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Stenny: Das unkalkuliert Spontane

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Alle Fotos: Emanuele Porcinai (Stenny)

Unser Autor Mirko Hecktor ist als Veranstalter und Macher des Super Paper Mags schon lange Teil des Münchner Nachtlebens. Den Ilian Tape-Act Stenny kennt er schon, als dieser gerade von Turin nach München gezogen war. Zum Release seines Debutalbums haben sich die beiden über seinen Werdegang unterhalten.

Vor drei Jahren fragte ich Stenny während einer illegalen Clubnacht in der Nähe des pittoresken Münchner Viktualienmarkts, was gerade der heiße Scheiß sei. Ironisch antwortete er: „170 BPM.“ Mitte November 2019 erschien sein neues Album Upsurge auf Ilian Tape. Deutlich merkt man drei Jahre später: Der heiße Scheiß ist nicht mehr ganz so speedy, aber immer noch deutlich auf UK-Jungle-Tempo. Upsurge überzeugt aber auch mit harmonisch, lieblichen bis dystopischen Ambient-Klängen, rohen, deep-dumpfen und analogen Techno-Kickdrums und klassischem Dub-Techno-Feeling. Damit trifft er zielsicher ins Zentrum des weiter anhaltenden Rave-Revivals der letzten Jahre.

Stenny kommt ursprünglich aus Turin. Dort hat er neben seiner – im Alter von 13 Jahren früh entdeckten – Leidenschaft für elektronischen Musik neben dem Auflegen und Produzieren auch in der Baufirma seines Vaters als Elektrotechniker gearbeitet. Down-to-earth sitzen wir in einer bayerischen Holztisch-Kneipe auf der Dachauerstraße stadtauswärts, zwischen West-Schwabing und dem ehemaligen Arbeiterviertel Neuhausen. Hinter Stenny hängt ein mattsilberner Bleiteller mit Sägezahn-Rand. Der erinnert mich an ein US-Label in meiner Plattensammlung. „An welches bloß?”, frage ich. Stenny: „Cutting Records!” Mit der Antwort meistert er spielend eine Credibility-Runde. Ähnlich geht es weiter, als wir uns über analoge Synthesizer unterhalten.

Ganz klassisch ohne Internet kommt er im Jahr 2001 zur elektronischen Musik. Eher zufällig – ohne Mentor – beschäftigt er sich immer wieder mal mit Beatmaking-Demo-Software. Mit 15 Jahren, er geht auf ein Kunst-Gymnasium, erlebt er seine ersten Gabba-Hardstyle-Partys. An sonntäglichen Nachmittagen sieht er auf diesen Events zum ersten Mal DJs live und das fasziniert ihn. Ab diesem Zeitpunkt hängt er oft im Ultrasonic Plattenladen in Turin ab. Der Besitzer Claudio zeigt ihm neue und ältere Scheiben, und so entdeckt er nach und nach auch „wertvollere, zeitlosere Musik”.

Seine Vorlieben haben jedoch keine klaren Kriterien. Er mag computergenerierte genauso wie analoge Sounds oder auch den Klang von selbst gebastelten Max/MSP-Patches. Hauptsache die Musik ist lebendig. Deshalb soll seine eigene Musik auch nicht perfekt produziert klingen. Er sucht nach dem „speziellen Aspekt” einer Platte. Ein Beispiel kommt ihm auch in den Sinn: „DJ Rushs Platten haben die Charakteristik, dass sie den Beat cutten und dann einfach wieder out-of-beat anfangen. Sie orientieren sich nicht an einer funktionellen Ästhetik. Sie sind einfach so wie sie sind.”

Als Stenny nach dem Abitur an der Politecnico di Torino Architektur studiert, wird ihm klar, dass ihn sein Studium nicht so sehr interessiert, wie die Auseinandersetzung mit elektronischer Musik. Kurzerhand bricht er nach zwei Jahren das Studium ab. Architektur und Sounddesign klingt nach Detroit-Klischee, das ist Stefano bewusst, und trotzdem gibt es für ihn Annäherungen zwischen den beiden Feldern. Es geht um Studioarchitektur oder Klangoptimierung durch Raumgestaltung: „Ich bin an Technologie interessiert. Dinge zusammen stöpseln, Software und analoge Maschinen. Ich liebe seit jeher das unkalkuliert Spontane”. Im Studio geht er ähnlich ans Werk. Er lässt den Flow über seine Maschinen walten.

