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Coil: Ungehorsam macht frei (Das neue Rückwärts – Teil 1)

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John Balance von Coil (Foto: brainwashed.com)

Leben bedeutet Leiden, heißt es. Für Geoffrey Rushton und Peter Christopherson war der buddhistische Wirkspruch nicht bloß Modus Operandi, sondern viel mehr Essenz künstlerischen Daseins. Geboren aus der britischen Industrialszene Anfang der Achtziger, inspiriert von Okkultismus und psychotroper Vision, wetzten sie als Coil über drei Dekaden hinweg Geometrien aus Klang wie Statuen aus Granitblöcken.

Unter wechselnden Namen und Besetzungen blieb die konsequente Verweigerung jeder Kommerzialisierung dabei ihr künstlerisches Kainsmal, während sie gesellschaftliche Konventionen demaskierten und in der Anomie des Thatcherismus als vermeintlich Perverse von Behörden und Medien schikaniert wurden. Entfremdet von jeder bürgerlichen Existenz, bahnten sich Rushton und Christopherson als John Balance und Sleazy in der modernen elektronischen Musik mittels unkenntlich modifizierter Apparaturen einen verschlungenen Weg in die Gegenwart – bis weit nach ihrem Tod.

Unser Autor Nils Schlechtriemen gibt einen zweiteiligen Einblick in die Geschichte der Industrial-Pioniere Coil – und in ihre Bedeutung für andere Musikrichtungen, ob Ambient, Drone, Techno oder Noise. Kapitel eins behandelt die Entstehung des Projekts, vom Namen bis zur tonalen Ästhetik und verfolgt den Einfluss von Coils Mondmusik auf andere Künstler*innen, aber auch die Inspirationen, die sie im Laufe von fast drei Jahrzehnten in ihr eigenes Schaffen integrierten. Im zweiten Teil geht es um Tanz, Rausch und Grenzerfahrungen im Kontext der eigenen Vergänglichkeit, dem Tod.


März 1979, DVAtion Studios, Sheffield. Adi Newton arbeitet an einem namenlosen Demotape von Clock DVA. Erst Monate zuvor war sein Projekt aus dem städtischen Untergrund hervorgegangen, hatte sich zwischenzeitig aber bereits in einschlägigen Kreisen als Experiment aus Tapeloops, Vocoder, Noise und New Wave einen Namen gemacht und war so auch dem Gründer des kleinen Fanzines Stabmental aufgefallen: John Balance. In einem Brief an Newton schwärmt Balance im Frühjahr 1980 von den singulären Qualitäten des DVA-Sounds und zieht als Beispiel auch den Track „Coil” heran, ein verzerrt fluchendes Feedback-Ritual zugedröhnter Kabbalisten.

Das u. a. von John Balance herausgegebene Zine Stabmental (Foto: Archiv GROOVE)

Ob der Name für sein drei Jahre später gegründetes kollaboratives Projekt tatsächlich diesem Tracktitel entlehnt war und erst später mit Inhalten und Archetypen nach Austin Osman Spare, William S. Burroughs, Aleister Crowley aber auch C. G. Jung angereichert wurde oder ob Balance den Namen Coil auf anderem Wege fand, bleibt rückblickend Sache von Spekulation, was selbst Coil-Hobbybiograf Phil Barrington in seinen Essays anmerkt. 1983 verriet Balance dem Magazin Grok in einem Interview aber: „Ich stieß instinktiv auf den Namen. Es gibt bestimmte Worte und Phrasen, die ich „versteckte Universalien” nenne. Sie bedeuten und repräsentieren Dinge, die viel größer sind als sie selbst. ‘Coil’ ist also ein Schlüsselwort, in dessen Kontext ich endlos viele Aspekte entdeckte. Die Form von Schlangen, die Spulen einer Uhr, der weibliche Zyklus, Metallwinden, die Teslaspule, die DNA-Spirale, die Tatsache, dass ‘Coil’ laut Wörterbuch im Englischen auch ‘Geräusch’ bedeuten kann (…). Eine Windung ist eine Spirale, und Spiralen sind universelle Gestalten, von der DNA über Tornados bis hin zur Form von Galaxien.”

