Jabberwocky – Feeling Dancing Tempo (Fait-Maison)
Das Electropop-Trio aus Poitiers hat bereits zwei Alben auf Polydor veröffentlicht und mit „Photomaton” dank der Verwendung in einem Automobil-Werbeclip einen viralen Hit gelandet. Der erste Eindruck: Mit Feeling Dancing Tempo schicken sich Camille Camara (Keyboards), Emmanuel Bretou (Gitarre, Bass) und Simon Pasquer (Sampling) an, das durch das Ende von Daft Punk entstandene Vakuum schnellstmöglich zu füllen. Warum auch nicht: Mit ihrer Synth-Pop-Affinität, Hi-NRG-Kompetenz und ihrem Gespür für Italo Disco, mediterranen Euro-Dance-Pop und ähnliche balearische Affären haben Jabberwocky durchaus das Potenzial dazu – keiner der acht Tracks hier ist als Ausfall zu bezeichnen.Im Gegenteil: Feeling Dancing Tempo lässt sich von vorn bis hinten als Spätsiebziger/Frühachtziger-Electronic-Disco-Dancefloor-Hit-Album durchhören, begonnen mit dem Flagschiff des Titelstücks, das derart unverfroren mit Charlies „Spacer Woman” kokettiert, dass jeder Widerstand dagegen zwecklos erscheint. Filter-(Hip-)House-Feeling dagegen in „How Much I Dance” und „Get High”, ein Hauch von Matt-Bianco-Latin-Pop in „Blues Moves” (ft. Amouë). Überall: der Geschmack von Sommerhitze, Sonnencreme und Strandnähe. Das mag der Retro-Polizei eskapistisch vorkommen, aber in der Unverschämtheit ihres Eklektizismus wirkt diese Zurschaustellung ungebrochener Sorglosigkeit überzeugend, gegenwärtig und präsent. Harry Schmidt
Joaquin Joe Claussell – Raw Tones (Rekids)
Joaquin Joe Claussell dürfte nicht mehr so vielen Leuten ein Begriff sein. Und die meisten derjenigen, die ihn noch aus den mittleren Neunzigern bis frühen Nullerjahren kennen, das war seine große Zeit als DJ und Produzent, werden ihn wohl längst aus dem Blick verloren haben. Dabei verfolgt der New Yorker mit puertoricanischen und französischen Wurzeln weiterhin seine Mission. Afrokaribische Musik und Spiritualität verbindet er mit House im Sinne der großen Studioproduktionen des einstigen Def-Mix-Productions-Teams um Frankie Knuckles, David Morales und Satoshi Tomiie. In den Neunzigerjahren war er neben François Kevorkian und Danny Krivit Mitbegründer der Clubnacht Body & Soul. Wobei – eine Nacht war diese Veranstaltung nicht: Sie begann am Sonntagnachmittag und endete um 23 Uhr. Er leitete das Label Spiritual Life Music. Heute betreibt er den Nachfolger Sacred Rhythm Music, digitalen Distributionswegen verweigert er sich. Was heute bedeutet, dass man von den allermeisten nicht wahrgenommen wird. Dass Claussell nicht gerne im Homestudio alleine am Computer sitzt, passt da ganz gut ins Bild. Rückblick ins letzte Jahr – Lockdown. Joe Claussell sucht nach Wegen, wie er unter den gegebenen Umständen weiterhin Musik machen kann. Schon immer hat er analoge Produktionstechniken und die Arbeit mit anderen Musikerinnen und Musikern bevorzugt, zuhause ein Ding der Unmöglichkeit.
