Dis Fig (Alle Fotos: Daniel Jarosch).
Die zehnte Ausgabe des Heart of Noise unter dem Motto Again Everything war zweifelsohne die beschwerlichste in der Geschichte des Experimental-Festivals mit, logisch, Noise-Einschlag. Besucher*innen, Organisator*innen und Künstler*innen versuchten sich im vielbeschworenen New Normal zurechtzufinden. Das gelang durchweg gut. Verantwortlich dafür waren ein durchdachtes Hygienekonzept, eine spannende wie flexible Kuration und natürlich die Auftritte selbst, die zu überzeugen wussten.
Subversion ist auf den ersten Blick nicht unbedingt die Spezialität Innsbrucks, der Hauptstadt des österreichischen Bundeslandes Tirol. Pittoresk umrahmt von Bergen, einer Skisprungschanze und mit Einwohner*innen, die Sportbekleidung tatsächlich um des Sports Willen zu tragen scheinen, wähnt man sich eher im hemdsärmeligen Selbstoptimierungsbiotop mit historischer Altstadt denn am Schauplatz eines der spannendsten Festivals für randständige Musik Europas.
Der erste Eindruck wird nochmals bestätigt, wenn man sich dem Musikhaus, dem Hauptschauplatz des Heart of Noise, am ersten Festivaltag nähert. Vor dem sterilen, dunklen Bau ist ein kleiner Fahrradparcours aufgebaut, neben dem sich Pedalsportler*innen vor einer Leinwand versammelt haben, um gemeinsam einem Livestream des Crankworx, einem Mountainbike-Festival, beizuwohnen. Daneben tummeln sich Anhänger*innen der Hochkultur, schließlich wird im monumentalen Landestheater just Der Freischütz aufgeführt.
Das Bermudadreieck der kulturellen Ausprägungen komplettiert die Jutebeutel-Fraktion, nicht selten ein Exemplar mit Heart-of-Noise-Aufdruck mit sich führend, die sich vorerst am Kubus aufhält. Das ist ein würfelförmiges Gebäude, das mit zwei gelungenen Installationen einen ersten Vorgeschmack aufs Festival gibt, ehe das Haus der Musik seine Pforten öffnet. Das geschieht um 20 Uhr mit einem kakophonischen und erstaunlich organischen Krach, bei dem sich sofort die üblichen Referenzen aufdrängen: Rammstein, Oomph!, Slipknot. Die wandelnden Unterhosen von Fuckhead um Frontmann Didi Bruckmayr schaffen es mit ihrer ekstatischen Mischung aus politisch-agitatorischem Geschrei, Riffs und spielerisch-melodiösen Passagen aber bereits als erster Act, einen großen Kontrast zum Rest des Line-Ups aufzumachen.
Das heterogene Moment, das die letzte Ausgabe unter dem unheilvoll prophetischen Motto Don’t Stop The Dance! noch ausmachte, ist dieses Mal nämlich nicht derart ausdefiniert. Ohrenbetäubender Noise, unstete Rhythmen und knarziger Ambient dominieren die Sitzkonzerte – immer einen Stuhl als Puffer! –, zu denen sich das Publikum durch zwei separate Eingänge einfindet. Unterschiede gibt es freilich trotzdem; Bei Peter Rehberg, dem Editions-Mego-Betreiber, und Tina Frank, die das V der AV-Performance übernimmt, baut sich der Sound behutsamer auf und verschmilzt mit den reduzierten Visuals zu einer trauten Einheit. Vladislav Delay, der Headliner des ersten Abends, setzt hingegen auf kunstvolle Konfrontation, reißt ab, wie man wohl bei den Crankworx-Folks vor der Türe sagen würde. Abrupt wandeln sich Musik und Visuals, letztere bilden die arktische Tundra ab und reißen einen Gegenpol zum stolpernden, ungemein druckvollen Sound auf, den der Finne anbietet. Ein Musterbeispiel dessen, was die zeitgenössischen Kunst gerne als immersiv abstempelt.
Am zweiten Tag wird das Festival, das schon im Voraus mit einigen Absagen aufgrund der Pandemie zu kämpfen hatte, einmal mehr durcheinander gewirbelt. IDM-Broken-Beat-Lichtgestalt Loraine James bleibt in England, dafür springt das Traurige Tropen Orchester, eine „Supergroup aus dem Hause [und in Innsbruck ansässigem Experimental-Label] Verschubu Rec.” ein. Auf der Bühne betreiben an die zehn Leute, die aussehen, als hätten sie schon in Waco gegen das FBI gekämpft, eigentümliche naturalistische Klangforschung und legen dabei – wenn wohl auch unbeabsichtigt – Schwachpunkt und Faszinosum elektronischer Livemusik zugleich offen: Was genau da oben passiert, ist unmöglich zu sagen, dass jede*r dabei allerdings eine sinnstiftende Aufgabe erfüllt, wirkt eher unwahrscheinlich.
