Das sonntägliche Abschlusskonzert des vierten Seanaps Festival in Leipzig bestritt das Trio Microtub an ihren microtonal eingestellten Tuba-Blasinstrumenten. Der Sound ihrer Show, wahrgenommen über den Radio- und Online-Livestream des Festivals, erinnerte an Maritime Rites, eine Arbeit des US-amerikanischen Komponisten und Improvisations-Musikers Alvin Curran aus dem Jahr 1984, die sich dem Klang der Nebelhörner und Schiffssirenen widmet und die akustischen Orientierungssignale der Seefahrt existenziell und experimentell auslotet.
Auch das Seanaps Festival 2020 funktionierte unter gleichen Prämissen wie ein Nebelhorn im Dunstschleier der aktuellen, fast zum Stillstand gekommenen globalen Festivallandschaft. Es sendete spannungsgeladene Zeichen aus einer musikalischen Welt, die sonst nur am Rande herkömmlicher, vordergründig eher auf Party ausgelegten Festivals stattfindet: nicht funktionale, experimentierende Musik jenseits klarer Genre-Zugehörigkeiten.
Natürlich war in diesem Jahr alles anders. Allen voran die penibel eingehaltenen Corona-Regeln, die mit einem sehr überschaubaren Publikum perfekt umgesetzt wurden. Als zentrale Spielstätte fungierte ein imposanter Ballsaal im Lindenfels Westflügel im West-Leipziger Stadtteil Lindenau, der sonst als Heimat für internationales Figurentheater dient. Dazu ein durchgehendes Radioprogramm, das am Abend die Livemusik spiegelte und am Tage Lesungen und Radioperformances spielte. Außerdem bot es den Festivalkünstler*innen und geladenen Gästen ein Forum für Diskussionen rund um Musik, das künstlerische Schaffen im Allgemeinen und weitere Fragen zur Gegenwart und Zukunft der Kultur abseits der Massen. All das geschah mit einem familiären Geist von Seiten der Organisator*innen und Mitwirkenden, der stets mehr dem Wir als dem Ich verpflichtet war. Eine Grundeinstellung, dank der auch die wenigen Besucher*innen gleich mit aufgenommen wurden in eine mit viel Leidenschaft und Humor agierende Festivalfamilie, deren zentrales Motiv die Sache selbst ist.
Am Eröffnungsabend spielte der Belgier Pierre Berthet mit der japanischen Künstlerin Rie Nakajima ein Konzert, das Installation, Performancekunst und freies, nur zuweilen aufeinander abgestimmtes Spiel an diversen Klangerzeugern und Hohlkörpern präsentierte. Demgegenüber streichelte die in Berlin lebende Belgierin Els Vandeweyer ihr Vibraphon dynamisch und verwandelte auf ihm virtuos Klassik in Jazz und umgekehrt. Den Abschluss gestaltete der US-Amerikaner Nick Klein, bekannt durch gegen den Strich gebürstete Clubmusik auf Labels wie L.I.E.S.. Fast unbeweglich und irgendwie meditativ drehte er an Synthesizer und Effektgeräten, denen er Dronewellen mit hohen Tranquilizer-Qualitäten entlockte. Drei Shows, drei Facetten experimenteller Musik, die nur schwer in Gut oder Schlecht einzuteilen waren. Mal sprach der performative Charakter der Darbietung profunder als die Musik – und dann wieder umgekehrt.
Dies war auch in den darauffolgenden Nächten zu spüren. Freitags präsentierten The International Nothing minimales Klarinettenspiel als sanften Improvisations-Dialog, das bewegende Duo Pareidolia vereinte den Sound von selbstgebastelten Antennen mit entfremdetem Trompetenspiel und der Schweizer Strotter Inst. erzeugte an umgebauten Plattenspielern multidimensional treibende Klangcollagen.
Am Samstag ließen dann die in Berlin lebenden Künstler*in Cedrik Fermont und Marie Takahashi Gongklänge zum virtuosen Krächzen der Geige tanzen und tauchten dabei ein in ein Zwiegespräch, das gleichermaßen aufrüttelte und besänftigte. Und der in London lebende Grieche Tasos Stamou erzeugte mit Live-Sampling, Flöte und anderen verfremdeten Mini-Instrumenten ein betörendes Cluster aus Ethnomusik und Elektronik. Auch er setzte wie alle zuvor das Performative in gleicher Intensität ein wie das freie Spiel der Klänge. Dass die Shows mehr als nur Musik waren, muss auch den Beleuchter*innen des Festivals zugeschrieben werden. Sie verstanden es stets genau, das ins Licht zu rücken, was alle Künstler*innen über die Musik hinaus mitbrachten: performative Zusätze, die ihr experimentelles Spiel in eine Unterhaltung mit dem Publikum verwandelten.
Die zwei dem Festival angeschlossenen Kunstausstellungen benötigten kein Make-Up wie etwa in der sonst üblichen Form eines Ausstellungs-Beipackzettels, der den zu erlebenden Inhalt des Kunstwerks erläutert. Beide wirkten unmittelbar. Beide hatten ihren ganz eigenen Zauber. Das Duo 1:∞ alias Lena Czerniawska und Emilio Gordoa präsentierte in einem stillgelegten Teil des Westbahnhof Plagwitz eine Soundinstallation aus recycelten Tonbandgeräten, Plattenspielern, Lautsprechern, Nähmaschinen und Diaprojektoren, deren Klänge der mexikanische Komponist und Perkussionist Gordoa mit elektrischen Geräten immer wieder neu und dynamisch fesselnd manipulierte.
Demgegenüber war die Ausstellung der in Hamburg lebenden Künstlerin Louise Vind Nielsen minimalistisch perfekt in einem weißen, lichtdurchfluteten Raum einer alten Baumwollspinnerei angelegt. Sie zeigte fünf Ventilatoren, die stoisch an der Decke rotierten, sich dabei immer wieder an den Spitzen ihrer Laufräder berührten und so das vielleicht einzige Industrial-Konzert des Seanaps Festival 2020 spielten. Zwei kleine Ausstellungen, die aufzeigten, wie bildende Kunst und musikalische Festival-Diskurse in einen fruchtbaren Dialog treten können, ohne aufgesetzt zu wirken.
Freier Dialog war ohnehin ein weiteres, vorher nicht erdachtes Motiv des Festivals. Im Radio, vor der abendlichen Spielstätte, im Festival-Backstage: überall unterhielten sich Künstler*innen, Festivalmacher*innen, Journalist*innen sowie lokale Kiezbewohner*innen lebhaft miteinander und erschufen ganz nebenbei eine gelöste Atmosphäre, in der sich, ähnlich wie beim Meakusma in Belgien, die Grenzen zwischen den Gruppen auflösen zugunsten eines Miteinanders, das mehr im Zeichen der Musik an sich und nicht des Feierns mit ihr steht. Wer beim Seanaps Hysterie suchte, wartet weiter bis 2021.
Und wenn alles gut geht, wird es dann ein normales Festival geben. Was bedeutet: es gibt ein Nachtprogramm. Mit DJs. Mit Live-Shows. Mit positiven jungen Menschen aus Leipzig und Musik, die sicher nicht immer direkt auf die Tanzfläche schielt. Sollte sich nichts ändern, so sendet das Seanaps wieder sanft experimentierende Streaming-Signale durch eine immer noch vernebelte Festivallandschaft, deren Zukunft vielleicht genau in solch kleinen, in jedem Sinne nachhaltigen Festivals schlummert.