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Juli 2020: Die einschlägigen Compilations

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A Psychedelic Sensibility (Phantasy Sound) 

Die Compilation des Monats kommt von Erol Alkans Label Phantasy Sound. Gemixt vom Wahlberliner DJ John Loveless, verantwortlich für die Partyreihe Hot Concept und als John Thorp eine einflussreiche Stimme im Musikjournalismus der vergangenen Dekade, erkundet A Psychedelic Sensibility die weniger offensichtlichen Ecken, Winkel und Gänge des stadtviertelgroßen Gebäudes, das Alkan in den vergangenen 13 Jahren mit Phantasy Sound auf die Landkarte der Clubkultur gestellt hat. Zwar sind mit Daniel Avery („Diminuendo“), James Welsh („D974“) oder Ghost Culture („Meltwater“) auch zentrale Label-Acts vertreten, Alkan selbst fehlt natürlich ebenfalls nicht (sowohl als Producer, etwa in Form seines Duo-Projekts Beyond The Wizards Sleeve mit Richard Norris oder seines Team-ups mit Switch wie auch als Remixer), doch das Hauptaugenmerk liegt hier auf den entlegeneren Tunes des straff auf das 100. Release zusteuernden Katalogs. Stellvertretend für derart übersehene Perlen seien Fan Deaths „Veronica’s Veil“ im „Erol Alkan Rework“ oder „Ascension Hymn“ von U, der Centertrack des die Compilation begleitenden, ausgezeichneten Mixes, genannt. Die für Phantasy Sound charakteristische Ambivalenz zwischen elektronischer und elektroakustischer Musik, zwischen electroidem Techno und kosmischem Krautrock, zwischen Track und Song, wird von Loveless gekonnt in Szene gesetzt. Zudem nimmt die Acid-Konzentration mit fortschreitender Laufzeit konstant zu. Ein Mix, der die Relevanz von Alkans Label nachdrücklich unterstreicht. Harry Schmidt 

Now York Dance Music IV (Towhead Recordings) 

Towhead RecordingsNew York Dance Music IV reiht sich an vierter Stelle unter die hauseigen, seit März erschienenen Compilations. Wieder vereint sich auf dem Release die musikalische créme de la créme der Stadt, darunter MoMa Ready, DJ Swisha oder AceMo, der neben einem Solotrack gleich einen Weiteren mit Color Plus beisteuert. Changierend zwischen Lofi-House, Breakbeat und Juke ist der klare Bezug zum Dancefloor zwar deutlich, dennoch lässt sich die Compilation auch gut zu Hause hören.  

Den Auftakt macht Devoye mit „If You Dance Once…”, ein grooviger Housetrack im NY-Style. Die Melodien rauschen im Sidechain zur legéren Kick in Dominantsept-Akkordfolgen voran, während die Drums off-the-grid zum Zurücklehnen einladen. Auch Kush Jones‘ „The World Sounds” liefert entgegen der Juke-Tracks auf den vorangegangenen Towhead-Releases einen verspielten, housigen Sound. Zuerst gewöhnungsbedürftig, dennoch ausdrucksstark, legt Bergsonists unmelodische Einlage „Symptoms” das club-atmosphärische Fundament für die folgenden Tracks, für TAH x JWords mit „Path Train to Miami” und James Banguras „Finesse The Oppressor“. 

Nicht wegzudenken für den New Yorker Sound dürfte inzwischen DJ Swisha sein. Zusammen mit OSSX kombiniert er in „Wolmart” ernsthafte Grooves mit skeptischen Vocals und bewegt sich damit auf einem schmalen, aber überzeugenden Grat zwischen seriöser und amüsanter elektronischer Musik. MoMA Ready erreicht mit seinem Faible für Breakbeats energiegeladen einen Höhepunkt und markiert mit „Irregular Codec Strain” ein halsbrecherisches Highlight. 

