Grand River (Foto: Alejandra García)
Der derzeitige Lockdown light wird sich in den nächsten Wochen eher verschärfen als entspannen. Das haben auch die Macher des Q3Ambientfest, das Brüderpaar Daniel und Sebastian Selke, erkannt und setzen deshalb am 19. Dezember auf einen Livestream aus der Fabrik Potsdam. Im Vorab-Interview sprechen die beiden über den Ambient-Trend, der in diesem Jahr entstanden ist, zeichnen die Entstehungsgeschichte des Festivals nach und betten ihre musikalischen Vorlieben ins derzeitige soziokulturelle Klima ein.
Ihr habt das Q3Ambientfest 2017 gegründet. Wie hat sich das ergeben und wie kam die Idee zustande, in der Fabrik Potsdam zu veranstalten?
Bis 2015 haben wir im Osten Berlins gewohnt, ganz in der Nähe des Funkhauses. Hier ist Sebastian nicht nur in den Rundfunkkindergarten gegangen, er hatte 2005 nach Schule und Studium dort im Deutschen Filmorchester Babelsberg angefangen. Hier arbeitet er inzwischen als stellvertretender Solocellist. Dann wechselte das Orchester seinen Standort und zog zurück ins Studio Babelsberg, also dorthin, wo auch seine historischen Wurzeln liegen.
Nach zwei Jahren wurde der tägliche Fahrweg einfach zu lang und durch die Verkehrssituation sehr umständlich. Inzwischen konnte Daniel an der Städtischen Musikschule Johann Sebastian Bach in Potsdam eine Klasse aufbauen. Also lag für uns der Gedanke, nach Potsdam zu ziehen, sehr nahe. Anfangs war das keine leichte Entscheidung, weil wir uns unseren kargen heimatlichen Plattenbauten durch unsere Kindheit irgendwie verbunden fühlten, daran ändert sich auch nichts. Von hier aus haben wir durch dünne, hellhörige Wände hindurch unsere ersten gemeinsamen musikalischen Schritte unternommen.
Es dauerte nicht lange, bis wir die Natur und die Kulturlandschaft der vielseitigen Metropole erneut liebgewonnen hatten. Ganz bewusst auch die so besondere Architektur zwischen Schlössern der großen Preußen, dem Holländerviertel und interessanterweise auch einigen Bauten aus der sozialistischen Ära. Da spannt sich ein Bogen zu unserer früheren Heimat. Sebastian hatte das Stück „Pandora 88” der Performer Sven Till und Wolfgang Hoffmann in der fabrik gesehen und danach die Idee zum Q3Ambientfest vorgestellt
Worum geht es da?
In diesem Zwei-Personen-Stück ergründen die beiden Protagonisten Szenen einer gewachsenen Männerfreundschaft und steigen sinnbildlich in eine „Beziehungskiste”. Es entsteht ein fesselnder Dialog des Duetts im Parcours einer rund fünf Kubikmeter großen beziehungsweise kleinen Box, die auch Plattenbau sein könnte. Später erfuhren wir, dass die fabrik von beiden gemeinsam mit anderen Tanzenthusiasten während der „wilden Wendejahre” gegründet wurde.
Was hat das für euch bedeutet?
Für uns als Ostberliner Brüder ergaben sich künstlerische Parallelen. Wir setzen uns musikalisch mit unserer Vergangenheit auseinander – und eigentlich war deshalb die Idee, das Q3Ambientfest genau hier präsentieren zu wollen, folgerichtig. Übrigens ist „Q3A”, die Kurzform des Q3Ambientfest, die Abkürzung für einen Gebäudetyp aus der DDR-Plattenbau-Geschichte. Wir hängen der damaligen Zeit keinesfalls ostalgisch nach, aber kurios fanden wir es schon, unser Fest ausgerechnet im Jahr 2017 zu organisieren, just 100 Jahre nach der sozialistischen Oktoberrevolution in Sowjetrussland.
Dieses Jahr hat die Pandemie so ziemlich alle im Festivalkosmos etablierten Strukturen ins Wanken gebracht. Wie sehr hat sie das Q3Ambientfest getroffen und wie viel Arbeit war mit der Neuansetzung des Festivals verbunden? Hatte ihr das Gefühl, Glück im Unglück zu haben, weil ihr immerhin kein clubmusikalisches Festival seid?
Unser Fest folgt dem Charakter einer persönlichen und direkten Begegnung zwischen Künstler und Musikliebhaber. Wir versuchen, die Arbeit der Musiker im Fokus zu halten. Wenn jemand zu uns kommt, geht es um den Austausch, die bewusste Begegnung und nicht vordergründig um ein rauschendes Fest und die Verneblung der Sinne. Diese Herangehensweise ist sicher zu Teilen unseren klassischen Wurzeln geschuldet.
So kennen wir es eben von früher. Man geht ins Konzert, um einen Künstler wirklich zu sehen, zu hören und dabei zu erfassen, was er sich in seinem Klangkosmos überlegt hat.
Im besten Falle kommt man seinen eigenen frohgestimmten Vorstellungen ein Stück näher, aber auch Sorgen und Nöte können einen Lichtblick erfahren. Gerade in diesen Zeiten sollten wir diese verbindende Dimension noch inniger gemeinsam erschließen. Wo auch immer – sei es in Umweltproblemen, politischen Entwicklungen und kulturellen Fragen – es wird stets darum gehen, sich mit den friedvoll gleichgesinnten Menschen gemeinsam der Barbarei in allen Bereichen der Realität entgegenzustellen.