„Ich liebe seit jeher das unkalkuliert Spontane.”

Es dauert Jahre, sein Studio zu bauen, und seine Produktionen sind lange Zeit „learning by doing – mit wirklich billigem Zeug. Ich konnte mir nur ein Gerät pro Jahr kaufen. Erst einmal kam die Soundkarte, im nächsten Jahr dann die Lautsprecher. Meine erste DAW war eine Pirate-Copy, die alle 20 Minuten neu gestartet werden musste.”

Das ist natürlich charmant, wenn sich jemand über Jahrzehnte mit der Musik und der Technologie auseinandersetzt, bevor er in den öffentlichen Fokus gerät. Sofort rutscht mir der Realness-Begriff über die Lippen, der natürlich auch wieder herrlich zum Image des Technoproduzenten passt. Irgendwann kaufen Stefano und Andrea, sein Ilian Tape-Kollege, mit dem er sich damals das Tonstudio in Turin teilt, die obligatorische Roland TR-909. Einige Zeit später muss diese wieder aus Geldnöten aber verkauft werden. Das bedauert er bis dato und fügt hinzu: „Heute ist mein wichtigstes Accessoire im Studio – neben meinem Elektron-Synth – ein Ultraschall-Aromadiffusor von meiner Freundin.” Welcher Duftstoff den besten Flow entwickelt, will er schmunzelnd nicht verraten.

Stenny by Emanuele Porcinai

Im Jahr 2013 spielt er seine ersten internationalen Gigs in München. Und weil er gerade seine erste Veröffentlichung beim Münchner Vorzeige-Techno-Label Ilian Tape hatte und in der sprichwörtlich nördlichsten Stadt Italiens neue Kumpels und schließlich seine Freundin kennenlernt, entscheidet er sich dort zu leben. In Turin gibt es damals keinen Club mit eigener Identität oder professionellem Booker. Die Clubszene ist dort eher von Promotern gekennzeichnet. Für ihn scheint es der falsche Ort, um seine Karriere als DJ und Produzent voran zu bringen. Stefano hatte Marco und Dario Zenker, die Gründer des Ilian Tape-Labels, bereits im Jahr 2011 während ihrer damaligen Italien-Tour als ihr Fahrer in Turin kennen gelernt. Sie tauschen Kontakte aus, er schickt ihnen immer wieder seine Produktionen und ab 2013 finden Marco und Dario seine Musik  so gut, dass sie sie veröffentlichen. Die Zenker Brüder arbeiten damals nebenbei im legendären Optimal Recordstore des Münchner Urgesteins DJ Upstarts (Disko B, Ultraschall, Rote Sonne) im Münchner Glockenbach Viertel. Mit Stennys Background dauert es nicht lange, bis er selbst die Techno-Abteilung betreut.

„Ich spiele die Tracks, so wie sie produziert wurden. Ohne Sync-Button. Ich spiele auch nicht vier Nummern gleichzeitig.”

Als DJ spielt Stenny hauptsächlich Vinyl und mischt gerne verschiedene elektronische Stile. Vorausgesetzt, die Set-Ups und Anlagen der Clubs lassen es zu. Für Platten geht bis heute ein Großteil seines Einkommens drauf. Seine Sets plant er nicht im voraus. Er charakterisiert sie als „alte Schule. Ich spiele die Tracks, so wie sie produziert wurden. Ohne Sync-Button. Ich spiele auch nicht vier Nummern gleichzeitig.”

Seinen Stil beschreibt er selbst als Mischung zwischen Main-Room-Radikalität und atmosphärischer, Groove-basierter, delikater Warm-Up-Smoothness. Beides zur richtigen Zeit – darauf legt Stenny wert. Er betont die Unterschiede zwischen WAV-Files und Vinyl, obwohl er beiden Formaten etwas abgewinnen kann: „Die Soundqualität ist anders, klar. Aber wichtiger ist, dass man mit Platten völlig anders auflegt. Jeder, der Vinyl spielt, weiß, dass man wesentlich weniger Zeit hat, um auf bestimmte Einflüsse zu reagieren. Bei Übergängen musst du physisch Platten durchsuchen. Und das dauert. Du agierst aber viel spontaner, denkst und handelst schneller. Es ist ein anderer Rhythmus. Du bewegst dich hinterm DJ-Pult. Mit Files auf CDJs scrollt man durchs blinkende Display und der Körper steht stundenlang an der gleichen Stelle.” Diese Haltung kann man nicht so einfach als Kulturpessimismus abtun. Verschiedene Technologien erschaffen eine unterschiedliche Körperlichkeit und damit auch ein anderes Soziales im Club.

