielte, so neu für mich war. Ich machte auch ein Foto von ihm. Später, als ich Michael Mayer kennengelernt hatte, erzählte ich ihm diese Geschichte. Er fragte, ob er das Foto sehen könnte – es war tatsächlich er! Michael interessierte sich schon damals für Mode. Er wollte nicht nur auflegen, sondern auch schick angezogen sein. Beides schloss sich auch für mich nie aus. Trotzdem hatte ich Anfang der 2000er genug von der Modeindustrie. Außerdem wurde ich ohnehin öfter als Einkäufer für Musik angefragt.
Wäre Mule ein Modelabel, welches wäre es?
Ich würde mir wünschen, es entspräche der Ästhetik von Martin Margiela, der das Pariser Modelabel Maison Margiela gründete.
Ich führe mein Musiklabel wie ein Modelabel, anders als jemand, der nur aus der Musik kommt.
Der DJ und Produzent Kuniyuki Takahashi ist eine wichtige Person für dich und Mule Musiq. Wie hast du ihn kennengelernt?
Vor über 20 Jahren hat er einen jazzigen Remix von Ananda Projects „Cascades of Colour” gemacht. Eigentlich war der nur für seine Freundin gedacht, aber aus irgendeinem Grund zog der Track seine Kreise – bis er bei mir landete. Für mich hatte seine Produktion ein anderes Niveau als die japanische Musik, die ich bis dahin gehört hatte. Also lud ich Kuniyuki zur Eröffnung meines Ladens in Kyoto ein. Daraufhin habe ich ihm versprochen, dass ich irgendwann ein Label haben und seine Musik veröffentlichen werde. Man muss dazusagen: Kuniyuki war damals schon ein gefragter Musiker. Ein großes Label aus Japan hat ihm viel Geld angeboten. Er hat trotzdem abgelehnt, weil er die Beziehung zu Menschen schätzt – so sind wir zusammengekommen.
Du hast verschiedene Labels betrieben. Zuerst gab es Mule Musiq Distribution und Mule Electronic, später Endless Flight und I’m Starting To Feel Ok und inzwischen Studio Mule. Wieso so viele?
Ich kann mich nicht auf eine Sache fokussieren, bin leicht gelangweilt und möchte ständig Vielfalt abbilden. Mule Musiq war House, mein Interesse aber viel breiter aufgestellt. Also gründete ich weitere Labels – so wie man in der Mode eine Hauptlinie entwirft, daneben aber auch Second Labels existieren. Das ermöglichte mir, mehr Musik in kürzeren Abständen zu veröffentlichen. Manchmal sind es Platten, von denen ich weiß, dass sie sich nicht so gut verkaufen werden. Mein Geschmack deckt sich nicht immer mit dem Mainstream, er bildet vielmehr eine Bandbreite ab. Das ist mir wichtig.
Das Designkonzept, die Cover und die Künstler:innen mit denen du arbeitest, wie wirken sie zusammen?
Ich führe mein Musiklabel wie ein Modelabel, anders als jemand, der nur aus der Musik kommt. Das Gesamte muss zusammenpassen. Als ich damals Mule gründete, suchte ich in Tokio nach Designern. Ich fand niemanden, dessen Ansatz mich ansprach. Dann bekam ich eine Platte von Playhouse in die Hand, mit einem unorthodoxen Cover von Stefan Marx.
Welche Platte war das?
We Are Monster von Isolée. Über einen Freund konnte ich Kontakt zu Stefan aufnehmen. Seitdem macht er die Cover für Mule Musiq.
Meine letzte Frage: Wie hast du Terre Thaemlitz alias DJ Sprinkles kennengelernt?
Ich war ein Fan von ihrem Label Comatonse Recordings. Also bin ich zu einer ihrer Partys gegangen und habe ihr gesagt: „Ich mache auch ein Label, hier sind ein paar CDs, hör’ die doch mal an.” Das fand sie gut, hatte allerdings keine Kapazitäten, etwas Neues zu machen. Deshalb haben wir eine Compilation ihrer fertigen Tracks geplant. Damals steuerte die Minimal-Phase auf ihren Höhepunkt zu. Terre produzierte dagegen melodische, melancholische Musik. Trotzdem wollten wir es probieren. Schließlich war klar, dass das Pendel zurückschwingen und es zu einem Deep-House-Revival kommen würde. Ein paar Monate später brachten wir Midtown 120 Blues raus – Resident Advisor machte es zum Album des Jahres. Es erschienen Singles, eine Remix-Compilation und eine Mix-CD. Alles verkaufte sich gut. Irgendwann kam das Thema Geld auf und es gab Probleme. Heute arbeiten wir nicht mehr zusammen. Trotzdem schätze ich sie als Künstlerin.