Doppelseite des u. a. von John Balance herausgegebenen Zines Stabmental (Foto: Archiv GROOVE)

Nicht zuletzt aufgrund seines astronomischen, okkulten und philosophischen Interesses gründet Balance Ende der 70er noch in der Schule sein kleines Fanzine und kommt durch die Briefwechsel, Texte und Interviews erstmals mit den damaligen Hauptakteur*innen transgressiver, britischer Subkultur in Kontakt. David Tibet (Current 93) und Steven Stapleton (Nurse With Wound) zählen dazu, aber auch Stephen Thrower (Cyclobe), Genesis P-Orridge (COUM Transmissions, Psychic TV) und Peter Christopherson (Throbbing Gristle, Psychic TV), Balances späterer Kreativpartner und Seelenverwandter. Christopherson war seit den frühen 70ern als studierter Grafikdesigner für berühmte Cover-Artworks von Pink Floyd bis Peter Gabriel, aber auch als BDSM-Fotograf, Designer des London Dungeon, Produzent von Musikvideos und Werbespots sowie als Gründungsmitglied von Throbbing Gristle (TG) im Kulturmilieu Englands auf beiden Ebenen vernetzt: Mainstream und Underground.

Coil in den achtziger Jahren (Foto: brainwashed.com)

Zusammen mit TG-Kollege Chris Carter, der als Toningenieur eigene kleine Synthesizer baute, gehörte Christopherson zu den Ersten, die ab Ende der 70er in England mit Samplern und Sequencern experimentierten. Beide legten dabei technologische wie stilistische Grundlagen, die während des folgenden Jahrzehnts nicht nur diverse Industrial-Bands und den EBM Marke Nitzer Ebb oder Front 242 prägten, sondern ab 1987 auch vom Detroit Techno, Chicago House und dem britischen Acid House aufgenommen respektive weiterentwickelt wurden.

»Is it so unsafe when you are, insecure in the space

Where you are?
Is it so, really so? Is it more real? Is it more yours?
Is it more real, for you, than it is for him or me? And the people who perceive it: Repeat it, distort it, improve it, update it.
Slightly change it.


And these people believe it. And write it all up for you.
And is it more real?

„Red Queen”

Die Lust am Experiment, dem unwirtlichen Umweg, eine wiederentdeckte Schönheit des Subversiven war aber schon 1976 bei der Gründung von Industrial Records und daraufhin 1980 während der Entstehung von Wax Trax! in Chicago unstoppbares Moment jener Subkultur, der selbst Punk und Metal in den radikalsten Formen noch zu konventionell blieben. Balance und Christopherson waren von Beginn an Teil dieser Bewegung. Und die LGBTQ-Szene? Damals noch an die Ränder der Gesellschaft verbannt, offen für alles Grenzüberschreitende, fand auch sie hier einige ihrer frühesten musikalischen Ikonen – von Divine bis Genesis P-Orridge.

Werbeposter für die Coil-Single Panic/Tainted Love und das Album Scatology (Foto: brainwashed.com)

Immer wieder konzeptionell umrahmt von provokanten Referenzen zwischen Anarchismus und der Symbolik des Faschismus (geboren, frei nach Horkheimer, aus den radikalen Exzessen des Kapitals), richtete sich die Agitation früh mit atonalen Experimenten, geloopten Foley-Samples und einer schroffen Sequenzierung gegen das kulturelle wie politische Establishment, gegen reaktionäres Bürgertum und spätestens ab Beginn der 80er, vor allem ab 1982, auch direkt gegen die popkulturellen Trends.

