Das Upperground Orchestra mit Rabih Beaini an den Keyboards, Piero Bittolo Bon an verschiedenen Blasinstrumenten, Alvise Seggi am Bass und Dudù Kouate und Daniele De Santis an Drums und Percussions (Foto: Sajeta)
Es ist eine Art künstlerisches Basecamp, auf dem alles möglich scheint, co-kuratiert von Morphine-Macher Rabih Beaini. Eine Bassdrum, die mittels Luftkompression mit Tierfellen erzeugt wird wird. Ein emotional aufwühlendes Set mit Melodien und Bässen, das allein an einem iranischen Hackbrett gespielt wird. GROOVE-Autor Moritz Hoffmann berichtet von den Kiesbänken des eisigen Gebirgsbachs Soča von einem Festival, das ohne Timetable und funktionierendes Cashless auskommt. Wie es ist, sich in mysteriöse, unergründliche Klagelieder und Gefühlskleckse zu versenken, die entstehen, wenn altertümliche Volksmusik auf freie, moderne Improvisation trifft? Dass er dann auch noch in das erste richtige Rave-Erlebnis seit Pandemiebeginn geworfen wird, gehört zu den dialektischen Schlenkern, die auch erprobte Festivalgänger*innen staunen lassen.
Folgt man dem Fluss Tolminka in Richtung Süden, die slowenischen Alpen hinab, vorbei an den felsigen Klammen ins flachere Land um Tolmin, erreicht man ungefähr einen Kilometer südlich der kleinen Stadt die Stelle, an der der Gebirgsfluss in die Soča mündet (auf slowenisch: Sotočje). Zwischen weiten Kiesbänken verbindet sich dort das eisig-klare Wasser der Tolminka mit dem reinen, strahlend-türkisen Wasser der Soča. Drumherum erstrecken sich dicht bewaldete Hänge. Alpine Frische und mediterrane Schwüle fallen hier in eine sonnengedämpfte und gelassen dahinplätschernde Atmosphäre zusammen, die sich, wie der in der Dämmerung häufig über der Tolminka aufsteigende Nebel, mystisch über den Ort legt. (Die historisch blutige Vergangenheit des Soča-Tals kann an anderer Stelle nachgelesen werden.)
Bereits seit 1998 findet hier das Sajeta Festival statt. Neben einem großen Metal- und einem mittelgroßen Punkfestival ist das avantgardistisch orientierte Sajeta das älteste und zugleich kleinste der ansässigen Festivals. Klein aber nur in Sachen Besucher*innenzahl, denn inhaltlich sind die sechs Tage von Dienstag bis Sonntag ordentlich gefüllt mit genreübergreifender Musik (dieses Jahr co-kuratiert von Morphine-Labelchef Rabih Beaini alias Morphosis), Workshops, Performances, Diskussionsrunden, Filmvorführungen und mehr.
Eine Art künstlerisches Basecamp, bei dem alles möglich scheint. Offene Möglichkeiten sind auch in Sachen Organisation maßgebend: Nicht selten fühlt sich das Geschehen vor Ort improvisiert und gefreestyled an. Wo und wann ein bestimmter Act spielt, offenbart sich manchmal erst spontan. Ob ein Workshop wirklich stattfindet, ist bis zu Beginn unklar. Ob das Kassensystem an der Bar mal wieder abstürzt, zeigt sich am Tresen. Das stört hier aber ganz und gar nicht. Denn, man kann es in Zeiten des großen Festivalkapitalismus kaum glauben: der Vibe der Anfangszeit scheint sich beim Sajeta fast vollständig erhalten zu haben. Klar, die Macher*innen (und teilweise auch die Gäste) sind älter geworden und haben über die Zeit möglicherweise an Kraft eingebüßt.
Aber wenn einer der beiden Haupt-Organisator*innen am ersten Abend neben seinem Laptop sitzt, selbst eine Krautrock-Doku auf Vimeo anmacht und dieser dann mit hochinteressierter Miene folgt, spürt man einfach deutlich: das ist eine Sache von Freund*innen für Freund*innen, von Gleichgesinnten für alle. So ist das Festival von einem Geist getragen, der einerseits leidenschaftlich alternativ, beinahe aktivistisch, andererseits immerzu offen, einladend und verbindend wirkt; der authentisch und voller Herzblut ist und ohne Beihilfe von Mode und Lifestyle auskommt. Wer sich darauf einlässt und sich offen hält für ein diverses Programm und Publikum, kann hier, inmitten der wunderschönen Natur, einige extrem erholsame und inspirierende Tage verbringen.
