Foto (Vorschau): Thibaud Fuks
Im Flugzeug zum Electron Festival sitzen Kyoka und Kangding Ray aus dem raster-noton Kader neben einer viel zu lauten und noch halbbesoffenen Abiklasse und bereiten sich gedanklich auf ihren Showcase zum 20. Geburtstag des Labels vor. Viel Zeit zum Reden bleibt ohnehin nicht, denn schon nach kurzer Zeit springt einem aus dem winzigkleinen Fenster das türkisblaue Wasser des beeindruckenden Genfer Sees entgegen. Jetzt nur noch über das fast electroclashig anmutende, mit viel Pink und Katzenbildern verzierte Corporate Design des Festivals hinwegsehen und schon geht es los mit dem Electron-Experience.
Eröffnet wird das Festival im Palladium mit Horizons Électroniques II, einem elektroakustischen Ondes Martenot-Konzert von Nadia Ratsimandresy, bei dem sie mit einem zeitgenössischen Tanzensemble zusammenarbeitet. Neben Stücken von Karlheinz Stockhausen und Festivalkurator Mimetic spielt Ratsimandresy auch eigene Kompositionen. Manchmal ergänzt sie die pfeifenden, bleependen, wellenartig-schwebenden Sounds des Ondes Martenots mit schweren, digitalen Beats. Das Palladium verwandelt sich in eine fast außerirdisch erscheinende Unterwasserwelt. Auch wenn die Choreografien nicht immer an das musikalische Niveau herankommen, lohnt es schon jetzt, sich vom Festival-Artwork nicht abgeschreckt haben zu lassen. Das hier ist selbst für den übersättigten Geschmack toll und zugleich ein Plädoyer. Nicht nur für eine längst überfällige Neubewertung des Aufeinandertreffens von zeitgenössischem Tanz und elektronischer Musik, sondern in erster Linie für ein bewusstes Zusammenfließenlassen musikhistorischer Linien, wie wir sie in der doch längst überholten Gegenüberstellung von E-Musik zur Clubkultur finden.
Das Electron ist ein liebevoll organisiertes Festival für elektronische Musik, das sich über 13 Jahre hinweg zu einem Großevent gemausert hat. Dieses Jahr will sich das Electron zusätzlich der politischen Verantwortung ihrer Arbeit stellen und schrieb sich vorab eine genderspezifisch ausgeglichene Programmgestaltung auf die Fahnen. In der Realität sieht das Ergebnis dieses eigentlich scheinbar selbstverständlichen Vorhabens dann ernüchternd aus. Im Vergleich zu den durchschnittlich unterirdischen zehn Prozent wie sie etwa das Kollektiv female:pressure im Jahr 2015 auf internationalen Festivalbühnen erhoben hat, präsentiert das Electron 27% Frauen im Programm. Mit dabei unter anderem Aïsha Devi, Ajele, Aurora Halal, Garance, Heidi, Helena Hauff, Kyoka, Kim Ann Foxman, Lady Starlight, Lila Hart, die so wichtige Hybridmusikerin Oy, Paula Temple und The Black Madonna. Zur Peaktime auf dem fettesten Floor spielen dann aber ausschließlich Männer. Geschlechtergerechtigkeit sieht anders aus.
Der größte Floor des Festivals ist im Palladium. Hier spielen unter anderem Adam Beyer, Agoria zusammen mit Carl Craig, großartig kauzig mit Mikrofonansagen der Black Devil Disco Club, Matthew Dear, Motor City Drum Ensemble oder Stephan Bodzin. Der schönste Moment ist hier das freundliche Set von Todd Terje, bei dem alle so wahnsinnig liebevoll durchdrehen, als wäre das Dosenbier herstellungsbedingt mit Glücklichmachern versetzt. Was das Electron besonders macht, ist der Einblick in die Genfer Clubkultur. Das Publikum feiert in vertrauter Hingabe und Menschen mit grauen Haaren sind keine Kuriosität sondern gehören selbstverständlich dazu.
Zur Musik bilden Workshops, professionelle Dialoge und künstlerische Arbeiten ein weiteren Programmschwerpunkt. Prominent ist The Ship von Brian Eno, kuratiert von Anny Serrati im Le Commun Contemporary Art. In einem wunderschönen, fensterlosem Obergeschoss mit einem für den Sound perfekt geeigneten Holzkantenboden hat Eno circa 36 verschiedene – alte, billige, trashige – Hi-Fi Lautsprecherboxen und Verstärker installieren lassen. Auf dem Boden, an der Decke, auf weißen Sockeln, neben weißen Büsten, atmosphärisch getaucht in türkise, pinke und orangene Lichtstrahlen. Mit geschlossenen Augen gelingt es gut, fünfzig Minuten auf dem roten Sofa zu sitzen und die kitschig bis konservativen Implikationen der visuellen Installation zu übersehen. Einfach entspannt an Radiokunst denken und sich ausnahmslos mit dem Hörsinn dieser 360-Grad-Collage aus melodiösen Flächen, Sprache und beschwingter Musik widmen. Abgemischt exakt für diese Boxen in diesem Raum – und diesen Moment.
Draußen auf dem Jahrmarktgelände Plaine de Plainpalais führt der als bildende Künstler getarnte Tuner Nik Nowak seinen Panzer vor. Ein kleines Kettenfahrzeug hat er weiß lackiert und in ein fettes, 4000 Watt lautes und anderthalb Tonnen schweres Soundsystem umgewandelt. Mit dem militärischen Einsatz von Sound als Waffe und Foltermethode hat Nowak sich intensiv befasst und trotzdem entzieht sich die Performance im Kontext des Festivals irgendwie der Verantwortung für die erzeugten Bilder. Nowaks martialisches Outfit und das Präsentationsvehikel zwingen dazu, sich über den Sinn und Unsinn von Form und Inhalt Gedanken zu machen, Rainbowbassmusik hin oder her. Eine dezidiert künstlerische Formulierung oder aber eine kontextreflexive Auseinandersetzung, auch mit den aktuellen Verhältnissen, wird nicht klar. Und so bleibt der Panzer an diesem Tag die kleine-Jungs-Spielerei eines liebevoll bastelnden Tuners. Auch schön.
Außer Noise ist beim Electron Festival für jeden Geschmack etwas dabei, inklusive Goa-Trance und Fetisch Abend. Und auch die Hip Hop-, Dub- und Grime-Nächte halten, was sie versprechen. Da ist Hip Hop noch Hip Hop und J Dilla die Orientierungsinstanz. Nach dem ganzen Rumgerenne kommt der Wunsch auf, dass sich die Genres im Programm mehr vermischen würden, und auf einem Floor zu Techno, Hip Hop und Grime getanzt werden könnte, doch bleiben die Genres – wie leider noch fast überall – strikt getrennt.
Auf dem Heimweg sitzt diesmal Berglind Agustsdóttir im Flugzeug. Sie produziert Disco im Noise-Kontext und kommt von der Show ihres Lebens in einem ehemals besetzen Haus. Das aber passierte abseits des Electrons.