Im Anschluss wird’s mit Oren Ambarchi, Mats Gustafsson und Eric Thielemans wieder vorrangig organisch. Ersterer bedient die Elektronik, der Schwede tut sich an seinen Saxophonen gütlich und Thielemans vibriert energisch auf dem Schlagzeugstuhl. Das Ergebnis betört, lullt ein und hat damit wohl den Effekt, den die Sektierer vom Tropen Orchester gerne erreicht hätten. Den Abend beschließt Dis Fig, die sich bereits vor dem Wechsel zum Bühnenoutfit mit einem System-Of-A-Down-Shirt erste Sympathien verdient. Ihr Set bestreitet Felicia Chen alleine, setzt dabei vor allem die Musik ins Zentrum und emanzipiert sich damit von der Leinwand – eine willkommene Abwechslung. Das Set selbst klingt erwartungsgemäß stark, franst Chens beeindruckendes Stimmvolumen, das immer wieder auf krachende Noise-Wände prallt, mit allerlei Effekten aus, ein dramatisch inszenierter Abnutzungskampf zwischen Mensch und Maschine. Die Herangehensweise erinnert dabei erstmals seit Fuckhead am Vortag an eine klassischere Konzertstruktur.
Am dritten Tag lädt Winfried Ritsch einmal mehr in den Musikpavillon des Hofgartens, fünf Gehminuten vom Haus der Musik entfernt. Hier, wo bereits am Nachmittag erste Auftritte stattfinden, die wabernde Nebelschwaden aus der Rauchmaschine adäquat untermalen, trifft sich quasi der harte Kern des Heart of Noise. Das sind diejenigen, die der Fülle an musikalischen Angeboten tapfer entgegentreten, zu Trance-Sound Dosenbier aus ihren Wägelchen verschenken oder, abseits des Trubels, eine gepflegte Runde Freiluftschach einlegen. Ritsch selbst hat die Elektrifizierung der Musik auf die Spitze getrieben. Mit stoischer Schrulligkeit kauert er hinter seinem Laptop und bedient damit einen ganzen Fuhrpark aufwendig verkabelter klassischer Instrumente. Das hat beileibe nicht nur exhibitionistischen Charakter, sondern klingt in seiner nimmermüden Wuseligkeit auch erstaunlich gut.
Im Haus der Musik beginnt mit Beatrice Dillon eine der prominentesten Künstlerinnen das Festival-Finale. Ihr Set hebt sich dabei in seiner kristallinen Klarheit deutlich von den anderen Performances ab. Hier überlagert sich nichts, die einzelnen Elemente aus Dillons pragmatischem Sound bleiben klinisch klar getrennt, stehen demokratisch nebeneinander. Ähnlich rigide die Visuals: Grell leuchtende Vierecke, die sich aneinander schmiegen, ohne ineinander überzugehen. Schwer greifbarer Noise ist hier nicht zu vernehmen, Dillons Performance ist so erfrischend aufgeräumt wie ihr spartanisches Setup, in dem ein Mac den Ton angibt.
Für Fans des szenischen, emotionalen Pops endete das Heart of Noise vermutlich in einem Desaster; Soap&Skin, die bereits als Ersatz verpflichtet war, sagte „aus persönlichen Gründen” ab. Statt zarter Traumreisen nach Italy stand plötzlich audiovisuelles Trommelfeuer des Duos Jung An Tagen & Rainer Kohlberger auf dem Programm. Ein Kontrast, der angesichts der schwer epileptoiden Visuals, die sich letztendlich in morbider Großstadtarchitektur auflösten, kaum hätte größer ausfallen können.
Das letzte Wort blieb Dorian Concept vorbehalten, auch er sprang als Ersatz-Act ein. Dafür spielte er eines der längsten Konzerte, seiner quietschig-bunten Electronica vermochte nur die Elektronik selbst einen Strich durch die Rechnung zu machen. Zweimal verstummte die Musik, beim zweiten Mal wurde der Übeltäter öffentlich angeprangert: „Es hat nicht zufällig jemand ein funktionierendes USB-C-Kabel dabei?”, fragte Oliver Johnson jovial ins Publikum.
Ein sympathischer und würdiger Abschluss eines außergewöhnlich intimen Festivals, das diesen Eindruck gerade in Pandemie-Zeiten erweckte. Dass das Heart of Noise an Ort und Stelle vieles richtig macht, bewies mit Markus Abwerzger ein Politiker der rechten FPÖ, der Partei, die auch Gestalten wie Heinz-Christian Strache hervorbrachte. Abwerzger schoss während der Pause zwischen den Sets ein Foto des wartenden Publikums vor dem Haus der Musik und verkaufte seinen Followern diese eher zweckmäßige Versammlung Frierender als bukolisches Gelage der Innsbrucker Bohème. Den Rechten ein Dorn im Auge, allen anderen eine willkommene Abwechslung in diesen Zeiten, die das New Normal eindrucksvoll mitdenkt. Again Everything – 2021 gerne wieder.