Neben der Sotočje dient übrigens auch die Ciril-Kosmač-Bibliothek in Tolmin als Austragungsort. Dort startet das Festival am Dienstagabend mit einer Vernissage, zu der sich neben dem Kernteam nur wenige Gäste zusammenfinden. In den nächsten Tagen kommen dann immer mehr hinzu: Alte Bekannte und junge Pärchen, Urlauber*innen aus verschiedenen Ländern und Locals aus der Gegend, Alt-Hippies, Freaks, Künstler*innen, Intellektuelle, Provinzler*innen und Großstädter*innen. Dabei sorgt das von Tag zu Tag etwas anders ausgerichtete Programm auch für ein jeweils leicht verändertes Publikum. Die musikalischen Acts starten frühestens um 17 Uhr, und so kann tagsüber gewandert, gebadet (die Tolminka hat im Juli zwischen neun und zwölf Grad) oder ausgeschlafen werden.
Beim Sajeta spielt Stefan Fraunberger aber auf einem iranischen Hackbrett.
Am Mittwoch spielen vorrangig slowenische Künstler*innen aus dem poppig-elektronischen und rockigeren Bereich. Der Donnerstag ist experimentell und divers angelegt. Nach einer Diskussionsrunde zum Thema Lichtverschmutzung sorgt der italienische Shape-Artist Riccardo La Foresta für das erste Highlight: Von seiner als Drummophone betitelten Vorrichtung werden auf den Fellen von vier Schlagzeug-Bassdrums Resonanzen durch Luftkompression erzeugt. Dabei entstehen – ganz ohne elektronische Verstärkung – extrem intensive, archaisch-klirrende Drones, die La Foresta mithilfe der Stimmschrauben an den Trommelfelgen moduliert. Zu hören sind dann fein-komplexe Vierklänge, die immer wieder sehr interessante Effekte hervorbringen. Obwohl der Künstler das Drummophone bedient, scheinen die Grenzen zwischen Musiker und Zuhörer*innen zu verschwimmen, und das alles wirkt wie ein gemeinsames Suchen, Entdecken und Verweilen in den sich subtil entwickelnden Klängen.
Bei den erst 2020 gegründeten Kačis aus Slowenien bleibt die Qualität im Anschluss hoch: Das Trio präsentiert technisch hervorragende und emotional sehr ausdrucksstarke Musik, in der sich altertümliche Volksmusik mit freier moderner Improvisation verbindet. Die vielseitigen, sich in spannende und überraschende Kreuzungen und Verschmelzungen verwickelnden Stimmen paaren sich beispielsweise mit einer Laute, und es entstehen mysteriöse, unergründliche Klagelieder und Gefühlskleckse, die es schaffen, die Hörenden völlig zu versenken. (Das ist hoffentlich bald nachzuhören, denn die Drei waren am Tag nach dem Auftritt im Studio)
Dann steht plötzlich der eigentlich für halb eins angekündigte Stefan Fraunberger auf der Bühne. Einigen dürfte er durch sein sehr hörenswertes Orgel-Projekt Quellgeister bekannt sein. Beim Sajeta spielt Fraunberger aber auf einem iranischen Hackbrett. Dessen Klänge werden durch eingebaute Tonabnehmer und anschließende Effektprozessierung akzentuiert. Und das klingt richtig gut. Der Österreicher legt seine ganze Energie in das Instrument und wechselt zwischen feinen, im Release ineinander verlaufenden Melodien und vollen Bassgemengen. Der Sound driftet immer wieder ins Diffuse, doch nie so weit, dass es bloßer Brei wird. Ein emotional aufwühlendes Set. Übrigens liefert Fraunberger – neben vielen anderen Künstler*innen, die dankbar darauf hinweisen, dass es für sie das erste Konzert nach der zehrenden Corona-Pause ist – einen der schönsten Festival-Momente, als er ans Publikum gewandt sagt: „It hurts less when you are here!”