Stilistisch rätselhaft bleibt „No Flight Vaccine” von DJ NJ DRONE.  Aufgeregt saugen einen die Fragmente an Drums und Synths in einen tiefen Sog, der tatsächlich an eine Flugkrankheit erinnert. Im Club dazu abzugehen ist vorstellbar und würde obendrein sicherlich für die eine oder andere illegale Tanzeinlage sorgen. Nicht auszulassen ist ebenfalls AceMo mit „Got 2 Believe”, ein trügerischer Juke-Beat im Wechselspiel mit einem straightem Beat. Ein Versäumnis ist auf New York Dance Music IV allein, dass bei den 20 Tracks mit JWords und SUCIA! gerade mal zwei Künstlerinnen dabei sind. Julian Eichelberger 

Stimulus Swim (Hyperdub) 

In diesem verkorksten Sommer von Erdbeerfeldern zu singen wäre ja eher zynisch. Auf dem Cover des Hyperdub-Mixtapes Stimulus Swim sind ein paar der Früchte in etwas Braunes getaucht und man kann nur hoffen, dass es Schokolade ist. Das sieht zwar recht lecker, jedoch generell recht düster aus. Passend zur Zeit und passend zum sophisticateten Hyperdub-Sound: Silvia Kastels „Ormai“ mit 80s-Synthies, Streichern, die an Aphex Twin gemahnen, quirky und sonnige Clubmusik für den Kopf, jedoch freilich nicht ohne leicht verstörende Soundbites. Lawrence Leks Beats auf „One Nation“ sind herrlich pfiffig komponiert, die spärlichen Tastentöne und die schwer verständlichen, vermutlich chinesischen Sprachfetzen lassen ein melancholisches Großstadtbild entstehen. Da ist sie endlich, die durch das Coverbild erwartete Stimmung, jetzt in Reinform. Zuckersüß und herzzerreißend. Verspielt, düster und aggressiv stammt „Jackie Chan“ von der großen Lady Lykez, hier gemeinsam mit Logan Olk, Dizzle Kid, Jammz Scratcha und DVA. DJ Tres „Concept track“ klingt dann allerdings einfallslos hingehauen. Etwas mehr gibt das drum’n’bassige „Microdancing or something“ von Loraine James her. Superschnell und dazu schöne Melodien. Den Abschluss macht Klein mit „Arese“, einem dunklen Klavierstück, dass sich in einen noisigen, verschwimmenden Nebel verliert. Lutz Vössing

HOA010 & 11 (Haus of Altr) 

Die zwei dicht in Folge veröffentlichten Compilations HOA010 und HOA011 des New Yorker Labels Haus of Altr, das laut des Gründers MoMA Ready “junge, schwarze Produzent*innen und deren gerechtere Zukunftsvisionen fördert”, kann historisch gesehen mit dem Detroiter Underground Resistance-Label verglichen werden. Analog zu UR geht es bei dieser kollektivartigen Ansammlung von internationalen Künstlern – mit Galcher Lustwerk und Quavius sind auch einige bekanntere Produzenten vertreten – um Black Empowerment durch elektronische Musik. Schwarze Panther in der Cover Artwork legen den popkulturellen Verweis zum Afrofuturismus und den linksradikalen Zweig der Civil Right Movements nahe. Allerdings ist es in der Geschichte der afroamerikanischen und afrobritischen Tanzmusik relativ neu, dass schwarze Musiker die eigene Musikhistorie nicht radikal weiter entwickeln, sondern mehr oder weniger komplett kopieren. Diese Musik-Innovationen auszubeuten war bisher – vom Dixieland Jazz über Elvis Presley bis zum europäischen Geisteswissenschaftler-/Künstlerstudenten-Techno – eher eine unschöne und weiße Appropriations-Strategie. Der Hoheitsanspruch über die eigene Kulturhistorie zwischen Detroit, Chicago, New York und London steht den Musikern des HOA-Hubs dennoch außerordentlich gut. MoMA Readys manifestartige Sätze wie “Back once again, we assume the role of vanguard in the war against white supremacy in electronic music“ sind im Kontext der US-amerikanischen EDM und Techhouse besonders leicht nachvollziehbar. Entwickelten sich einst aus dem Sampling der 1980er und 1990er Jahre noch neue Musikgenres, wird heute Bandcamp mit über 40 Breakbeat- („More Femme, More Masc”), Jungle- („Passion”), Miami Bass- („Chemistry”), Techno- („Not My Problem”), Garage- („STROBIN ZDADDY”), Deep- („Beat Craze”) oder Acid-House-Kopien („Suburban Crime Jackers”). Wie früher im New Yorker Disco-Kontext üblich ist, geht es neben der Musik auch um andere soziokulturelle Phänomene. Im Fall von HOA sind Skaten und die Förderung sozialer Bildungsprojekte Teil der Label-Arbeit. Das erklärte Ziel von HOA010 ist ein Crowdfunding für das Medienkunst Festival Afrotechtopia und die POC-Transgender-Platform Forthegworls. Kennt man die Historie der New Yorker Tanzmusik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist das besonders stimmig. Denn seit den 1960er Jahren wurden diese Szenen durch queere Lebensrealitäten und deren Kultur vorangetrieben. So ist der Begriff “HAUS of” im HAUS of ALTR eine Analogie zur New Yorker 1980/90er-Jahre Ballroom-Szene. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die Compilation auch zwei hochgepitchte New Yorker Garage-House-Anthems der 1990er Jahre als trendige Breakbeat-Versionen enthält („Heaven”/  „New Luv”). Zukunftsaffirmativ stellt sich Chris Richards von der Washington Post die Compilation „als Metapher für den menschlichen Fortschritt” vor, in der „die flotten Tempi der Musik Sinn zu generieren” beginnen. Es wird sich zeigen, ob diese Wucherung eine reine Informationsredundanz ist oder nachhaltig Lebensrealitäten verändert. Mirko Hecktor

