Rosa Anschütz (Foto: Anna Breit)
Ihren ersten großen Erfolg landete Rosa Anschütz 2019 mit dem Kobosil-Remix ihres Tracks „Rigid”, der es in den GROOVE-Leser*innen-Charts auf Platz zwei schaffte. Kurz darauf erschien die gleichnamige EP und damit ihr musikalisches Debüt. Es folgten Auftritte in namhaften Clubs wie dem Berghain oder der Griessmuehle. Das Stream-Jahr 2020 bescherte ihr Gigs bei HÖR Berlin und United We Stream, und im November ist das Debütalbum der zwischen Berlin und Wien arbeitenden Musikerin und Künstlerin erschienen.
Ihre musikalische Frühprägung erlebte Anschütz in ihrer Heimatstadt Berlin. Ihr Studium der transmedialen Kunst in Wien ergänzt die Musik um visuelle und medialspezifische Komponenten. GROOVE-Autor Jan Goldmann hat mir ihr über Skype gesprochen. Bei der einen oder anderen Tasse Tee ging es um Berlin und Wien, um Votive und Rigid, Corona – und den Berliner Zoll.
„Viel kann man ja grad’ nicht machen”, stellt Rosa Anschütz fest, und fügt lachend hinzu: „Außer halt neue Tracks.” Die freie Zeit seit Beginn der Corona-Pandemie nicht sinnvoll genutzt zu haben, kann man ihr nicht vorwerfen. Da war das Haus am See, die Bekanntschaft mit der Berliner Zollbehörde, der eine oder andere Spaziergang durch Wien, die übergangsweise Beschäftigung als Schallplattenzustellerin. Und ein Debütalbum.
Das wäre dann wohl die Krönung eines von vielen eher als verloren interpretierten Jahres. Anschütz sieht die Dinge gelassener. Erfrischend euphorisch erzählt sie von all dem, was seit April bei ihr so passiert ist. Da sollte ihr Debütalbum Votive nämlich ursprünglich Premiere feiern. Dann kam Corona und bescherte Künstler*innen eher magere Aussichten auf Live-Shows in Clubs oder auf Festivals. Und so haben sie selbst und das Label den Release schlichtweg ein wenig nach hinten verschoben. Man bekommt schließlich nicht immer die Möglichkeit auf ein halbes Jahr extra.
Angefangen hat die Geschichte von Votive bereits vor drei Jahren. Die drei Jahre dürfe man aber nicht direkt als den Zeitraum der Arbeit an den einzelnen Tracks verstehen, erzählt Anschütz bestimmt. Viel davon sei schon lange fertig, einiges aber auch ganz frisch erst entstanden. Ihr Auftreten erweckt schnell den Anschein einer intuitiv arbeitenden Künstlerin. Manchmal muss sie selbst kurz nachdenken, wie genau sie auf einen Text oder eine Melodie gekommen ist. Geschriebenes entsteht viel auf Reisen. Unterwegs trägt sie immer kleine Hefte oder Bücher mit sich und notiert Gedanken, Wortspiele, Gedichte: „Texte und Fotos, ein bisschen mehr als ein Tagebuch”, sie hält ein kleines, handgeschriebenes Büchlein hoch. Fertige Songtexte bauen sich dann oft aus einzelnen Zeilen unterschiedlicher Notizen zusammen. Die Musik dazu entsteht nicht unbedingt simultan. „Ich setze mich abends gern an meinen Synthesizer, das sind beschwingte Zustände, da entsteht dann was”, lacht sie, „und wenn ein Track fertig ist, dann ist er fertig”. Sie kenne das von Freunden, die ewig an einem Track rumbasteln und nie fertig werden: „Das finde ich dann irgendwie schade.”
„Nachts habe ich dann angefangen zu jammen, oft bis in die frühen Morgenstunden. Dann bin ich schwimmen gegangen und hab mich schlafen gelegt.”
Den Sommer über hat sich Anschütz für drei Monate in einem kleinen Haus direkt an einem See einquartiert und Musik gemacht. Verpasst hat man ja sowieso nichts. Sie ist dort in Strausberg, direkt hinter den Stadtgrenzen Berlins, zum Teil aufgewachsen, ihr Vater wohnt dort immer noch. „Nachts habe ich dann angefangen zu jammen, oft bis in die frühen Morgenstunden. Dann bin ich schwimmen gegangen und hab mich schlafen gelegt.” Auch für Votive war das eine wichtige Zeit. Einige der Tracks auf dem Album sind in dieser Zeit am See entstanden. Zumindest als Entwurf. Neue Arrangements und richtige Aufnahmen passieren gemeinsam mit ihrem Produzenten Jan Wagner im Studio.
Als Buttons noch Homopatik hieß
Dieser Sommer am See war eine sorgen- und stressfreie Zeit. Sowohl für sie als auch für ihren selbstgebauten Modular-Synthesizer, den sie natürlich mit in ihr temporäres Zuhause genommen hat. Viele neue Module habe sie sich zusätzlich angeschafft, dabei viel zu viel Geld ausgegeben. „Und irgendwann habe ich dann den Zoll kennengelernt”, sagt Anschütz plötzlich. Den Zoll? „Ein paar der Module musste ich aus Amerika bestellen”, erinnert sie sich grinsend, „mit all den Hinweisen auf den Paketen, ‘Voltage’ oder ‘Danger’, und dann noch aus den USA. Die Berliner Zollstelle ist ein toller Ort.”
Musik macht Anschütz schon lange. Ob als Kind im Kirchenchor, als Jugendliche in der Rockband oder jetzt als elektronische Live-Performerin. Einem festen Genre ordnet sie sich nicht unter: „Ich möchte eben machen, was ich will. Ich möchte autonom bleiben.” Ein konkretes Genre ließe sich auch schwer feststellen, es ist eher eine lose Richtung, die sie einschlägt. Votive ist düster, sphärisch, emotional. Schweifende Pads und drückende Synthesizer prägen die Tracks mindestens genauso sehr wie ihre eigene Stimme. Tief liegt diese auf den hallenden Klängen und wirkt dabei wie ein selbstständiges Instrument.
„Bei meinen ersten Auftritten wollte ich mit den Technikern klarkommen.”
Einflüsse kommen unbestreitbar aus dem Techno. Auch wenn die Musik alles andere als Techno ist. „Da sind die Wiederholungen essentiell, die Beats, die einsetzen, zwischenzeitlich wieder aussetzen und dann wieder ein. Dieses Loopen, damit arbeite ich viel.” Einer breiten Öffentlichkeit im Electro-Kosmos dürfte vor allem ihr Track „Rigid” aus der gleichnamigen EP vom letzten Jahr bekannt sein. Genauer gesagt der Remix von Kobosil. Ein harter, schneller Treiber, ganz anders als das langsamere, hymnische Original. Die Spannung zwischen dem Unheimlichen und dem Schönen bleibt im Remix aber bestehen. Die tiefe Stimme, die tragische Melodie. Der Remix geht durch die Decke, wird auf eine 10” gepresst und erreicht eine dreiviertel Million Hörer*innen auf Soundcloud.
Das Interesse an einer Zusammenarbeit besteht schon lange: „Vor sieben oder acht Jahren hat mich der Max [Kobosil, d.Aut.] auf SoundCloud angeschrieben.” Musik habe sie schon immer ins Internet geladen, erzählt sie weiter, auch schon zu Zeiten von MySpace. Der Remix erinnert sie an ihre Jugend, als sie selbst viel in der Technoszene unterwegs war. „Da war ich so 16, 18, der Kater Holzig war noch auf der anderen Spreeseite, Buttons hieß noch Homopatik.” In der Feierkultur hat sich viel verändert, findet sie. Alles ist größer und kommerzieller geworden. „Techno ist nicht mehr Hauptstadttechno, sondern Hauptstadt und Vorort.”
„Einfach ein krasses Jahr. Und ich bin super froh, ein Album rausgebracht zu haben.”
Seit gut zwei Jahren lebt Anschütz nun in Wien und studiert dort, an „der Angewandten”, wie die Kunsthochschule vor Ort salopp genannt wird, transmediale Kunst. Ihre Ausbildung nimmt starken Einfluss auf ihr künstlerisches Schaffen. Sie will mehr sein als eine reine Musikerin. Das macht sich etwa in ihren Bühnenshows bemerkbar. Ihre ersten Auftritte hat sie als eher zurückhaltend in Erinnerung: „Ich wollte damals mit den Technikern klarkommen.” Aufgetreten sei sie dann schlicht, in T-Shirt und Jeans. Richtig wohl fühlt sie sich auf der Bühne erst seit ungefähr eineinhalb Jahren. Seitdem sieht sie sich auch mehr als Performerin: „Inzwischen genieße ich es sehr, mich vor einem Auftritt umzuziehen, ein richtiges Outfit zu tragen und das dann nach dem Auftritt, wenn ich im Raum stehe und mich mit Leuten unterhalte, auch wieder ausgezogen zu haben.”
Für Votive hat sie viele gestalterische Aufgaben selbst übernommen und eng mit Fotograf*innen an Inszenierungen für Cover- und Pressefotos zusammengearbeitet. Als wiederkehrendes Element fällt ein smaragdgrüner Satinhandschuh auf. Wer ein Album zu einer Zeit veröffentlicht, in der keine Konzerte stattfinden dürfen, muss alternative Wege finden, die Musik dem Publikum nahezubringen. Innerhalb einer Woche hat Anschütz 50 Platten in Wien bis an die Haustür gebracht. Kostümiert im smaragdgrünen Satinhandschuh klopft sie an, liefert aus und unterhält sich mit den Leuten über dieses, jenes und selbstverständlich über Musik. Ein sozialer Akt, der zeigt: Performance geht auch ohne Konzert.
Inzwischen ist der erste überwältigende Schwall nach dem Release ein bisschen abgeklungen. Viele Interviews stehen an, Promo- und Social-Media-Arbeit. Langsam geht das Jahr zu Ende. „Einfach ein krasses Jahr. Und ich bin super froh, ein Album rausgebracht zu haben.” resümiert Anschütz stolz. Für einen kurzen Augenblick wirkt sie, als könne sie selbst nicht ganz begreifen, was da alles passiert ist, fängt sich aber im nächsten Moment wieder in ihrer gewohnten Gelassenheit: „Und jetzt mal schauen. Ich glaub’, ich mach erstmal eine Pause.”