Der ganze autonome und egalitäre Impetus zeitgenössischer Clubkultur, der sich bis heute in unterschiedlichsten Formen ausdifferenzieren konnte, war prägender Aspekt dieses frühen Phänomens, das wenig bis gar nichts mit der damals herrschenden Tanzmusik zu schaffen hatte. Mehr noch: Die Affinität zum Atonalen im gegenwärtigen Sound von Giant Swan, JASSS, Orphx oder SHXCXCHCXSH, der morbid sexuell aufgeladene Gestus hinter Labels wie Blackest Ever Black, Hospital Productions und Clubs vom Kaliber Berghain oder Institut für Zukunft – all das war in jener ersten europäischen Industrial-Welle schon angelegt.

Peter Sleazy Christopherson und John Balance im CD-Booklet des Albums Scatology (Foto: brainwashed.com)

Kurz nachdem Throbbing Gristle und Psychic TV aufgelöst wurden, schwappte sie in Form von DIY-Projekten à la Coil, Zoviet France, Einstürzende Neubauten oder P16.D4 über die Musikwelt und hinterließ jenseits der Tanzflure verbrannte Erde – durch die radikale Manipulation von Geräuschen und Instrumenten ebenso wie den Gebrauch neuer Drum Machines, verschränkter Sequenzierung oder der Distorsion von Stimm-, Film- und Radioaufnahmen, die dennoch immer wieder semi-harmonischen Prinzipien folgten. Neben Lou Reed oder David Bowie registrierte dann auch ein Karlheinz Stockhausen Projekte wie Coil, die er zeitlebens noch persönlich kennenlernte, als neue Avantgarde, der an den kulturellen Fronten die Umwertung des Etablierten gelang, ohne sich in banalen Grabenkämpfen zu verzetteln.

Poster zur Veröffentlichung von How To Destroy Angels, dem Debütalbum von Coil von 1984 (Foto: brainwashed.com)

Dementsprechend erschienen unter dem Namen Coil konsequent bahnbrechende Experimente, denen mehr aus Hilflosigkeit später das Etikett Post-Industrial aufgeklebt wurde. Etwa das von der ersten AIDS-Welle und den damit verbundenen Todesfällen im persönlichen Umfeld von Balance, Sleazy und dem zeitweiligen Coil-Mitglied Stephan Thrower gezeichnete Horse Rotorvator oder die albtraumhaften B-Seiten eines Gold Is The Metal (With The Broadest Shoulders). Schizophrene Samples und Instrumentierung, unterlegt von professionellen Spoken-Word-Passagen, geschossen durch schräg modulierte Vocoder-Effekte, bildeten das Fundament dieser ersten Alben: Alles war Verfremdung, Obszönität, Ausbruch, Redefinition – die Gegenwart von heute zurückgespult ins Damals, konfus vorweggenommen. Der Einfluss auf vieles, was sich später Industrial, Noise, Drone oder Clubmusik nennen würde, ist rückblickend kaum zu leugnen.

Denn abgesehen von Stephen Thrower standen Coil mit Beginn der 1990er und dem Release von Love’s Secret Domain (LSD) der gerade entstandenen Techno-Kultur Englands wenn nicht fasziniert, so doch zumindest offen gegenüber. „Wir begannen eine Menge Dance Music zu hören, minimierten jedoch ihren Einfluss auf unsere Alben. Beides war hermetisch voneinander getrennt. Zunächst jedenfalls. Letztlich haben wir sie dann auf Love’s Secret Domain integriert, doch versuchten wir zu keinem Zeitpunkt tanzbare Musik zu machen”, sagte Balance Jahre später. „Diese Alben sollten psychoaktiv sein, Musik, zu der man Drogen nehmen kann – der Titel und alles deutet das an. Wie offensichtlich sollten wir es noch machen?”

Coil ca. 1985 (Foto: brainwashed.com)

Angesichts von Tracks wie „The Snow” oder „Windowpane” war die Absicht vielleicht eindeutiger als gedacht. Zum 30-jährigen Jubiläum von Love’s Secret Domain erscheint dieses Jahr eine aufwändig restaurierte Version des Albums via Infinite Fog, die zehn unveröffentlichte Tracks beziehungsweise Alternativversionen enthält und der Relevanz dieser Projektphase für die elektronische Musik abermals ein Denkmal setzt.