Obwohl wir uns mit dem Q3Ambientfest scheinbar übersichtlich aufstellen, war und bleibt es natürlich dennoch ein nicht zu unterschätzender Aufwand, alles wieder und wieder zu verschieben, umzulegen, neu zu organisieren, neu vor allem in Hinblick auf eine weiterhin ungewisse Zukunft. Aber es sind wohl auch diese gutgemeinten Fehlversuche, die uns im Leben wachsen lassen. Wir empfinden die jetzige Phase sogar eher als erneuten Wende- denn als Endpunkt. Es geht wieder etwas Neues los.
Ambient war in diesem Jahr gefühlt das einzige Genre, das massiven Zulauf erfahren hat. Wie habt ihr diese Entwicklung wahrgenommen?
Das Bewusstsein hat sich zumindest deutlich gewandelt. Allgemein erkennen immer mehr Menschen die Qualität darin, einen Gegenpol zur Lautheit zu setzen. Zumindest gibt es eine neue Generation, die von Klassik über Songwriting, Elektronik bis hin zur Avantgarde Elemente echter Instrumente integriert oder die Trackauswahl im DJ-Mix differenzierter wählt. Elektronische Instrumente analog klingen zu lassen und akustische Instrumente in technologische Gefilde zu entführen, scheint ein wahr gewordener Traum zu sein. Visionär betrachtet haben wir den Eindruck, dass diese Bewegung letztlich Ausdruck einer Gesellschaft ist, in der Mensch und Maschine mehr und mehr organisch zusammenwachsen wollen.
Durch die voranschreitende Demokratisierung musikalischer Produktionsmittel sehen wir seit vielen Jahren in Musikschaffenden eine Avantgarde, die ihren Fantasien und Ideen, Zukunftsvisionen und Träumen tatsächlich freien Lauf lassen kann. Musiker, natürlich auch Filmemacher und eigentlich die ganze Kreativwirtschaft tragen in sich den Kern der Wirklichkeit von morgen und erscheinen weltfremden und fantasiefernen Pragmatikern auf den ersten Blick dennoch als verzichtbar. Wir versuchen, diese schon philosophische, aus unserer Sicht aber auch historisch gewachsene Botschaft mit unserer Tätigkeit als Musiker und Veranstalter zu transportieren.
Welche Parameter definieren Ambient für euch? Wer drückt dem Genre momentan seinen oder ihren Stempel auf?
Es waren aus unserer Sicht Kolleginnen und Kollegen, die versucht haben, den klassischen Ursprung ihrer Instrumente – immer auf Grundlage ihrer Ausbildung – zu erweitern. Viele landeten dann aber in der Schublade abstrakter Neuer Musik. Im Jazz beobachteten wir dagegen häufig einen Zusammenschluss mit Popstrukturen. Inzwischen wirkt all das wie ein Perpetuum Mobile. Aber das Repertoire der Klassik schien aus unserer Sicht wirklich einem Ruf nach Erneuerung zu folgen. Inzwischen studieren klassische Cellisten im Anschluss an Bach, Haydn und Dvořák beim Kollegen an der Jazztrompete und Komponisten und Wegbereiter wie Scelsi werden wiederentdeckt. Der wiederum inspirierte durch seine intuitiven Improvisationen Filmkomponisten wie beispielsweise Morricone. Eine besondere Rolle nehmen die Filmkomponisten selbst ein, die seit jeher turbulente Kombinationen aus Ensembles in hybriden Scores erschaffen.
Wirkliche Bewegung kam aber erst kürzlich auf, etwa durch die Cellistin Hildur Guðnadóttir, die mit ihren Scores für Aufsehen sorgt. Nils Frahm als Initiator des Piano Days bleibt ebenso an vorderster Front, gerade weil sich sein Spiel fortlaufend wandelt. Im Kern sind wir ein Cello-Klavier-Duo. Auch deshalb begeistert uns der Prozess und Erfolg gerade dieser beiden außergewöhnlichen Künstler, und wir versuchen entschlossen, diesem Beispiel zu folgen.
Zum Abschluss: Was plant ihr beiden in Zukunft musikalisch? Und: Gibt es einen weiteren Ersatztermin, wenn das Q3Ambientfest nicht stattfinden kann?
Wir wollen und werden Termine finden, wenn es denn wieder sein muss, und wir glauben, dass wieder gute und bessere Jahre kommen werden. Die 20er haben zwar nicht so gut begonnen, aber behalten wir die Relationen: Vergleicht man dieses eine Jahr an Unsicherheit und Chaos mit den Erlebnissen, Gefahren und Entbehrungen beispielsweise unserer Großeltern, muss man eigentlich nicht in Panik geraten. Klar, wir wissen nicht, wie sich das Ganze weiterentwickeln wird, aber Aufgeben haben wir als Wendekinder nicht gelernt. Inzwischen lief unsere Musik sogar im Tatort, dessen allererste Folge – das nur nebenbei – im November vor 50 Jahren „Taxi nach Leipzig” hieß und damit einen gesamtdeutschen Kontext hatte.
Kurz gesagt: Wir werden mit Freude das tun, was wir immer gemacht haben: die Musik Gleichgesinnter zu teilen auf Alben und auf der Bühne. Außerdem freuen wir uns darüber, in Zukunft zusätzlich unter unserem tatsächlichen Namen, eben als Brueder Selke, hier und da in Erscheinung zu treten.
GROOVE präsentiert: Q3Ambientfest
19. Dezember 2020
Line-Up: Anne Müller, CEEYS, Diane Barbé, Grand River, Hoshiko Yamane, Marie Awadis
Location: Fabrik Potsdam
Livestream: