Elektronische Klänge stehen im Spannungsfeld von körperlicher Unmittelbarkeit und bewusstem Verständnis als Song. Im besten Fall lösen sich die beiden Pole ohne Reibungsverluste ineinander auf, in Emotionalität. Etwa bei der Produzentin Ytamo vom japanischen Freakfolk-Kollektiv Urichipangoon. Ihr Soloalbum MI WO (Someone Good) hat nicht nur Lawrence Englishs feines J-Pop affines Electronica-Label Someone Good wiederbelebt, es demonstriert auch beschwingt wie raffinierte Schräglagen, die abseitiges vertraut und gewohntes fremd wirken lassen, diesen Abstand zum Tanzen bringen können. Zuckersüßer J-Pop und Improv-Freiheit wollen keine Gegensätze sein.
Video: Ytamo – Human Ocean
Fantasy League, das zeitgleich auf Someone Good erschienene Debüt des Australiers Andrew Tuttle steht Ytamos Album an Wärme und Freundlichkeit in nichts nach. Seine instrumentale Folktronica aus Banjo und kosmischen Synthesizerschwaden mag ein wenig konventioneller daherkommen, etwas näher an populären Vorbildern wie Boards of Canada orientiert, bleibt darin aber beständig aufrichtig und charmant.
Video: Andrew Tuttle – Registration
Die Harfenistin Mary Lattimore gewinnt immense Spannung aus der nicht durchgehend harmonischen aber immer organischen Verschmelzung ihres wohlklingenden Instruments mit digitalen Glitches. Ihr zweites Album At The Dam (Ghostly International) spielt so souverän zwischen Neoklassik und Ambient als ob die Harfe nie dekoratives Beiwerk romantischer Utopien gewesen wäre. Eine bemerkenswerte Art der Emanzipation.
Stream: Mary Lattimore – Otis Walks Into The Woods
Ritornell hingegen perfektionieren weiter ihre selbstgeschaffene Nische aus staubtrockenen Glitch-Jazz und entspanntem Lounge-Pop. If Nine Was Eight (Karaoke Kalk) fällt trotz dem unvermittelten Beieinander spröder Dubs mit offensiver Folktronic-Melancholie nie auseinander. Da fällt nicht einmal eine ziemlich bizarre aber dennoch gelungene Vertonung von Thesaurus-Einträgen negativ auf. Als Tee eine ostfriesische Mischung: herb im Ansatz mit süßem Abgang.
Stream: Ritornell – Old People (feat. Mira Lu Kovacs)
Der beschwingte, von Klampfe und klapprigem Kartonschlagzeug angetriebene Folk-Pop von Masha Qrella bleibt dagegen im mürberen Teil des Geschmacksspektrums. Auch nach mittlerweile schon fünfzehn Jahren kontinuierlicher Aktivitäten ist auf Keys (Morr) noch spannend mitzuerleben wie sich in ihren Songs eine gewisse Ruppigkeit mit tiefer Gelassenheit und Freundlichkeit paart um in emotionale Beständigkeit aufzugehen.
Video: Masha Qrella – Keys
Die in Berlin lebende Chanteuse und Produzentin Ofri Brin alias Ofrin hat mit kuscheligem Jazz-Pop angefangen und ist mit der Zeit immer elektronischer und mutiger geworden. Auf ihrem dritten Album Ore (Shitkatapult) hat Labelchef T. Raumschmiere Ofrins introvertierten Balladen noch einen sanften Schwung in Richtung Techno und Bassmusik mitgegeben. Eine mögliche Zukunft von Trip-Hop.
Stream: Ofrin – Ore
Diese Art von an Pop und Folk orientiertem Songwriting aber zutiefst elektronischem Sounddesign ist genauso ohne Vocals und mit offenen Strukturen möglich. So illuminiert Mikael Lind aus Reykjavík auf Intentions And Variations (Morr) die Feinheiten die sich zwischen Piano-Impressionismus, leichtem Glitch und von Vangelis inspirierten Synthesizer-Drones bieten: in der Summe ist das einfach gleißender Schönklang.
Stream: Mikael Lind – Intentions And Variations
Fennesz’ Mahler Remix (Touch) ist ein feines Postskript zu seinem Album Bécs mit dem es stückweise Klangmaterial aus Gustav Mahlers Symphonien teilt. Mahlers morbide Grundstimmung ist bei Fennesz natürlich exzellent aufgehoben. Fennesz‘ typischer Drone-Schwermut nimmt hier Spurenelemente der frühmodernen Freiheiten wie die markanten Bläser-Glissandi auf, die sich Mahler noch mit hohem Einsatz (und einigen kaputt gegangenen Freundschaften) herauszunehmen wagte. Das ist so charakterlich wie musikalisch so ziemlich das Gegenteil von den Mahler-Bearbeitungen Matthew Herberts aber genauso schlüssig und nicht weniger profund.