Beim poppigen Rock von Darko Rundek & Ekipa grölt das lokale Publikum jeden Song lauthals mit.
Am Ende gibt es mit Sebastian Leopold und PureH zwei Acts, die sich klanglich so unmittelbar ergänzen, das der Autor dieser Review längere Zeit davon ausgeht, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt. Leopolds riesige spiegelnde Metallplatte wird in Schwingungen versetzt, die von einem Piezomikrofon aufgenommen und dann von einem unmittelbar hinter der Platte stehenden Basslautsprecher wiedergegeben werden. Das führt zu spannenden Resonanzen und sich gegenseitig aufschwingenden, tiefen Drones.
Insgesamt liefert der Donnerstag viele spannende Überraschungen. Die diversen, meist aufmerksames Zuhören erfordernden Auftritte lassen erschöpft, aber inspiriert zurück.
Der Freitag steht unerwartet im Zeichen von poppigem Rock und fällt deutlich aus dem Rahmen. Er darf jedoch als Zugeständnis an die Locals verstanden werden. Und das funktioniert gut: Spätestens bei Darko Rundek & Ekipa grölt das lokale Publikum jeden Song lauthals mit.
Das Upperground Orchestra um Rabih Beaini heizt dem Publikum mit seinem experimentellen und freien Spiel zwischen Free Jazz, Fusion und Elektronischem ein.
Der Samstag steht am deutlichsten im Zeichen elektronischer Musik. Den Anfang machen Gordan, eigentlich ein Trio, der Schlagzeuger ist jedoch verhindert. So wird das Ganze zu einem Duett: die serbische Sängerin Svetlana Spajić und Guido Möbius an der Elektronik. Spajić variiert verschiedenste traditionelle Gesänge aus dem Balkan, die Möbius mit elektronischen Effekten, Feedbacks, und Percussions kombiniert. So entsteht ein sich ergänzendes und kontrastierendes Spiel zwischen den beiden Klangwelten, das trotz oder wegen seiner feinen Reduktion eine kraftvolle Magie verströmt.
Marta de Pascalis spielt Tracks von ihrem Album SONUS RUINAE. Es ist erstaunlich, wie sie mit so einfachen Mitteln einen so wiedererkennbaren Sound schafft. Die Ausgangsbasis sind nämlich ziemlich simple Synthesizer-Sounds, die jedoch durch komplexe, kreisende, sprudelnde Überlagerungen zu sich auftürmenden Kaskaden gestapelt werden, die immer wieder ein- und abbrechen und aufregende Tönungen entladen. Die Komplexität verhindert hier übrigens auch den Abrutsch ins Kitschige.
Weitere Highlights des Tages: Das Upperground Orchestra um Rabih Beaini heizt dem Publikum mit seinem experimentellen und freien Spiel zwischen Free Jazz, Fusion und Elektronischem ordentlich ein. Marylou spielt ein von Breaks und World-Einflüssen geprägtes und von den Zuhörer*innen stark bejubeltes Set. Die kroatische Band Nemanja führt einige Gäste mit ihrer funkig-psychedelisch-rockigen Livemusik in springende Ekstase und Joondroid sorgt zum Abschluss mit hartem Techno dafür, dass der Autor das erste richtige Rave-Erlebnis seit Pandemiebeginn hat. Dieser Tag hat’s nochmal richtig in sich und führt dazu, dass man der Abreise fast schwermütig entgegensieht. Diese steht nämlich am Sonntag an, sodass die Abschlusskonzerte leider verpasst werden.
Dieses Festival ist ein ganz besonderes, das sich seine familiäre Stimmung zum Glück bis heute erhalten konnte. Gerade deshalb ist es nicht das, was viele anderen Festivals gerne sein wollen: funktional, schnell, groß. Wer tagelang zu elektronischer Musik feiern will, wird enttäuscht. Wer dagegen vielseitig musikalisch interessiert ist und Lust darauf hat, Kunst und Natur zu verbinden, darf sich das Sajeta fürs nächste Jahr auf jeden Fall vormerken.