Foto: Christian Hedel (Melt Festival)
20 Jahre, das ist für ein Festival ein stattliches Alter – vor allem für eines, das sich wie das Melt Festival in den letzten zwei Jahrzehnten vom verschworenen Rave der Berliner Szene zu einer internationalen Hausmarke hochgearbeitet hat. Grund genug, um mit Stefan Lehmkuhl zu sprechen, der seit geraumer Zeit als Chef-Booker das Programm in der Stadt aus Eisen aktiv mitbestimmt und auch kritischen Nachfragen nicht ausweicht.
Stefan, das Melt wird dieses Jahr 20 Jahre alt. Wie werden Jubiläen denn traditionell bei euch begangen?
Wir haben nie ein großes Ding daraus gemacht. Im Prinzip ist das 20. genauso schön wie das 19. oder das 23. Melt. Wir wollen die Erwartungshaltung an alle Beteiligten nicht noch zusätzlich erhöhen.
Wo liegt denn eigentlich der Quell allen Ursprungs?
Entstanden ist das Melt 1997 als eintägiges Techno-Festival. Die Gründer betrieben in Berlin unter anderem die Pfefferbank (heute Bassy Cowboy Club, Anm. d. Red.) und den Plattenladen Melting Point. Vertreten waren zu Anfang also vorwiegend lokale Künstler wie Ellen Allien oder Ben Klock. 1999 stieß einer der damaligen Veranstalter zufällig auf Ferropolis. Dort ist das Melt zu einem Multi-Genre Festival herangewachsen. Zunächst gab es noch einen Tag an dem Techno gespielt wurde und einen Tag, an dem Bands auftraten. Als ich 2004 dazugekommen bin, war die erste Losung, alles konsequent auf den Bühnen zu vermischen. So hat das dann seinen Lauf genommen.
Du hast es gerade schon angedeutet, die Jahre 2003 und 2004 haben einen Umbruch bedeutet. Was ist damals schief gelaufen und welche Konsequenzen wurden daraus gezogen?
Es gab es zwei, drei Jahre Pech mit dem Wetter. Eine Konsequenz war, dass wir vom Juni in den Juli gegangen sind und jetzt am statistisch heißesten Wochenende in Deutschland veranstalten. Ferner führte der Anspruch, mehrere Genres auf diversen Bühnen abzudecken, zu drastisch wachsenden Kosten. Aus Respekt vor dem finanziellen Risiko entschied das Kollektiv ein Jahr zu pausieren und das Konzept zu überdenken. Ich arbeitete zu diesem Zeitpunkt beim Intro Magazin und beim Festivalguide, wo ich mit den Medienkooperationen betraut war. Wir sind eingestiegen, da uns das Festival am Herzen lag und die Crossover-Schiene gut zum Ethos unseres Heftes passte. Auch wenn der finanzielle Druck zum ständigen Begleiter wurde lag doch ein solcher Vibe in der Luft, der uns zum weiterzumachen bewog.
Hat sich das Publikum durch die Umstrukturierung verändert?
Es hat sich in erster Linie verbreitert und ist inzwischen international durchmischt. Der Kern der Leute dürfte jedoch insofern gleich geblieben sein, da deren gemeinsamer Nenner immer der Musikgeschmack war. Es entstand jedes Mal das Gefühl, dass die Leute hier alle gute Freunde sein könnten.
Welche Herausforderungen erlebst du in deinem Job – wie sieht es beispielsweise bei der Entwicklung der Gagen aus?
Vermutlich ist jeder Festivalbetreiber von Jahr zu Jahr steigenden Kosten ausgesetzt. Die Gagen sind ein Aspekt und haben sich in den vergangenen zehn Jahren annähernd verdoppelt. Noch deutlicher wird es jedoch im Produktionsbereich und den durch uns zu erfüllenden Auflagen von Seiten der Behörden. Löhne und GEMA-Abgaben steigen, die Versicherungen werden teurer. Dazu kommen Ausländersteuer oder die Künstlersozialkasse. All das geht vom Preis eines Tickets ab, bevor überhaupt eine einzige Band bezahlt ist. Diese Entwicklungen haben uns und viele andere Veranstalter quasi dazu gezwungen, sich zu professionalisieren.
Stichwort Professionalisierung. Ist eure Agentur Melt Booking im Preiskampf ein Ass im Ärmel, den andere Festivals nicht haben?