Diese Gedanken leben auch in den Titeln seiner Tracks weiter, die zwischen Mystik, Depression, Futurismus und Astrophysik angesiedelt sind: „Surface Hoax”, „Ruins”, „Corrupt 506”, „Sensitive Habitat”, „In A Distant Light” oder „Fail Better”. Die eigenen Produktionen spielt er aber selten im Club. Denn Stefano hat eine schwierige Beziehung zu seiner Musik. Er kann sich haargenau vorstellen, wie sie klingen soll. Am Punkt der exakten Umsetzung seiner Vorstellungen ist er aber noch nicht.  Der Produktionsprozess führt ihn oft dahin, wo er ursprünglich nicht hin wollte. Er ringt nach Worten und erklärt das Phänomen einmal als „work-in-progress”, aber auch als „Minderwertigkeitskomplex”. Er sieht seine Produktion als eine Art Echo und Reaktion auf seine Gefühle, zum Beispiel auf schwierige Zeiten und sehr persönliche Momente. Wenn er glücklich ist, denkt er nicht nach, dann produziert er einfach drauf los. Ist er deprimiert, fühlt er den Druck, Tracks fertigstellen zu müssen. Bewusst hält er seinen Output gering, und arbeitet im Jahr dennoch an circa 100 Tracks. Ein Bruchteil – weniger als 10% – wird veröffentlicht.

Bei einem Œuvre von nur sechs Maxis und dem gerade neu erschienen Album in den letzten sechs Jahren ist es erstaunlich, dass Stennys Tour-Kalender in den nächsten zwei Monaten mit Gigs in Brüssel, Vancouver, New York, Mexico City und Genf voll gepackt ist. „Ich interessiere mich nicht für Business, sondern Musik. Wenn der Erfolg kommen sollte, ist das natürlich großartig. Das will ich aber nicht planen. Wenn man Musik produziert, um erfolgreich zu sein, ist das der falsche Weg. Der Sound wird vorhersehbar. Ich will die Dinge nach meinen persönlichen Vorstellungen anpacken. Hoffentlich bringt mich das dorthin, wo ich hingehöre”, fügt Stenny selbstbewusst hinzu.

Die Dinge nach seinen persönlichen Vorstellungen anpacken – das ist die Kernaussage, die Stenny mit dem „speziellen Aspekt einer Platte” meint. Die Kompromisslosigkeit der subjektiven Notwendigkeit, das sucht er in sich und auch bei anderen Künstlern: „Es gibt keinen Grund für den nächsten floor-breaking Tune, davon gibt es viele. Der Transfer deiner Persönlichkeit in deine Musik – darum geht es. Ich denke, dass können andere Menschen auch spüren. Das ist es, was einen Künstler ausmacht.”

Stenny by Emanuele Porcinai

Ähnliche Gedankenspiele beschreiben auch sein club-kulturelles Ideal. Stenny hört epische DJ-Journeys gerne nicht nur von Headlinern, sondern auch von No-Name-DJs oder dem Local Support vor seinem Slot. Er mag gute Gespräche mit Unbekannten und das nächtliche „Verloren gehen”, punkige Läden, aber auch einen gewissen Bildungsauftrag im Nachtleben: „Man kann den Menschen erklären, dass es nicht cool ist, auf der Tanzfläche die Handy-Kamera vor einen DJ zu halten. Aber Handys zu verbieten oder eine No-Photo-Policy einzuführen, ist auch nicht cool.“

Ebenso so beschäftigen die Details des Interior-Designs in Clubs, die wenigen Gästen auffallen, und er versteht unreglementierte Orte, die kein bestimmtes Verhalten vorschreiben, als gesellschaftliche Errungenschaft, die beschützt und erhalten werden muss. Ihm gibt das ein Gefühl von Freiheit. Mit einer Grenze: Niemand darf andere Menschen körperlich oder geistig in irgendeiner Form verletzen.

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