Doch dann erinnert er sich an seinen Vierspur-Kassettenrekorder von Portastudio. Er wartet das Gerät, bringt es wieder in Schuss. Auf seinem Wohnzimmertisch baut er den Rest seines Aufnahmestudios auf: Einen Drum-Sequencer und Midi-Controller sowie ein Mikrofon. Außerdem hat er zuhause ein Piano stehen und wohl ein paar Perkussionsinstrumente. Der Opener des fertigen Albums, das zunächst nur auf Sacred Rhythm Music als Kassette erschienen ist, heißt den Grundvoraussetzungen dieses Projekts entsprechend „Lock Down”. Das Stück hat alles, was man von einem Joe-Claussell-Track erwartet: Von den Piano-Kaskaden bis hin zu diesem schwebenden Vibe. Der Sound wirkt so, wie es der Titel verspricht – roh und weitgehend unbearbeitet. Im Verlauf der Platte ist immer wieder seine eigene Stimme zu hören. Der New Yorker weiß, ein Sänger ist er nicht. Entsprechend sparsam setzt er seine Stimme ein, die Vocals sind dabei eher in den Hintergrund gemischt. Aufgenommen wurde das Album auf Kassette und genau so klingt es auch – was der Musik aber keinesfalls die Energie oder den Punch nimmt. Während seine Basslines sonst brillant klingen, kommen sie hier gerne mal verzerrt und sehr schmutzig daher. Raw Tones ist wirklich eines der bemerkenswertesten House-Alben seit langer Zeit. Das dachte sich auch Matt Edwards (Radio Slave). Der Engländer kontaktierte Claussell und schlug ihm vor, es auf seinem Label Rekids zu veröffentlichen. Und nun ist dieses wunderbare Album, das die Essenz von House-Musik so gut auf den Punkt bringt, auch auf Vinyl zu bekommen (oder einfach über die üblichen Kanälen streambar). Holger Klein
Kevin Richard Martin – Return to Solaris (Phantom Limb)
Über einen Mangel an Produktivität kann man bei Kevin Richard Martin kaum klagen. Schon mit seinem derzeitigen Hauptprojekt The Bug ist er äußerst rege, doch scheint er vor allem unter eigenem Namen gerade auf einen Ambient-Höhenflug hinzusteuern: Seit Siren, der ersten Platte als Kevin Richard Martin von 2019, hat er im vergangenen Jahr immerhin zehn Alben mit Ambient-Drones abgeliefert. Return to Solaris folgt jetzt als Konzeptalbum zu Ehren von Andrei Tarkowskis Science-Fiction-Klassiker Solaris von 1972. Martin schrieb – im Schatten der ihrerseits elektronischen Originalmusik des russischen Komponisten Eduard Artemjew – einen neuen Soundtrack, wobei er die Musik gezielt für einzelne Szenen gewählt haben dürfte: Gegenüber den knapp drei Stunden des Films dauert sein Beitrag gerade mal eine Stunde. Die Musik klingt wie gemacht für die schmuddelig-kaputten Raumschiff-Interieurs Tarkowskis, hat dieser doch eine Art Anti-2001-Ästhetik ohne Hochglanz vorgelegt. Ganz wie der Ambient-Ansatz Martins, bei dem die Klänge nicht wie flauschige Wolken himmelwärts aufsteigen, sondern eher an rußigen Qualm denken lassen, der aus Fabrikschloten quillt. Die Räume, die sich dabei auftun, vermitteln eine Ahnung vom Weltall als großem, lichtschluckenden Nichts. Trotz seiner stoischen Herangehensweise lässt sich Martin nicht komplett in die finsteren Stimmungen plumpsen, sondern steuert gelegentlich mit unsentimental-nostalgischen Melodie-Fragmenten gegenan. In Stanisław Lems Roman Solaris, der Vorlage für den Film, heißt es: „Gibt es das: Verantwortlichkeit für das eigene Unterbewusstsein? Wenn nicht ich dafür verantwortlich bin, wer dann?” Martin jedenfalls scheint sich in dieser Musik seinem Unbewussten zu stellen. Tim Caspar Boehme
Michal Turtle & Suso Saiz – Static Journeys (Planisphere Editorial)
Beide gelten als Pioniere der New-Age- und Ambient-Musik, beide erfuhren in den vergangenen Jahren vor allem durch (Wieder-)Veröffentlichungen auf Music From Memory eine Renaissance. Mit Static Journeys erscheint ihr Debütalbum als Producer-Duo auf dem Label Planisphere Editorial aus Basel. Erstmals zu hören waren die sechs epischen Tracks von Michal Turtle und Suso Saiz beim Performance-Event ON im dortigen Kunstmuseum, entstanden sind sie während zweier Recording-Sessions in Turtles Homestudio und in Madrid. Turtle und Saiz bewegen sich darin über eine imaginäre Landkarte, in Tracktiteln wie „Missing Papotl” oder „Returning to Brendelton” manifestiert sich ein topologischer Bezug auf diese fiktiven Städte und Orte, die „sowohl exotisch als auch banal” (Turtle) klingen sollten. Die einschlägigen Arbeiten von Jon Hassell und Brian Eno sind ungefähr äquidistante Referenzpunkte dieser Musik, die laut Turtle im Wesentlichen in Live-Situationen Gestalt angenommen hat. Die Dialoge zwischen den Gitarrenparts und der Synthesizer-Progammierung