Fotos: Flavien Prioreau (Acid Arab/Guido Minisky & Hervé Carvalho)
Zuerst erschienen in Groove 161 (Juli/August 2016).
Was als Partymotto begann, ist heute eine Brücke zwischen westlichen Clubsounds und arabischer Musik. Die DJs Hervé Carvalho und Guido Minisky, beide bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten in der Pariser Clubszene aktiv, starteten vor etwa vier Jahren die Partyreihe Acid Arab – der Name dieser Clubnacht war Programm. Bald folgten unter dem Acid-Arab-Banner erste eigene Produktionen auf Versatile, dem Label von DJ Gilb’R. Heute erscheint ihr das Debütalbum Musique de France auf Crammed Discs.
Paris gilt seit Jahrzehnten als die europäische Hauptstadt arabischer Musik, des einstigen Kolonialreiches und der Einwanderung infolge seines Zerfalls wegen. Bereits in den späten achtziger Jahren gelangte via Paris der Raï [algerische Volksmusik; Anm. d. Red.] zu internationaler Popularität, um einige Jahre später in den Charts zu landen. Infolge des Bürgerkrieges waren nahezu alle Raï-Künstler von Rang und Namen in die Metropole an der Seine geflohen. Aus gutem Grund, so fiel unter anderem der legendäre Produzent Rachid Baba Ali Ahmed, er hatte Synthesizer und Drumcomputer in dieses Genre eingeführt, einem gezielten islamistischen Anschlag zum Opfer. Nach dem Raï-Boom der Neunizger verschwand auch in Paris die Musik der Einwanderer aus Nordafrika und dem Nahen Osten aus dem Blick der französischen Mehrheitsgesellschaft.
Stream: Acid Arab – Buzq Blues
Einen Migrationshintergrund haben auch Hervé Carvalho und Guido Minisky, allerdings keinen arabischen. Carvalho hat portugiesische Wurzeln, während Guido Miniskys Familie aus der Ukraine über Argentinien nach Frankreich kam. Eine tiefere Beziehung zu arabischer Musik hatten die beiden DJs nie gehabt. Natürlich nahmen sie die kommerzielle Ausprägung des Raï-Sounds wahr, ohne besonders angetan davon gewesen zu sein. „Früher war für uns arabische Musik einfach arabische Musik – Lieder mit Violinen, Darbukkas und so“, erinnert sich Guido Minisky. Doch vor vier Jahren waren Carvalho und Minisky als DJs für ein Festival in Tunesien gebucht. Dort spielte auch DJ Gilb’R, Besitzer des Pariser Vorzeigelabels Versatile und gemeinsam mit I:Cube Macher des Duos Chateau Flight. Über Gilb’R, Sohn einer jüdischen Familie aus Tunesien, lernten die beiden auf dieser Reise Leute kennen, die ihnen arabische Musik näherbrachten. „Als wir nach Hause fuhren, hatten wir das Gefühl, echte Freunde gewonnen zu haben“, blickt Hervé Carvalho zurück. „Schon ein paar Tage später begannen wir, sie zu vermissen. Das war der Beginn unserer musikalischen Liebesgeschichte.“
Der Hype als Risiko?
Als Guido Minisky und Hervé Carvalho wieder zurück in Paris waren, fingen sie an, das Konzept ihrer Partyreihe im Chez Moune, einem kleinen, nicht zuletzt beim lesbischen Publikum beliebten Club in Pigalle, zu überdenken. Bis dato spielten sie hauptsächlich Disco und House. Es sollte ein Neustart her, sie wollten House, Techno, Disco und arabische Sounds miteinander mischen. Ihre Grafikerin kam auf die Idee, den Abend so plakativ wie klar verständlich Acid Arab zu nennen. „Acid Arab passte einfach perfekt zu dem, was wir vorhatten“, lacht Hervé Carvalho. Anfangs legten sie House- und Technotracks mit orientalischen Einflüssen auf, daneben immer wieder türkische oder indische Discotracks. Doch je mehr die beiden in die Materie eintauchten, desto mehr arabische Musik kam zum Zug.
Die Acid-Arab-Partys gewannen bald an Kontur. Dabke [ein orientalischer Tanz; Anm. d. Red.] aus Syrien, dem Irak und dem Libanon begeisterte sie. Sie liebten die Synthesizersounds und die Power dieser Tanzmusik. Einer der Türöffner in diese Welt war Omar Souleyman aus Syrien – ein Künstler, der für sie mittlerweile jedoch wieder an Faszination eingebüßt hat. Inzwischen interessiert sich Carvalho vor allem für Oldschool-Raï und Chaabi aus Algerien, während es Guido Minisky Siebziger-Jahre-Produktionen aus dem Libanon und Ägypten angetan haben. Daneben sind die beiden Franzosen immer auf der Suche nach arabischen Discostücken.