Hot Steel (Trip) 

Was am 3. Mai als Stream begann, hat sich zur ersten Ausgabe einer neuen digitalen Compilation-Serie entwickelt. Die nennt sich Hot Steel und erscheint auf трип Recordings. Das Konzept dieser Reihe ist denkbar einfach. трип-Chefin Nina Kraviz kündigt einen Stream an. Dafür startet sie einen Aufruf an Künstler*innen, ihre eigenen, unveröffentlichten Tracks zu schicken, dabei sind alle Genres willkommen. Nachdem der Stream stattgefunden hat, veröffentlicht sie ihre Lieblingstracks einige Wochen später auf Hot Steel

Zum Einstieg in die Serie präsentiert Hot Steel neue Talente und bereits etablierte Künstler*innen aus aller Welt. Von Neuseeland bis in die USA, nach Kanada, Spanien, Italien, Belgien, Deutschland, Polen, Frankreich, Niederlande, von Georgien bis Russland sind diverse Länder dabei. 

Die Zusammenstellung reicht von schwereren Techno-Tracks wie Golden Virgo’s Axexo Ultimo bis zu experimentelleren Tracks wie Shuttas Pesochni Chelovek. Gemeinsam haben alle Stücke der Compilation eine gewisse Einzigartigkeit, die mit dem typischen трип-Sound verschmilzt. Die Compilation beginnt mit einem ruhigeren, an klassische Filmmusik erinnernden Beitrag von K-HAND, der dann an Wave Corners groovigeren, vokal getriebenen Track „Even Mike“ übergibt, der wiederum von Dissolver remixt wurde. Von dort an lebt Hot Steel seine schwereren Techno-Träume mit Beiträgen von LUCKER und m.o.d.u.l. Machine aus.

Die Zusammenstellung ist eine Mischung aus rasanten Techno-, Experimental- und Ambient-Beats, was Kravitz Anforderung, einen möglichst großen Genre-Pool einzubeziehen, gerecht wird. Mit verzerrten Vocals und einem melancholischen Riff verleihen Tracks wie „She Hopes I’m A Dancer” von Voyager Solar System Hot Steel einen überzeugenden Retro-Touch. Alles in allem zelebriert die Compilation die gleiche Stimmung wie ein Nina Kraviz-Set: Langsamere Ambient-Tracks treffen auf starke Industrial-Beiträge und klassische, rasante трип-Klassiker. Nina Kraviz eigener Beitrag zur Compilation, „x3“, ist ein neun Minuten langer Track, der einen auf mehr warten lässt. Mit seinem hämmernden Beat und Bass, zeigt „x3“ Potenzial, erfüllt aber nicht alle Kriterien, die ihn zu einem bahnbrechenden Stück machen könnten. Johanna Urbancik 

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