Gerade im internationalen Bereich gibt es viele Crews und Unternehmen die nicht nur ein Festival etabliert haben. Die Branche ist ein risikoreiches Geschäft. Es ist daher sinnvoll, seine Existenz nicht nur auf einem Standbein aufzubauen. Sobald entsprechende Strukturen und Mitarbeiter vorhanden sind ist es gar nicht so ungewöhnlich, dass Ressourcen verteilt und neue Felder erschlossen werden. So haben auch wir mit stetig zunehmenden Kontakten zu diversen Künstlern damit begonnen, zusätzliche Shows innerhalb Deutschlands zu organisieren und irgendwann ganze Tourneen koordiniert. Das hat so gut funktioniert, dass sich uns mehr und mehr Künstler ganzjährig für Deutschland anvertraut haben. Daraus ist 2008 Melt Booking entstanden. Das die Agentur an das Festival angegliedert ist kann ein Vorteil sein, jedoch sind wir da nicht die einzigen.
Wie gestaltet sich der Konkurrenzkampf mit anderen Festivals?
Es gibt inzwischen weltweit so viele Festivals, dass insbesondere der Kampf um die Künstler zunimmt. In Nord- und Südamerika oder Asien war die Festivalkultur vor 10 Jahren noch nicht so ausgeprägt wie sie das heute ist. Dadurch haben sich Allianzen gebildet, die sich untereinander abstimmen. Insbesondere die Festivals die am selben Wochenende veranstalten. Auch ich habe meine Verbündeten. Da wird dann gemeinsam geschaut, ob nicht dieser oder jener Künstler dort den Freitag macht und dann am Samstag zu uns kommt. Den Künstlern und Agenten präsentieren wir das mundgerecht. Trotzdem haben die in der Regel nicht nur unsere Angebote auf dem Tisch, sondern noch 10 weitere aus vielen anderen Ländern. Da gibt es nur die Möglichkeit als Festival mit gutem Ruf aus der Menge herauszustechen, in der Hoffnung, dass vielleicht unter der Prämisse auf eine gute Zeit auf eine höhere Gage verzichtet wird. Was den deutschen Konkurrenzkampf angeht, lässt sich das eher als kollegiales Miteinander beschreiben. Wir sitzen bei vielen Fragen im selben Boot Es bietet sich also an, über Probleme gemeinsam zu sprechen.
Fällt dir spontan ein klassisches Fiasko oder ein besonders schöner Moment ein?
Die Bühnen auf dem Melt laufen abgesehen vom Sleepless Floor bis 7 Uhr morgens. Als Tiga 2009 das Closing auf der zweitgrößten Bühne spielte, waren bestimmt noch an die 7000 Gäste dort. Nachdem das Set zu Ende war, schnappten sich die musikhungrigen Leute vom Plastikbecher bis zu Zeltstangen alles, was sie in die Finger bekamen, und fingen an zu trommeln. Das verbliebene Publikum tanzte bestimmt noch eine halbe Stunde zu seinem eigenen Beat. Daraus ist die Idee entstanden, morgens um 7 einen Truck mit Band über das Gelände fahren zu lassen, der die Leute von den Bühnen abholt und im Schlepptau zum Sleepless Floor und weiter zum Campingplatz bringt.
Inwiefern kannst die oft geäußerte Kritik des Overbrandens des Festivals nachvollziehen?
Da kann ich eigentlich nur um Verständnis werben. Es mag Festivals geben, bei denen das nicht so ist. Dort steht dann jedoch vielleicht auch eher das Erlebnis an sich im Vordergrund und das Line-up spielt eine nicht ganz so große Rolle. Wir haben immer besonders viel Wert auf spannende und zeitgemäße Künstler gelegt und die haben ihren Preis. Wenn gänzlich auf Sponsoren verzichten, würde sich das eben entsprechend im Ticket-Preis widerspiegeln müssen. Wenn ich wüsste, dass den Leuten das lieber wäre, würde ich darüber natürlich nachdenken. Dennoch versuchen wir unsere Partner zu sensibilisieren, dass sie sich keinen Gefallen damit tun, ihre Produkte vor Ort zu aggressiv zu bewerben. Ich denke das gelingt uns. Auf diese Weise können wir Inhalte finanzieren, die wir uns sonst nicht leisten könnten. Das hat auch einen Mehrwert für den Besucher.
Auf welchen Act freust du dich dieses Jahr besonders?
Da ich das gesamte Line-up mehr oder weniger selbst buche ist diese Frage total schwer zu beantworten. Phoenix ist ein persönlicher Favorit von mir, deswegen freue ich mich jedes Mal besonders wenn sie zu uns kommen. Auf kleinere, weniger bekannte Acts freue ich mich meist aber noch mehr. Denque Denque Denque auf der Melt! Selektor-Stage würde ich zum Beispiel gerne sehen oder Kiddy Smile aus Paris. Das sind so die Sachen auf die ich Bock habe dieses Jahr. Bonobo natürlich auch oder die Liveshow von Richie Hawtin oder… Das ist echt schwer. (lacht)
Schwirren euch Ideen im Kopf herum, die mittelfristig noch umgesetzt werden sollen?
Wir wollen dem Bereich Kunst noch mehr Gewicht verleihen. Wir zeigen dieses Jahr unter anderem Feed, eine Installation von Kurt Henschlager im neu aus der Taufe gehobenen Melt Art Space. Außerdem bauen wir im Wald einen Bereich aus, den wir letztes Jahr eröffnet haben. Das ist direkt am Wasser und dort gibt es verschiedene Lichtungen auf denen vom Kino bis zu einem zusätzlichen Floor verschiedene Dinge passieren werden. Das geschieht in diesem Jahr in Zusammenarbeit mit dem Sisyphos aus Berlin. Auch musikalisch gibt es sicher noch einiges das ich gerne umsetzen würde, gerade im Bereich Hip-Hop.
Gibt es einen Künstler den du gerne nochmal auf dem Melt hättest, bisher aber noch nicht bekommen hast?
In Form von Thom Yorke waren sie ja zumindest schon mal halb da. Er hatte mit Atoms For Peace gespielt. Ich würde mich aber riesig freuen, wenn er eines Tages auch nochmal mit Radiohead zu uns kommen würde.
Groove präsentiert: Melt! Festival 2017
14. bs 16. Juli 2017
Line-Up: Adam Beyer, Agents Of Time, Agoria, Âme b2b Rødhåd, Andrea Oliva, Andy Butler (DJ), Aurora Halal (Live), B.Traits (Pre-Party), Bassdee, Barker & Baumecker, Ben Frost (Live), Bicep (Live), Bilderbuch, Bjarki (Live), Bonobo (Live), Cinthie, Catz ’N Dogz, Claptone, Courtesy, Dan Beaumont, Daniel Avery, Dave, Davis, Dekmantel Soundsystem, Denis Horvat, Denis Sulta, Dengue Dengue Dengue, Die Antwoord, Dixon, DJ Deep, Dolan Bergin, Ed Ed (Pre-Party), Egyptian Lover, Elisabeth, Ellen Allien, Fatboy Slim (Pre-Party), FJAAK, Francois X, Glass Animals, GusGus, Haiyti, Hercules & Love Affair, Honne, HVOB & Winston Marshall, Jennifer Cardini, Jimi Jules, Job Jobse, Jon Hopkins (DJ), Jonas Rathsman (Pre-Party), JP Enfant, Julia Govor, Kamasi Washington, Kate Tempest, Kiddy Smile, Kölsch (DJ), Konstantin, Konstantin Sibold, Lakuti, Lil Silva, Lorenzo Senni (Live), M.I.A., Maceo Plex, Maggie Rogers, Mall Grab, Marcel Dettmann, Marie Davidson (Live), Massimiliano Pagliara, Michael Mayer, MK, MØ, Modeselektor (DJ), Monoloc, Mutiny On The Bounty, Nao, Noga Erez (Live), Phoenix, Radio Slave, Rampue (Live), Recondite (Live), Red Axes, Red Rack’Em, Richie Hawtin (CLOSE), rRoxymore, Sampha, Skatebård, SOHN, Sonja Moonear, Soulection (Joe Kay, Jarreau Vandal, Hannah Faith, Andre Power, The Whooligan), Soulwax, Sylvan Esso, Tale Of Us, Tereza, The Kills, The Lemon Twigs, Tijana T, tINI, Tom Misch (Live), Tony Humphries, Trikk, Volvox, Von Wegen Lisbeth, Warpaint, WhoMadeWho (DJ), Zebra Katz (Live), Zopelar
Tickets: ab 140€
Ferropolis
Gräfenhainichen (Sachsen-Anhalt)