Hier hört es aber nicht auf: Technoide Basspatterns, Breakbeats und grelle Synth-Stabs kommen auch auf späteren Veröffentlichungen wie der EP Nasa/Arab (1994), Tracks der Unnatural-History-Serie (1998), dem Bonusmaterial von The Remote Viewer (Reissue, 2006) oder dem posthum veröffentlichten Backwards (2015) immer wieder mal zum Einsatz, gelayert in Windungen aus Ambient, Drone und Noise. Umgekehrt war der Einfluss ebenso hörbar.

Coil mit Karlheinz Stockhausen (v.l.n.r. Ossian Brown, Thighpaulsandra, John Balance, Karlheinz Stockhausen (Foto: brainwashed.com)

Was Coil während der späten 80er und frühen 90er mit aufkommenden Produktionsmöglichkeiten in relativ kleinen Studios in ihrem Haus in Chiswick und einem Keller in Bloomsbury, West-London anstellten, lässt sich heute noch in den delikat reduzierten Klangfarben von CS + Kreme oder bei den norwegischen Alleskönnern Ulver, in den tonalen Abstraktionen einer Björk, aber auch in den Lederriemen-Stampfern von Rammstein bis Skinny Puppy, von Trent Reznors Nine Inch Nails bis Wumpscut als Prägung wiederfinden und injizierte sich von da direkt in den seit der Jahrtausendwende immer heftiger pulsierenden Industrial-Techno-Sektor.

Rußige Abdrücke dessen sind folglich in der aggressiven Dampfhammer-Ästhetik eines Perc und seines Labels Perc Trax ebenso zu finden wie auf den afrikanischen Schrottplatz-Ritualen von William Bennetts Cut Hands, auf urbanen Rastertexturen der Marke Regis und Shifted, den ominösen Endzeitvisionen eines Dominick Fernow oder der verwaschen dröhnenden Traumästhetik Vrils – und weiter jenseits.

Furry Coil 2001 (Foto: brainwashed.com)

Begleitet werden die LSD-Sessions nicht etwa von bunten Pappen, sondern exzessiven Rauscherfahrungen mit MDMA und verwandten Derivaten, denen Balance und Sleazy schon seit 1981 immer wieder frönten – und die für sie mehr waren als hedonistische Substanzen fürs Tanzen. „Ecstasy beeinflusst deine persönliche Wahrnehmung der Menschen um dich herum, des Ortes, an dem du dich befindest, die Farben der Umgebung – und das erwarte ich nach dem Tod vorzufinden, wenigstens für ein paar Minuten”, bemerkte Sleazy vor gut 20 Jahren mal in einem Gespräch mit David Keenan, Autor von England’s Hidden Reverse. „Ich bin sicher, würde ich heute Ecstasy nehmen, ginge ich zu eben jenem Ort, den wir nach unserem Tod betreten. Entweder das oder eine temporäre Anomalie, ein Wurmloch täte sich auf, und für einen Moment wäre es kurz möglich, den Transit zu wagen.”

»God please fuck my mind for good.«

„Careful What You Wish For”

Der Tod als gestauchter, ruckartiger Übergang? Verstärkt und angetrieben durch finale neurochemische Prozesse? Oder aber in den finalen fünf Minuten als eine Spule sich wiederholender fraktaler Abläufe – dem Durchrauschen geistiger Dias des eigenen Daseins? In ihren Texten stoßen Balance und Sleazy diese Gedanken ein ums andere Mal an. Mit welcher Motivation, mit welchen Mitteln sie dabei Entwürfe von Entrückung und Psychonautik vertonen, wird in den 90ern abermals deutlich, als persönliche und künstlerische Krisen die nächste Windung ihres Schaffens offenbaren.


Wie sich Coil zum Stoßtrupp einer neuen Avantgarde entwickelten, wird kommende Woche im zweiten Teil unseres Features aufgerollt.

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