Video: Fennesz – Mahler Remix (Excerpt) – Live
Ein nahe verwandtes Thema und eine nochmal andere Umsetzung: Der mexikanische Glitch/Dub-Melancholiker Murcof und die auf Spätromantik und Frühmoderne spezialisierte französische Pianistin Vanessa Wagner haben ihr Projekt Murcof x Wagner als offene Plattform für die freie Interpretation von Stücken dritter angelegt. Ihr kurzes Debüt EP.01 (Infiné) nimmt sich Stücke von Minimal Music Vordenker Erik Satie (das archaische Zeitlupen-Pathos der “Gnossienne 3”, eines von Saties intensivsten Stücken) und vom Neoklassik Shootingstar David Moore von Bing And Ruth, um sie entsprechend ihrer Temperamente (Wagner strahlend und klar, Murcof eher mürrisch vergrübelt) und Arbeitsweisen (Klaviervirtuosität und digitale Verfremdung am Laptop) neu zu erfinden.
Stream: Murcof & Vanessa Wagner – live @ InFiné Workshop 2013
Die Idee harmonischen Schönklang mit einer Oberfläche aus harschem Feedback-Noise und verzerrten Gitarren zu verdecken um ihm dadurch eine geisterhafte aber auch gesteigerte Präsenz zu geben, wurde von Shoegaze Bands wie My Bloody Valentie und Flying Saucer Attack ausformuliert und später von Laptopkünstlern wie Tim Hecker, Rafael Anton Irisarri oder Fennesz wieder aufgenommen. Das Experimentalduo The Cray Twins greift dieses Prinzip auf und radikalisiert es. The Pier (Fang Bomb) macht nichts neu oder überraschend anders, überzeugt aber durch den Gegensatz von ganz besonders toxischem Lärm und umso feinerem Wohlklang.
Stream: The Cray Twins – Duao 1
Das italienische Duo OZmotic verfeinert basslastige Pluckerelektronik mit gewittrigen Samples aus Flora und Fauna, elektroakustischem Sirren und einer Neil Young Gitarre zu einer Gebrauchsanweisung für urbane Nächte. Es sind die ländlich naturbelassenen Zutaten, die auf Liquid Times (Folk Wisdom) das abgedroschene Bild vom Großstadtdschungel mit neuem Leben füllen.
Stream: OZmotic – Liquid Times Mixtape
Die Tracks der Compilation Explorer 2 (Infiné) reiben sich auf ähnliche Weise an den Funktionalitätsimperativen der verhandelten Genres, von Techno, IDM, Dubstep bis Electronica. Die versammelten tendenziell jungen und größtenteils völlig unbekannten Produzenten widmen sich ihren Tracks mit der für das Infiné Label typischen besonderen Sorgfalt und Klarheit was Produktion und Sound angeht. Leider fand die Forschungsreise des französischen Labels in Weltgegenden abseits der üblichen Aufmerksamkeitsökonomien neben elf Männern nur eine Produzentin, Irène Drésel, die eines der am subtilsten zupackenden Stücke beigesteuert hat. Dieses leider übliche Ungleichgewicht ist allerdings auch der einzige Kritikpunkt an dieser beeindruckenden Versammlung neuer Talente.
Stream: Various – InFiné #Explorer2 Sampler
Das Zusammentreffen von Techno-Veteran Arnaud Rebotini und dem eine Generation älteren akademischen Neutöner Christian Zanèsi wirkt erstmal ziemlich forciert. Ihr gemeinsames Album löst gegenseitige Genre-Vorurteile allerdings organisch auf. Frontières (BlackStrobe) fügt sich sogar überraschend schnell in die postapokalyptische Düsternis und das in Unschärfe verrauschte Sounddesign der dystopischen Techno-Gegenwart ein, wenn auch mit einer sehr speziellen, leicht krautigen Vintage-Note. Die von ihnen verhandelten Gegensätze waren eben schon immer künstlich und polemisch. Eine suchende, experimentierende Herangehensweise an die Produktion von Klängen ist unabhängig von Etiketten und Lagern, ist es immer gewesen.
Video: Rebotini Zanèsi – Frontieres
Bei Guido Möbius führt die Suche zu etwas das ein dringender Kommentar zum hundertjährigen Jubiläum von Dada und dem Cabaret Voltaire sein könnte. Batagur Baska (Shitkatapult) mäandert zwischen Avantgarde-Pop feinem Bossa Nova und quiekendem Miniaturlärm. Ein Sound der sich niemals auf irgendwelchen Sicherheiten ausruht. Das kann nerven ist aber auch ganz schön cool.
Video: Guido Möbius – Batagur Baska
Was ähnlich für Around The World With von The (Hypothetical) Prophets (Infiné) gilt. Ein New Wave Hörspiel von 1979, das aus Sowjetperspektive vom Kalten Krieg erzählt und in seiner von Collage und Cut-Up Techniken begeisterten Arbeitsweise auch heute noch futuristisch und modern wirkt.