von Saiz und Turtles (Klein-)Percussion mag improvisiert sein oder nicht, intrinsische Musikalität ist ihr jedenfalls nicht abzusprechen. Obwohl die sechs Stücke (Sätze?) von Static Journeys insgesamt in einer kontemplativen Klangästhetik verfasst sind, spielt Repetition darin eine besondere und ungewöhnliche Rolle: Gerade die am meisten mit der Zeit verbundenen Elemente der Loops und ostinaten rhythmischen Patterns sichern hier die Statik, das Raumgewicht und -volumen der Tracks, während in den Sounds die Bewegung zur Überbrückung der dazu bestehenden Distanz abläuft. Oder emotional codiert: die Sehnsucht nach dem fiktiven Ort spürbar wird. Das Wissen darum, dass Harmoniesucht und Exotismus ihrer Genese eingeschrieben sind, ist dem post-kolonialen Ambient-Entwurf von Michal Turtle und Suso Saiz bereits immanent. Harry Schmidt
Porter Ricks – Biokinetics (Mille Plateaux) (Reissue)
Der Zahn der Zeit nagt an allem und jedem. Auch Kunstwerke, Musik oder Lyrik altern. Und das allzu häufig mehr schlecht als recht. Das Problem ist hierbei selten der Verfall an sich – darum kann man sich recht gut kümmern – und bei Musik existiert dieses Problem gar selten bis nie, da Tonträger üblicherweise ganz hervorragend konservieren. Mal ganz zu schweigen von den gängigen verlustfreien digitalen Speicherformaten, die heutzutage Gang und Gäbe sind. Nein, Musik leidet vor allem darunter, dass sie das Publikum aus verschiedenen Gründen nicht mehr anspricht und für Hörer*Innen neudeutsch gesagt: outdated klingt. Das Prädikat zeitlos wird in der Musik daher naheliegenderweise eher selten verliehen. Wenn man jetzt aber die Plattenspielernadel auf das Reissue der erstmals 1996 releasten LP Biokinetics von Thomas Köner und Andy Mellwig legt und die Kopfhörer überzieht, dann weiß man nach nur wenigen Minuten ganz genau, dass man diese nervenaufreibende Interpretation des Sounds der Dub-Techno-Pioniere Moritz Von Oswald und Mark Ernestus, die damals als Labelheads die Genialität des Albums erkannten und es veröffentlichten, auch in ferner Zukunft noch gigantisch finden wird. Porter Ricks‘ Meilenstein ist biolumineszenter Dub, aufgenommen in den tiefsten Tiefen des Meeres. Die gedämpften Kickdrums des Albums täuschen dabei eine Sicherheit vor, die es in der nervenaufreibenden Dunkelheit des Longplayers nicht gibt. Für den Schauer sorgen raue Bässe und groteske Pads, die wie surreal wirkende Unterwasserlebewesen an einem vorbeiziehen und dann wieder im Nichts verschwinden. Wer hiervon nicht fasziniert ist, dem ist vom Tiefseetauchen eindrücklich abzuraten. Andreas Cevatli
rEAGENZ – rEAGENZ (Mental Groove/Musique Pour La Danse) (Remaster & Reissue)
Der Sommer ist da. Auf den Feldern liegt geschnitten Gras, Petrichor in der Luft. Warme Gewitter ziehen in der Ferne auf. Wir schreiben das Jahr 1994 – der Heidelberger David Moufang und der aus Edinburgh stammende Jonah Sharp wissen schon seit Ende der 80er ihre Faszination für Science-Fiction-Literatur, Technologie und den Weltraum mit ganz persönlichen Eindrücken der aufkeimenden Technokultur zu verbinden. Während Moufang dabei als Move D oder Deep Space Network Pionierarbeit in Sachen ebenso abgefahrener wie teutonischer Früh-Elektronik leistete, war Sharp mit Terence McKenna buffen und inspirierte durch seine ersten Alben Psybient-Größen wie Shpongle zum eigenen Tun, kollaborierte zwischenzeitig aber auch mit Bill Laswell, Pete Namlook und Tetsu Inoue. Für das Debüt ihres Projekts rEAGENZ führten die beiden zusammen, was unter den viskosen Nebelschwaden der frühen 90er zusammenkommen musste – und dann immer öfter den Beinamen „Ambient Techno” erhielt. Ausufernde Tracks von zehn, zwölf, ja 15 Minuten Spielzeit, teilweise schlicht nach Umlauten oder kryptischen Insidern benannt, machen das eponymische Debüt von rEAGENZ zu einem Trip-Score jenseits aller Tanzflure. Langsame Buildups, quasi keine Drops, eine geduldige Sequenzierung, die minimalsten Cues prominente Relevanz einräumt: in „Ä” oder „Ü” stecken so auch mehr ausformulierte Raffinesse, mehr Texturen und Timing als andere Produzenten-Teams während ihrer gesamten Laufbahn auf die Kette kriegen. Diese Tracks sind feierliche Hypnosen, sie träumen – von der Vergangenheit, von Tangerine Dream und Jarre, aber auch vom Morgen, wo sich beinahe alles zwischen Northern Electronics und Semantica unbewusst irgendwie auf sie berufen wird. Für Moufang und Sharp sollte es 15 Jahre lang die letzte Platte bleiben – ihr Sound so frisch, als sei er gerade gestern aufgenommen worden. Nils Schlechtriemen