„Von Leuten mit einem nordafrikanischen Hintergrund hören wir oft: Hey, ihr mischt die Musik unseres heutigen Lebens mit der unserer Eltern“ – Guido Minisky
Vom Start weg liefen die Partys im Chez Moune gut. Neben dem LBGT-Stammpublikum des Ladens kamen zunächst Hipster auf der Suche nach etwas Neuem, bald jedoch mehr und mehr Leute, die sich tatsächlich für die Musik interessierten, darunter auch zunehmend welche mit arabischem Hintergrund. Wenig überraschend hörten Minisky und Carvalho hin und wieder Vorwürfe – ihr habt unsere Kultur gestohlen, hieß es. Inzwischen habe sich das jedoch gelegt, so Hervé Carvalho. Und Guido Minisky ergänzt: „Von Leuten mit einem nordafrikanischen Hintergrund hören wir oft: ‚Hey, ihr mischt die Musik unseres heutigen Lebens mit der unserer Eltern!‘“
Angesichts des Erfolgs der Partys kamen die beiden DJs auf die Idee, Pariser Produzenten zu fragen, ob sie Tracks hätten, die zum Motto der Acid-Arab-Partys passten. Daraus wurde der Plan, eine Compilation zusammenzustellen. Als sie Gilb’R um einen Track baten, war der grundsätzlich von dem Vorhaben angetan, knüpfte daran aber eine Bedingung: Die Compilation solle auf Versatile erscheinen. Auf Acid Arab Collections, veröffentlicht vor drei Jahren, waren neben Produktionen von Gilb’R, Etienne Jaumet, I:Cube, Renart oder Pilooski auch die ersten Tracks zu hören, die Acid Arab selbst produziert hatten, darunter „Berberian Wedding“, ihr erster Minihit. „Berberian Wedding“ zeichnete aus, dass Acid Arab eben nicht lediglich ein paar orientalische Klänge über einen 4/4-Housebeat legten. Das Stück bedient sich des typischen 6/8-Rhythmus arabischer Musik und lässt psychedelische Acidsounds wild mäandern.
Video: Acid Arab – Sayarat 303
„Uns geht es darum, die arabischen Rhythmusstrukturen aufzugreifen und daraus eine Art Technotrack zu machen“, erläutert Minisky. „Das scheint erst mal kompliziert zu sein, ist es aber gar nicht unbedingt. Eine 4/4-Kick kannst du da eben durchaus drunterlegen, jedenfalls öfter als man denkt.“ Und Carvalho fügt hinzu: „Das Risiko, das wir sehen, ist der Hype, den es derzeit um arabische Musik gibt. Oft werden arabische Sounds nur als lustiges Gimmick benutzt. Wir möchten eben nicht musikalische Kolonialisten sein.“
Die Schatzgräber
In der Tat, zeitgeistig zusammengepampte Weltmusik-Elektronik-Crossover-Versuche nervten in der Vergangenheit gewaltig. Acid Arab versuchen indes tatsächlich auf einer anderen Ebene zu funktionieren. Hervé Carvalho verweist darauf, dass ja auch die libanesische Sängerin Fairuz in den Siebzigern Funk- und Souleinflüsse aufgegriffen habe, so wie auch Hip-Hop und Detroit Techno in Europa längst heimisch geworden seien. „Die arabische Musik ist die Musik des heutigen jungen Frankreichs“, sagt er. Im Nahen Osten und in Nordafrika wird der Acid-Arab-Sound jedenfalls geschätzt. Seit ihrer Tunesienreise waren sie mehrfach in arabischen Ländern auf Tour, mit Erfolg. Im Studio sind Acid Arab inzwischen in einer festen Viererkonstellation tätig, erweitert um die Produzenten Pierrot Casanova und Nicolas Borne. Ihr erstes Album, gesignt vom in der Post-Punk-Ära zu einiger Berühmtheit gelangten belgischen Label Crammed Discs, hat einige prominente Gastmusiker und -sänger im Line-up, darunter Rachid Taha und Sofiane Saidi aus Algerien, das israelische Girl-Trio A-Wel, Cem Yıldız aus der Türkei, den Gimbri-Spieler Jaouad El Garouge von der algerischen Band Global Gnawa und ihren Live-Keyboarder Kenzi Bourras.
Was Acid Arab so sehr an dieser Musik fasziniert, sei schwer in Worte zu fassen. „Es ist ein Gefühl, so wie es mir damals mit Chicago House ging“, schwärmt Hervé Carvalho. Und Guido Minisky ergänzt: „Es war, als ob wir einen Schatz entdeckt hätten, der all die Zeit unmittelbar vor unseren Augen lag, dem wir aber niemals Beachtung geschenkt hatten.“
Musiqe de France ist bei Crammed Discs erschienen.