Stream: The (Hypothetical) Prophets – Fast
Der Düsseldorfer Orson Hentschel nutzt auf Feed The Tape (Denovali) ähnlich frühmoderne Techniken in zeitgemäß digitalem Gewand um eine tonnenschwere Loopmusik zu machen, die sich – gegen seine Sozialisation als Minimal Music Komponist – eher an der Rhythmisierung von Noise-Partikeln in Death Metal und Industrial orientiert.
Stream: Orson Hentschel – Noise Of The Light
Mika Martini alias Frank Benkho aus Santiago de Chile arbeitet mit denselben Techniken der rhythmischen Verschleifung kurzer bis kürzester Samples. A Trip To The Space [Between] (Clang) häuft die Samples vor allem von Stimmen, aber auch Straßengeräusche und TV-Aufnahmen so heftig übereinander, dass der ursprüngliche Inhalt und Sinn der Samples in einem Wall of Sound enden der aber immer noch einen Rest an politischem Bewusstsein und Pop-Appeal besitzt. Wie auch das gerade mal ein halbes Jahr alte Vorgängeralbum The Revelation According To (Clang), ein interessanter Fall von musikalischem Hoarder/Messie-Syndrom.
Video: Frank Benkho – Chapter 2: The Witness
Auch der hibbelige Improv Minimal-Jazz von Zach Cooper ist klar im Pop verwurzelt. Die winzigen Soundmoleküle von The Sentence (S.U.S) quietschen fröhlich atonal vor sich enden aber nie in einem krassen nervenzehrenden Freakout. Auch so eine Art Zukunftsmusik..
Stream: Zach Cooper – Minds
Das österreichische Trio Owl Rave schöpft eher aus dem Reservoir des handelsüblichen Blue Note Jazz, allerdings in der verlangsamten und beschwerten Doom Variante, wie sie von Bohren und der Club of Gore oder dem Kilimanjaro Darkjazz Ensemble popularisiert wurde. Ihr Debüt Owl Rave (Interstellar) ist eine Art Neuerfindung von Angelo Badalamentis Soundtrack zu David Lynchs Serie Twin Peaks – und darin konsequent morbide, ein Mörderballaden Trip-Hop.
Video: Owl Rave – Trailer
Der in Berlin lebende Norweger Stein Urheim ist ein fester Bestandteil der skandinavischen Free-Improv Szene, zeigt aber auch Interessen an Ambient und Folk-beeinflussten Postrock, die über eine strenge Jazz-Exegese weit hinausgehen. Als Instrumentalist der auf so gut wie jedes Saiteninstrument brilliert, schafft er es mit Strandebarm (Hubro) eine sanft psychedelische und dabei überaus hörbare instrumentale Folktronica. Steins handwerkliches Können und seine Experimentfreude sind hier kein Selbstzweck. Sie stellen den subtilen, nur noch zu erahnenden Hintergrund für die immense Lässigkeit und Freundlichkeit seiner Musik.
Stream: Stein Urheim – Strandebarm
Seit knapp dreißig Jahren sind für den australischen Pianisten Chris Abrahams spielerische Virtuosität und die Fähigkeit sich auf andere Musiker improvisierend einzulassen die Ausgangspunkte von – vor allem mit seinem lange bewährten Improv-Trio The Necks –wilden Trips durch Stile und Fusionen aller Art, von eher konservativem Jazz bis Postpunk und Math-Core zu experimenteller Electronica. Solo gibt er sich meist etwas konservativer und staatstragender. So vertraut auch Fluid To The Influence (Room40) dem natürlichen Klang seines Instrumentes und der Kraft wiedererkennbarer Melodielinien. Die Originalität seines Zugangs zu Musik und seine überbordende Spielfreude sind dennoch in jedem Ton.
Video: Chris Abrahams – Receiver
Abschließend möchte ich an dieser Stelle noch das umfassende 9 LP Boxset 1971-1981 (Bureau B) von Cluster all jenen empfehlen, die an einer der wichtigsten Quellen elektronischer Musik interessiert sind. All jenen die wissen wollen worauf sich so manche aktuellen Sounds von Ambient, Synthpop, Neoklassik, Industrial bis zu nichtakademischer krautpsychedelischer Klangforschung bewusst oder unbewusst beziehen. Das Boxset umfasst alle Studioalben des Duos aus Hans-Joachim Roedelius und Dieter Moebius, ihre Kooperationen mit Brian Eno, sowie zwei unveröffentlichte Live-Mitschnitte als Köder für all jene, die sowieso schon alles besitzen. Eine ziemlich definitive Sache also – und irgendwann in diesem Jahr kommen bestimmt auch wieder Weihnachten und andere gebefreudige Feste.
Stream: Cluster – USA Live