Anunaku – 042 (AD 93)
Was ist eigentlich aus Minimal und Tech-House geworden? Bei Guglielmo Barzacchini alias TSVI alias Anunaku bekommt man eine Antwort. Über drei Tracks erkundet er die Gegenwartstauglichkeit von artifiziell getupften Beats und reduzierten Sample-Loops. Bei „Spirale” erinnert die Kombination aus Skelett-Beat und klassischem Gesangs-Fragment von fern an Lee Jones’ „Aria”, in „Ninfea” übernimmt ein kleiner Synthesizer-Chor eine ähnliche Funktion. Am schönsten gelingt der Versuch allerdings, vielleicht auch, weil er sich am weitesten vom Formelhaften entfernt, im abschließenden „Luminosa”. Da beginnt zunächst alles in gewohnt stoisch pochender Manier, mit repetitiver Figur, die gar nicht so viel anders klingt als im Stück davor. Doch in der zweiten Hälfte, nach kurzer Ruhepause, beginnt der Drumcomputer ein Eigenleben zu entfalten, das mit Breakbeat nur unzureichend beschrieben wäre, es sind eher elektronische Prog-Einlagen, bei denen zum Teil sogar der Rhythmus der Melodie gedoppelt wird. Unorthodox und unerwartet euphorisierend. Zum Ausklang tut Anunaku wieder so, als sei nichts gewesen. Tim Caspar Boehme
Anz – OTMI001 (OTMI)
Beats in space, genauer: Synths in space. Auf der ersten EP ihres eigenen Labels OTMI schickt die Produzentin Anz aus Manchester eine Melodie mit reichlich Boogie-Kometenschweifen ins All. Verspielt kreiselt dieser Funk zum angemessen hüpfenden Bass durch den Orbit. So weit, so albern. Wären da nicht die staubtrockenen Beats, die durch konsequent gegen die anderen Elemente gesetzte Synkopen verhindern, dass der Ausflug allzu cheesy gerät. Für alle Skeptiker*innen hält Anz auf der Rückseite eine noch trockenere Beat-Studie bereit, deren Rhythmus-Geflecht knappe Stimmfetzen ergänzen. Mehr als die Knochen bleiben fast nicht übrig. In denen steckt jedoch sehr, sehr viel Leben, das will, dass man ihm mit regelmäßigen Bewegungen willfahrt. Tim Caspar Boehme
Maelstrom – Expression Directe (Cultivated Electronics)
Expression Directe beginnt mit dem schnellen, zwischen Kraftwerk und minimalistischem Detroit-Techno angesiedelten Titeltrack und lockt damit auf eine falsche Fährte. Denn seine geraden Beats werden auf den weiteren drei Stücken nicht mehr auftauchen, Joan-Mael Péneau alias Maelstrom zelebriert in ihnen seine Definition von Electro. Und die ist auf dieser EP superfunky, irgendwie leicht und licht, dabei gleichzeitig messerscharf und kantig in der Ausstrahlung. Péneau benötigt keine massiven Sounds und Effekte, um seinen Tracks diese spezielle Schärfe zu geben, ihr Subtext lautet bei aller Funkyness und allem Tanzimperativ immer auch: „Hey, mit uns ist nicht zu spaßen, pass’ auf, auf was du dich einlässt!” Was natürlich die Lust, sich voll und ganz in diese Musik zu stürzen, nur noch mehr anstachelt. Darin unterscheidet sich diese EP von anderen Maelstrom-Veröffentlichungen wie beispielsweise der 2018 erschienen EP Alph4 auf Central Processing Unit, die wesentlich schwerer und eher laidback daher kam. Mit Expression Directe gelingt dem Franzosen ein großartiges Update der nach wie vor nicht auserzählten Story von Electro, das elegant alle Retro-Fallstricke umtanzt. Mathias Schaffhäuser
Move D – House Grooves Vol 1 (All That Jelly)
Move D alias David Moufang aus Heidelberg gehört zur ersten Generation deutscher House-Music-Produzent*innen. Er veröffentlichte auf legendären Labels wie Warp, Disko B, Philpot, International Deejay Gigolo und auf seinem eigenen Source Records. Nachdem bereits 2016 eine seine rarsten Platten, House Grooves Vol 1 aus dem Jahr 1993, auf dem Running-Back-Sublabel Misfit Melodies komplett geremixt wiederveröffentlicht wurde, ist nicht verwunderlich, dass nun auch die Originale dieser Time-Unlimited-Klassiker mit einem neuen Mastering von Lopazz auf All That Jelly erscheinen. „Agaga” erinnert zwischen UK-Deep-House und dem New Yorker Act Deee-Lite mit üppigem AKAI-MPC-Vocal-Geschnipsel und Rhodes-Sample an die Anfänge des Deep House. „Deep” hätte genauso damals auf dem New Yorker Label Strictly Rhythm erscheinen können. Die Stimme der House-Sängerin India wurde dem Masters-At-Work-Hit „Deep Inside” entlehnt, und der ikonische, Xylophon-artige Kawai-Synthesizer schallte zwischen 1992 und 1995 in jedem zweiten New-York-Garage-House-Track. SH101-mäßig ravet „I Gave My Love” mit einem epischen House-E-Piano und Ravehupen-Synth-Lines melancholisch auf dem Motorway von London nach Manchester. Damit fackelt die XTC-Erinnerungskultur noch einmal kräftig sämtliche Warehouse-Party-Synapsen ab. Während die Disco-Gitarre bei „Babefonk” aus heutiger Sicht doch etwas zu einfach klingt. Als Zeitreise-Tool und für die wissenschaftliche Aufarbeitung des Garage House ist die Neuauflage aber wunderbar. Mirko Hecktor
ΠΕΡΑ ΣΤΑ ΟΡΗ – Immi (Musar)
Mit seinem Projekt ΠΕΡΑ ΣΤΑ ΟΡΗ („Pera Sta Ori”) erprobt der griechische Produzent George Kontogiannidis neue Lebensformen für den Club der Zukunft (den braucht es allemal). Unter Rückgriff auf Drum ‘n’ Bass, Electro und mit Anleihen an die rhythmisch aufgelockerte IDM-Ästhetik entwirft er auf Immi eine tönende Welt ausdrücklich für Immigrant*innen. Eine Utopie aus Klängen, wobei offen bleibt, welche Gestalt sie genau annehmen soll. In dieser Welt stehen die Zeichen nicht zwingend auf Gemütlichkeit, dafür gibt es reichlich komplexe Strukturen. Ganz sicher kein business as usual für die Tanzfläche. Und im Kamila-Govorčin-Remix von „CIN1” geht es, unter Rückgriff auf Industrial-Fabrikhallen-Hall, mit angezogenen Breakbeats voran. Die Zeiten werden besser. Tim Caspar Boehme